IW-Studie

Institut der deutschen Wirtschaft Köln
WOHLFAHRTSVERBÄNDE
IN DEUTSCHLAND
Auf den
Schultern
der Schwachen
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
WOHLFAHRTSVERBÄNDE
IN DEUTSCHLAND
Auf den
Schultern
der Schwachen
Inhalt
Vorwort
1. Caritas & Co.: Ein oft unterschätzter Wirtschaftsfaktor
Seite 5
8
2. Demographie: Nie waren soziale Dienstleister so wertvoll wie morgen
13
3. Freie Wohlfahrtspflege: Eine heimliche Macht im Staat
21
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
37
5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt: Konkurs oder Konkurrenz?
59
4
1. Caritas & Co.
Vorwort
Moderne Gesellschaften sind auf eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur angewiesen. Denn anders als in traditionelleren Gesellschaften fallen die Großfamilie,
Stammesverbünde oder Sippen für die Versorgung und Betreuung von Kindern, Alten,
Behinderten oder Kranken aus. Dazu bedarf es heutzutage eines Netzwerks und Angebots entsprechender sozialer Dienstleister. Die zunehmende Individualisierung sowie
die Vergreisung der Bevölkerung – meist unter dem verniedlichenden Begriff „demographische Veränderung“ diskutiert – tun ein Übriges, um diesen Trend in Richtung
„betreute“ Gesellschaft zu verstärken.
Professor Burghard Freudenfeld, von 1971 bis 1983 Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), hat dies schon vor gut zwei Jahrzehnten kommen sehen. In
seinem Aufsatz „Die Zukunftschancen unserer Gesellschaft“ (1983) hat er vieles vorweggenommen, was heute auf der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Agenda steht:
So spricht er dort vom „ständigen Anwachsen sozialer Dienstleistungen“ und „dem wachsenden Gewicht der älteren Generation, der Veränderung des Status der Frauen in der
Arbeitswelt“. Dabei hat Freudenfeld in seinen Arbeiten stets den Vorrang des Individuums und der von ihm gewählten privaten Absicherungsformen vor jeglicher staatlich
organisierten Daseinsvorsorge betont. Nur eine solche Organisationsform des Sozialen
sei einer freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung angemessen und zuträglich.
Engagiert und eindrucksvoll argumentierend wandte Professor Freudenfeld sich
gegen dirigistische Eingriffe, staatliche Bevormundung und die Einschränkung individueller Freiheitsrechte. Mit spitzer Feder und viel rhetorischem Talent schrieb er gegen
die Feinde der freien Gesellschaft an – vor allem in den siebziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts waren diese auf dem Marsch durch die Institutionen.
Die vorliegende Broschüre dient dem Andenken an Professor Freudenfeld, der 1998
hältnis des Einzelnen zu staatlich geförderten Großorganisationen – und untersucht dies
am Beispiel der Freien Wohlfahrtspflege.
Die Entwicklung dieser „hidden champions“ des Fürsorge- und Sozialstaats zeigt
anschaulich, welche Veränderungen unsere Gesellschaft durchläuft. Strukturwandel,
demographischer Wandel und Wertewandel haben sich geradezu als ein Katalysator für
5
1. Caritas & Co.
im Alter von 80 Jahren verstarb. Sie greift ein zentrales Thema von ihm auf – das Ver-
einen Wirtschaftszweig erwiesen, der seine privilegierte Rolle zwischen Staat und Markt
genutzt hat, um oft unkontrolliert und wenig beachtet zu einer treibenden gesellschaftspolitischen Kraft zu werden. Exemplarisch lässt sich an den Strukturen der Wohlfahrtspflege zeigen, was getan werden muss, um zum einen die notwendige soziale Infrastruktur sicherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zum anderen eine Vermachtung der
beteiligten Organisationen zulasten der Gesellschaft – und letztlich auch der zu betreuenden Menschen – zu verhindern.
Noch in einer anderen Hinsicht steht diese Schrift ganz in der Tradition von Professor Freudenfeld: Es war ihm wichtig, wissenschaftlich fundierte Untersuchungen verständlich und öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Auch dieser Arbeit liegt eine umfangreiche, sorgfältig recherchierte wissenschaftliche Analyse zugrunde, die am Institut
der deutschen Wirtschaft erstellt wurde. Eben um des besseren Verständnisses willen
wurde diese so umgearbeitet, dass sie einem möglichst breiten Publikum bekannt wird.
Getragen wird diese Vorgehensweise von der Überzeugung, dass das bessere Argument
sich bei der Lösung der Probleme in einer freien Gesellschaft letztendlich durchsetzt.
In Dankbarkeit und Respekt widmen wir diese Broschüre Professor Burghard
Freudenfeld, aus dessen Hinterlassenschaft an die informedia-Stiftung – Gemeinnützige Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik Köln – die zugrunde liegende wissenschaftliche Studie finanziert wurde.
Köln, im Juni 2004
1. Caritas & Co.
Prof. Dr. Gerhard Fels
6
1. Caritas & Co.
Prof. Burghard Freudenfeld
Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln
von 1971 bis 1983
7
1. Caritas & Co.:
Ein oft unterschätzter Wirtschaftsfaktor
Die Scheinwerfer tauchen den Kandidaten in grelles Licht. Im Saal ist es mucksmäuschenstill und Günther Jauch setzt sein berühmtes „Das-wissen-Sie-nie-und-nimmer-Gesicht“ auf. Es geht um 125.000 Euro – und alle Joker sind verbraucht. „Wer ist
der größte private Arbeitgeber in Deutschland?“, liest der Moderator die Frage vor:
a) DaimlerChrysler, b) die Deutsche Telekom, c) die Caritas oder d) Siemens. Und
damit die Spannung so richtig unerträglich wird – kommt erst einmal Werbung ...
Schwer zu sagen, was in dem Kopf des fiktiven Kandidaten nun vorgeht. Doch
wenn er nicht gerade ein ausgewiesener Sozialexperte oder zumindest ein ausgesprochener Glückspilz ist, dürfte ihm die richtige Antwort wohl ziemlich schwer fallen: die
Caritas. Klingt unglaublich, ist aber wahr: Der Sozialverband der Katholischen Kirche
beschäftigt fast 500.000 hauptamtliche Mitarbeiter – und auch sein evangelisches Pendant, das Diakonische Werk, lässt mit seinen rund 450.000 Angestellten den beschäftigungsstärksten deutschen Industriekonzern locker hinter sich: Siemens hat weltweit
derzeit nämlich „nur“ rund 420.000 Mitarbeiter.
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit sind die gemeinnützigen Verbünde der Freien Wohlfahrtspflege zu gigantischen Wohltäter-Unternehmen herangewachsen. Zur Branche zählen neben dem Deutschen Caritasverband und dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche das Deutsche Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt und der Deutsche
Paritätische Wohlfahrtsverband. Unter dem Dach dieser fünf Spitzenverbände werden
derzeit sage und schreibe mehr als 100.000 Einrichtungen betrieben, die fast 1,3 Millionen Voll- und Teilzeitkräfte und circa 1,5 Millionen ehrenamtliche Mitarbeiter beschäftigen. Zusammen erwirtschaften die gemeinnützigen Einrichtungen einen geschätzten
Jahresumsatz von rund 55 Milliarden Euro. Damit lässt die Freie Wohlfahrtspflege so
1. Caritas & Co.
bekannte Branchen wie die Textil- und Bekleidungsindustrie oder das gesamte Gebrauchsgütergewerbe locker hinter sich.
Von privaten Unternehmen unterscheiden sich die fünf Sozialverbände allerdings
durch den beunruhigenden Umstand, dass nicht einmal ihre Bundesvorstände die genauen Umsätze und die Kassenlage der Wohlfahrtsimperien kennen. Denn die Firmen
mit dem Siegel der Barmherzigkeit sind keine hierarchischen Organisationen, die von
8
Die Sozialmultis
im Jahr 2002
hauptamtlich
Beschäftigte
499.300
452.200
Einrichtungen
insgesamt
1.284.100
27.300
25.460
100.760
Deutscher
Caritasverband
Diakonisches Werk
der Evangelischen Kirche
169.900
24.000
87.000
75.700 15.000
9.000
Paritätischer
Wohlfahrtsverband
Arbeiterwohlfahrt
Deutsches
Rotes Kreuz
Einrichtungen und Beschäftigte der AWO, Einrichtungen des DRK und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: Schätzung; zur Dachorganisation BAGFW gehört noch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die allerdings
wegen ihrer geringen Anzahl an Beschäftigten und Einrichtungen keine relevante Größenordnung erreicht
Ursprungsdaten: Caritas, Diakonie, AWO, DRK, Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
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„oben“ gesteuert werden, sondern eine Armada aus Tausenden rechtlich eigenständigen
de vor Ort müssen ihre Wirtschaftsdaten nicht an die Bundesgeschäftsstellen weitergeben und können so praktisch unbehelligt vor sich hin werkeln. Dabei verwenden sie den
Verbandsnamen lediglich als eine Art Gütesiegel und Verkaufsargument.
Mit dieser wohl einzigartigen Form des Franchisings im Namen der Nächstenliebe
haben die Verbände und ihre Einrichtungen längst weite Teile des Sozialstaats fest im
9
1. Caritas & Co.
Kreis- und Landesverbänden sowie unabhängigen Trägergesellschaften. Diese Verbün-
Die Aufgabe der Wohlfahrtspflege
Abgabenordnung § 66
„Wohlfahrtspflege ist die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht
des Erwerbs wegen ausgeübte Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen.
Die Sorge kann sich auf das gesundheitliche, sittliche, erzieherische oder wirtschaftliche Wohl erstrecken und Vorbeugung oder Abhilfe bezwecken.“
Griff. Früher oder später macht daher praktisch jeder Bundesbürger Bekanntschaft mit
den Großorganisationen. Nicht wenige Deutsche werden sogar regelrecht in die Hände
der sozialen Wohltäter hineingeboren. Den „freigemeinnützigen“ Trägern gehören nämlich rund 40 Prozent aller Krankenhäuser hierzulande – ergo stehen die Chancen nicht
schlecht, schon im Kreißsaal von einer Hebamme im Dienst der Wohlfahrtsverbände
empfangen zu werden.
Auch für so ziemlich alle weiteren Lebenslagen haben die Verbände mittlerweile
die entsprechenden sozialen Dienstleistungen parat. So kümmern sie sich in Kindergärten und Kindertagesstätten um den Nachwuchs, beraten verzweifelte Eltern in Erziehungsfragen und bringen Fahrschülern in Erste-Hilfe-Kursen die Mund-zu-Mund-Beatmung
bei. Ihre Rettungsdienste versorgen Verunglückte oder fahren Patienten von einem Krankenhaus zum anderen. Und in ihren Familienbildungsstätten unterrichten Pädagogen
Erwachsene wie Kinder im Töpfern, Nähen oder Kochen.
Selbst wer all diese Angebote nicht in Anspruch nehmen muss oder will, wird spätestens im Seniorenalter kaum umhinkommen, die helfenden Hände zu engagieren. Denn
auch bei der Betreuung und Pflege von alten Menschen sind Caritas, Diakonie & Co.
vielerorts Marktführer. Die „Sozialmultis“, wie sie das Wirtschaftsmagazin „Capital“
einmal titulierte, betreiben nicht nur einen großen Teil der Altersheime, sie mischen
1. Caritas & Co.
auch kräftig mit im Geschäft rund um die ambulante Pflege, organisieren Seniorenreisen und ermuntern rüstige Rentner in eigenen Tagesstätten zu Aquarellmalerei, EDVKursen oder Tai Chi.
So bunt wie die Aktivitäten der Sozial-Organisationen sind auch ihre weltanschaulichen Ausrichtungen: Da wären zum einen die beiden christlich-konfessionellen Verbände: der Deutsche Caritasverband, eng verbunden mit der katholischen Kirche, und
10
Caritas Köln: Hilfe in allen Lebenslagen
„Es gibt nichts, was es nicht gibt“, sagt der Kölner gerne, und man könnte fast
meinen, die rheinische Weisheit sei ein Werbeslogan der örtlichen Caritas. Denn in
der Domstadt betreibt der Sozialverband der katholischen Kirche für so ziemlich alle
erdenklichen Probleme eine eigene Einrichtung. Die wichtigste Anlaufstelle für
Ratsuchende ist das Büro der Allgemeinen Sozialberatung. Dort helfen die Mitarbeiter
zum Beispiel bei Fragen zur Sozialhilfe, zum Kindergeld oder zu Leistungen des
Arbeitsamtes weiter. Die Caritas Köln unterhält zwei dieser Häuser – eins auf jeder
Seite des Rheins. In den beiden Gebäuden bietet der Sozialverband zudem psychosoziale
Beratungen sowie Unterstützung für verschuldete Kölner an.
Ganz ähnliche Schwerpunkte verfolgt der Internationale Sozialdienst – allerdings
richten sich seine Angebote ausschließlich an Migranten. In insgesamt 13 Sprachen
versuchen die Caritas-Angestellten, den Zugezogenen die komplexen Regelungen des
deutschen Sozialstaats zu erklären, ihnen bei der Arztsuche zu helfen oder auch schon
mal bei Konflikten mit den Nachbarn oder den Behörden zu vermitteln.
Mehrsprachig geht es auch in zwei der drei Caritas-Kindertagesstätten zu: In der
Kita „Casa Italia“ parlieren die Bambini wahlweise auf Deutsch oder Italienisch; in
der Tagesstätte „St. Martin“ wird auf Spanisch oder Deutsch nach Bauklötzen und
Kuschelbären verlangt. Sind die Kids dann dem Kita-Alter entwachsen, können sie im
Jugendzentrum „Ganz offene Tür“ Billard spielen. Und sollte das Erwachsenwerden
ernsthafte Probleme mit sich bringen, dann stehen die Pädagogen und Psycho-
1. Caritas & Co.
therapeuten der „Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder“ bereit.
Das dichteste Netz aus Einrichtungen hat die Kölner Caritas für die Senioren
geknüpft. Über das gesamte Stadtgebiet verteilt, offerieren nicht weniger als sieben
Sozialstationen ihre mobilen Pflegeleistungen. Zudem unterhält der Verband mit seinen
rund 1.600 Mitarbeitern noch sieben Seniorenheime und ein Begegnungszentrum.
11
das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche. Als ihr Pendant agiert die Arbeiterwohlfahrt, kurz AWO. Sie hat ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts und ist auch heute noch sozialdemokratisch geprägt. Laut Nachrichtenmagazin
„DER SPIEGEL“ waren noch Mitte der neunziger Jahre rund die Hälfte aller SPDBundestagsabgeordneten gleichzeitig auch AWO-Mitglieder.
Weitgehend frei von politischer oder religiöser Weltanschauung arbeitet dagegen
der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband. Das jüngste Mitglied der Branche ist mehr
ein Sammelsurium unterschiedlichster Selbsthilfegruppen und begreift sich in erster
Linie als deren Interessenvertreter und Dienstleister. Unparteilichkeit hat sich auch der
wohl bekannteste Verband in der Bundesrepublik auf die Fahnen geschrieben, das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Schon im Ersten Weltkrieg war Neutralität die Voraussetzung
für den Erfolg des DRK als militärischer Sanitätsdienst. Heute kümmern sich die RotKreuzler vor allem um die Zivilisten – sprich: Sie betreiben vielerorts Rettungsdienste
und organisieren Blutspenden.
Gemeinsam ist allen Wohlfahrtsverbänden ihre finanzielle Abhängigkeit vom Staat.
Jahr für Jahr erhalten die Einrichtungen für ihre Arbeit im Sinne der Nächstenliebe hohe
Summen aus den öffentlichen Haushalten und Sozialkassen. Allerdings mehrten sich
zuletzt Zweifel, ob die Mittel bei den sozialen Dienstleistern auch wirklich gut aufgehoben sind. Immer wieder kritisieren Fachleute, dass die gemeinnützigen Einrichtungen
unwirtschaftlich arbeiten würden – zulasten der Steuer- und Beitragszahler.
Dass die Freie Wohlfahrtspflege hier die Kurve kriegt, ist gleich aus zwei Gründen
wichtig. Zum einen kann sich Deutschland in Zeiten drückender Staatsschulden und
steigender Sozialabgaben eine ineffiziente Verwendung öffentlicher Gelder noch weniger leisten als in der Vergangenheit. Zum anderen werden Caritas, Diakonie & Co. mit
ihrem Know-how und ihrem dichten Netz aus Einrichtungen künftig dringender gebraucht als je zuvor. Denn aufgrund der demographischen Umwälzungen, die das Land
1. Caritas & Co.
bald kräftig verändern werden, sind in Zukunft immer mehr Bundesbürger auf soziale
Dienstleistungen angewiesen.
12
2. Demographie: Nie waren soziale Dienstleister
so wertvoll wie morgen
Gebäude für betreutes Wohnen nehmen ganze Stadtviertel ein, Fitnessratgeber für
alte Menschen füllen die Bücherregale und Pharmafirmen entwickeln ständig neue Mittelchen gegen die großen und kleinen Zipperlein im Alter – für jeden sichtbar, wirft
derzeit eine Entwicklung ihre Schatten voraus, die nicht mehr aufzuhalten ist: Deutschland vergreist. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes klettert die Zahl der
Bundesbürger, die über 64 Jahre alt sind, schon innerhalb der nächsten 15 Jahre um rund
4 Millionen auf gut 18 Millionen. Im Jahr 2050 leben hierzulande voraussichtlich fast
23 Millionen Senioren.
Soziale Dienstleistungen rund um die Bedürfnisse der alten Menschen werden daher
immer wichtiger, schließlich will die wachsende Gruppe an Grauhaarigen gut umsorgt
sein. Einige konkrete Herausforderungen zeichnen sich bereits ab: So erwarten Experten,
dass die Rentner aufgrund der steigenden Lebenserwartung künftig länger in den eigenen
vier Wänden wohnen. Was sie körperlich noch schaffen, etwa Kochen oder Einkaufen,
werden die Oldies so lange wie möglich selber machen, doch auch die vitalsten von ihnen
werden irgendwann kaum noch ohne fremde Hilfe auskommen und müssen daher beispielsweise Mahlzeiten-Lieferfirmen, Haushaltshilfen und Fahrdienste anheuern.
Hinzu kommt die traurige Seite des Alterns: die Einsamkeit. Schon heute klagen
viele alte Menschen über die lähmende Stille in ihrer Wohnung, es fehlt ihnen an Aufga-
Senioren auf dem Vormarsch
So viele Bundesbürger sind 65 Jahre
und älter, in Millionen
16,6
22,0
23,2
22,6
2040
2050
18,4
2002
2010
2020
2030
2. Demographie
14,4
ab 2010: Annahmen der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 7
Quelle: Statistisches Bundesamt
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
13
ben, Herausforderungen und an Ge-
Lebenserwartung:
Methusalem lässt grüßen
sprächen mit vertrauten Menschen. Die
Durchschnittliche weitere Lebenserwartung
in Jahren ...
gen einhergehende Singularisierung
mit den demographischen Veränderunder Gesellschaft wird die Nachfrage
eines 60-Jährigen
1960
1980
einer 60-Jährigen
nach kommerziellen Angeboten für
Senioren ernorm steigern – angefangen
15,5
18,5
von eigens für Oldies konzipierte Fernreisen über Wanderexkursionen bis hin
16,5
zu regelmäßigen Tanzveranstaltungen
20,8
und Kaffeekränzchen im eigenen
2000
19,2
2030
Wohnviertel. Doch auch Bereiche, in
23,5
denen bislang kaum kommerzielle Angebote zu finden sind, gewinnen an Be-
22,8
27,2
deutung. So sehnen sich viele Rentner
nach Begegnungen mit Jüngeren, die
2050
23,7
ab 2030: Annahmen der 10. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 7
Quelle: Statistisches Bundesamt
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
28,2
nicht über die gleichen Leiden und Probleme klagen wie der Senior von nebenan. Hier können vor allem die ehrenamtlich engagierten Bundesbürger
einen großen Beitrag leisten und die in
die Jahre gekommenen Mitmenschen besuchen, sie zu Spaziergängen animieren oder
beim Einkauf unterstützen.
Klar ist jedoch auch, dass es mit anregenden Unterhaltungen, abwechslungsreichen
Reisen und professionellen Haushaltshilfen nicht getan sein wird. Ein langes Leben
2. Demographie
fordert nun mal seinen Tribut, ergo sind die meisten Senioren dereinst auf Pflegeleistungen angewiesen. Waschen, Füttern, medizinische Versorgung – vor allem die wachsende Gruppe der Hochbetagten muss oft 24 Stunden am Tag betreut werden. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes steigt die Zahl der pflegebedürftigen Bundesbürger
bis zum Jahr 2020 von derzeit 2 Millionen auf rund 2,8 Millionen. Die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ rechnet für das Jahr 2050 sogar mit bis zu 6 Millionen Pflegefällen.
14
200
Wachstumsmarkt Altenpflege
Umsatz im Pflegesektor
in Milliarden Euro
67
32
37
2002
2005
44
2010
2020
2050
2002: Schätzung, ab 2010: Prognose
Quelle: HPS Research
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Pflegeheimplätze: Dringend benötigt
859
1.000
1.365
688
1.144
604
2001
2010
2020
2030
2040
2050
2. Demographie
geschätzter Bedarf in 1.000
bei konstanter Pflegewahrscheinlichkeit und konstanter Heimquote
Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt
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15
Viele von ihnen werden wohl auf professionelle Pflegedienste und Altenheime angewiesen sein. Während nämlich derzeit viele Ruheständler von ihren Familienangehörigen umsorgt werden, können die künftigen Rentnergenerationen auf eine derartige
familiäre Fürsorge nicht mehr zählen. Denn sie haben es schlichtweg verpasst, Kinder
in die Welt zu setzen. Bei-
Kinderbetreuung: Nicht mal
jedes zehnte Kind ist versorgt
2. Demographie
Auf 1.000 Kinder
Auf 1.000 Kinder zwischen
unter 3 Jahren kommen 6 1/2 und 12 Jahren kommen
so viele Krippenplätze so viele Hortplätze mit
Ganztagsbetreuung
Frauen, die 1940 geboren wurden, nur jede zehnte kinderlos
– vom Jahrgang 1965 war es
schon jede dritte. Und weil die
Rundum-Betreuung durch den
Sachsen
291
545
Brandenburg
448
498
Mecklenburg-Vorpommern
376
430
Sachsen-Anhalt
566
422
Berlin
358
239
Die Kids versorgen – damit
Hamburg
131
179
auch mehr Mütter arbeiten
Bremen
100
131
können
Hessen
37
71
Bayern
21
51
Saarland
48
45
Schleswig-Holstein
26
39
Nordrhein-Westfalen
20
37
schätzen Demographen, dass
Baden-Württemberg
23
34
hierzulande im Jahr 2050 nur
Rheinland-Pfalz
27
33
noch rund 8 Millionen Kinder
Niedersachsen
23
32
und Jugendliche leben, die jün-
Thüringen
224
31
ger als 15 Jahre sind – derzeit
Insgesamt
85
89
Nachwuchs zur Ausnahme
Stand: Dezember 2002
Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung
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16
spielsweise blieb von den
wird, müssen halt die Profis in
die Bresche springen.
Die geringe Lust der
Deutschen aufs Kinderkriegen
hat noch eine weitere gravierende Konsequenz: Dem Land
geht der Nachwuchs aus. So
sind es noch gut 13 Millionen.
Der Bambini-Mangel bedeutet jedoch keineswegs, dass
damit automatisch entspre-
Sag mir, wo die Kinder sind
So viele Bundesbürger sind jünger als
15 Jahre, in Millionen
2002
13,4
2010
11,1
2020
11,0
2030
9,4
2040
8,5
2050
8,4
2. Demographie
ab 2010: Annahmen der 10. koordinierten
Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 7
Quelle: Statistisches Bundesamt
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
17
chend viele Kindergärten, Krippen und Kitas geschlossen werden können und Sorgentelefone kaum mehr klingeln. Vielmehr bleibt die Nachfrage in diesem wichtigen Tätigkeitsbereich der Wohlfahrtsverbände auch weiterhin hoch – in einigen Bereichen muss
der Staat sogar für einen Ausbau an Betreuungsmöglichkeiten sorgen. Momentan mangelt es nämlich vor allem an Einrichtungen für die Kleinsten. So standen Ende 2002 für
1.000 Kinder unter drei Jahren im Bundesdurchschnitt gerade einmal 85 Krippenplätze
zur Verfügung.
Nicht minder groß ist der Nachholbedarf bei der Ganztagsbetreuung. Insbesondere
in Westdeutschland fehlen Hortplätze für Grundschüler sowie Kindergärten, in denen
sich die Kids auch nachmittags austoben können. Die Folge: Vater oder Mutter – meist
sind es die Frauen – müssen spätestens um 14 Uhr parat stehen und sich um die lieben
Kleinen kümmern. Ein Vollzeitjob ist da nicht mehr drin. Damit stellt der Mangel an
Krippenplätzen und Ganztagsbetreuung die jungen Erwachsenen vor eine schwerwiegende Wahl: entweder Kinder oder Karriere. Dieser Widerspruch muss dringend durch
ein verbessertes Angebot an Kinderbetreuung aufgelöst werden. Deutschland braucht
nämlich beides: sowohl mehr Nachwuchs als auch mehr erwerbstätige Frauen – ansonsten wird unser umlagefinanziertes Sozialsystem mangels Beitragszahlern schon bald in
sich zusammenbrechen, und die Unternehmen werden es künftig noch schwerer haben,
ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.
Dass ein engeres Netz an Krippen, Kitas und Horten durchaus helfen kann, den
Gordischen Knoten zu durchschlagen, zeigt eine Umfrage der Unternehmensberatung
McKinsey aus dem Jahr 2002. Gefragt, warum sie nicht arbeiten würden, gaben 80
Prozent der westdeutschen Mütter von Vorschulkindern an, es gebe in ihrer Wohngegend schlichtweg kein ausreichendes Betreuungsangebot für ihren Nachwuchs.
2. Demographie
Mehr Integrationshilfen für Ausländer
Unter den meisten Fachleuten besteht kaum ein Zweifel, dass die massiven demographischen Veränderungen in Deutschland nicht allein durch einen Anstieg der Geburtenrate und der Frauenerwerbstätigkeit gelöst werden können. Deshalb muss sich Deutschland zusätzlich darum bemühen, mehr gut qualifizierte Arbeitskräfte ins Land zu holen.
Das wiederum kann nur gelingen, wenn die Bundesrepublik bereit und imstande ist, die
nötigen Integrationsleistungen für die angeworbenen Ausländer und ihre Familien zu
18
19
2. Demographie
schultern. So müssen die Einwanderer beispielsweise bei Behördengängen beraten werden; sie brauchen soziale Kontakte und sollten Deutsch lernen, um am Alltagsleben
teilhaben zu können.
Die Zuwanderung bringt demnach einen immensen Bedarf an speziellen sozialen
Dienstleistungen für die „Neu-Bundesbürger“ mit sich. Auch für die Wohlfahrtsverbände tut sich hier ein Betätigungsfeld auf. So werden internationale Zentren benötigt, in
denen Sprachkurse angeboten, binationale Paare in rechtlichen und familiären Fragen
beraten sowie Einwanderer psychologisch betreut werden. Zudem könnten die vielen
ehrenamtlichen Mitarbeiter der Wohlfahrtsfirmen dafür sorgen, dass die Zugewanderten schneller Anschluss finden und einen Ansprechpartner für die kleinen Fragen des
Alltags in ihrer neuen Heimat haben.
Der Markt für gute Taten wächst und wächst also. Das Land wird mehr Pflegedienste brauchen, mehr Seniorenheime, mehr Kinderbetreuung, mehr Integrationsangebote für Ausländer. Und gerade weil die Freie Wohlfahrtspflege auf all diesen Feldern
Marktführer ist, muss sie sich auch unbequemen Fragen stellen: Arbeiten die 100.000
Einrichtungen der Branche effizient oder verpulvern sie das Geld der Steuer- und Beitragszahler? Bieten sie soziale Dienstleistungen an, die bei den Menschen gut ankommen oder arbeiten sie am Bedarf vorbei? Haben auch private Anbieter eine faire Chance, auf dem Wohlfahrtsmarkt Fuß zu fassen? Um es vorwegzunehmen: Die Antworten
2. Demographie
auf diese Fragen fallen nicht immer positiv aus.
20
3. Freie Wohlfahrtspflege:
Eine heimliche Macht im Staat
Altenpflege, Blutspende, Erste Hilfe, Flüchtlingsbetreuung, Sorgentelefon – das
Spektrum der Freien Wohlfahrtspflege liest sich wie das ultimative Lexikon der Nächstenliebe. Und in der Tat: Ohne das Engagement der Millionen haupt- und ehrenamtlichen helfenden Hände wäre die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland wohl nie und
nimmer zu jenem Erfolgsmodell geworden, um das uns viele Länder rund um den Globus lange Zeit beneidet haben.
Doch wahr ist auch: Caritas, Diakonie, AWO, Paritätischer Wohlfahrtsverband und
das Rote Kreuz sind schon lange keine Vereinigungen selbstloser Samariter mehr, die
ihre Dienste für ein Dankeschön und eine kleine Aufwandsentschädigung anbieten. Ihre
Arbeit verschlingt mittlerweile einen großen Teil des staatlichen Sozialbudgets. Und
das nicht zuletzt deshalb, weil die Wohlfahrtsverbände in der Vergangenheit mit öffent-
Das Job-Wunder der Samariter
Beschäftigte in der Freien Wohlfahrtspflege in 1.000
1970
2000
154
318
98
Jugendhilfe
257
50
Altenhilfe
Behindertenhilfe
238
19
158
32
Familienhilfe
89
Sonstige Einrichtungen 20
und Dienste
Aus-, Fort- und
Weiterbildung
3. Freie Wohlfahrtspflege
Krankenhäuser
Insgesamt
382
89
1.165
9
16
1970: nur Westdeutschland; Quelle: BAGFW
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
21
lichen Fördergeldern im Rücken munter expandiert haben: Seit 1970 erreichen die sozialen Dienstleister Jahr für Jahr ein reales Wachstum von durchschnittlich 5 Prozent,
die Mitarbeiterzahl in der Branche ist von damals 382.000 (Westdeutschland) auf fast
1,3 Millionen (ganz Deutschland) im Jahr 2002 gestiegen. Momentan arbeiten 3,1 Prozent aller Erwerbstätigen hierzulande in der Freien Wohlfahrtspflege – im Jahr 1970
waren es erst 1,4 Prozent.
Gleichzeitig haben die Verbände ihr Netz aus Krankenhäusern, Beratungsstellen,
Seniorenheimen und Behindertenwerkstätten in den vergangenen 30 Jahren um rund
50.000 auf etwa 100.000 Einrichtungen im Jahr 2002 ausgebaut – in der Jugendhilfe
zum Beispiel wuchs das Angebot allein zwischen 1970 und 2000 um gut 75 Prozent; die
Zahl der Einrichtungen für Behinderte schnellte in dieser Zeit gar um mehr als das
Achtfache nach oben. Die Wiedervereinigung erklärt sicherlich nur einen kleinen Teil
dieses Wachstums.
Selbst als sich Mitte der neunziger Jahre längst abzeichnete, dass dem Staat für all
die Wohltaten bald das Geld ausgeht, blieben die Verbände unbeirrt auf ihrem Expansionskurs. So kletterte zwischen 1996 und 2002 die Beschäftigtenzahl in der Branche um
14 Prozent bzw. gut 160.000
Die wundersame Vermehrung
Arbeitnehmer, während die
Zahl der Einrichtungen in der Freien Wohlfahrtspflege
Zahl der Beschäftigten in
1970
3. Freie Wohlfahrtspflege
Jugendhilfe
19.377 33.974
Deutschland insgesamt um 2,6
Prozent stieg. Die Wohlfahrtseinrichtungen legten gleichzei-
Sonstige Einrichtungen und Dienste 9.269
19.683
Altenhilfe
6.416
15.212
Behindertenhilfe
1.527
12.449
se der Vergangenheit tatsäch-
Familienhilfe
13.077
9.453
lich einer rasant gestiegenen
Aus-, Fort- und Weiterbildung
1.604
1.568
Nachfrage geschuldet sind,
Krankenhäuser
1.205
1.227
darf getrost bezweifelt werden.
Insgesamt
52.475 93.566
Wer heute etwa ein Jugendzen-
1970: nur Westdeutschland
Quelle: BAGFW
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
22
2000
tig um mehr als 7.000 zu.
Ob die enormen Zuwäch-
trum besucht, den erwartet
nicht selten gähnende Leere:
Der Billardtisch verstaubt, der
Deutschland: Der ausufernde Sozialstaat
Sozialausgaben je Einwohner in Euro
7.661
7.855
8.069
1999
2000
2001
3. Freie Wohlfahrtspflege
6.887
5.343
3.736
588
1.427
1960
1970
1980
1991
1995
bis 1980: nur Westdeutschland
Ursprungsdaten: Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung
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23
Kicker steht unbenutzt in der Ecke. Man kann es bedauern oder begrüßen, fest steht: Anders als noch in den siebziger und achtziger Jahren sitzen die Jugendlichen von heute
lieber zu Hause vor dem Computer oder geben ihr mittlerweile recht üppiges Taschengeld
in den Shoppingzentren der Innenstädte aus, statt sich in Jugendzentren auszutoben.
Die subventionierte Fehlbedarfsplanung sorgt auch bei den Landesrechnungshöfen
schon mal für Stirnrunzeln. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Im bevölkerungsreichsten
Bundesland versuchen sich die Wohlfahrtsverbände seit Ende der neunziger Jahre unter
anderem am so genannten Täter-Opfer-Ausgleich. In diesen speziellen Einrichtungen
soll zwischen Straftätern und deren Opfern vermittelt werden, um beiden ein langwieriges Gerichtsverfahren zu ersparen. An sich ein lobenswertes Angebot – doch wie der
Landesrechnungshof herausfand, war es in den Anfangsjahren gerade mal zu 20 Prozent
ausgelastet.
Auf ähnliche Fälle stieß „DER SPIEGEL“ schon Mitte der neunziger Jahre. Die
Hamburger Journalisten schrieben über die Wohlfahrtsverbände: „Quer durchs Land, in
den Ballungsräumen und auf den Dörfern kreieren sie immer neue Betreuungs- und
Beratungseinrichtungen für Probleme, von denen bis dahin niemand wusste – oft nicht
einmal die Betroffenen selbst.“
Entsprechend vernichtend fiel das Resümee der SPIEGEL-Recherchen aus: „Was
einst mit selbstlosen Werken christlicher Samariter als spontane Selbsthilfe von Unterdrückten oder als großzügige Spende der Begüterten begann, hat sich zu einem gigantischen Wirtschaftszweig entwickelt, in dem sich – fast – alles nur noch um Geld dreht.“
Zur wundersamen Vermehrung der Wohlfahrtseinrichtungen trug allerdings auch
der Staat gehörig bei. Wähler wollen umworben sein; also schufen ganze Generationen
3. Freie Wohlfahrtspflege
von Politikern immer neue Sozialleistungen, deren Erbringung sie dann zu einem Großteil an die Verbände delegierten. Die grundsätzliche Idee hinter dieser Praxis ist eigentlich richtig und einleuchtend: Der Staat will den Bürgern vor Ort ein ausreichendes
Angebot an sozialen Dienstleistungen bieten. Das aber stellt er nicht selber zur Verfügung, sondern beauftragt damit – wo immer es geht – nicht staatliche Anbieter.
Dieses so genannte Subsidiaritätsprinzip ist in der deutschen Sozialgesetzgebung
gleich an mehreren Stellen verankert. Allerdings erwähnten viele der entsprechenden
Paragraphen bis in die neunziger Jahre hinein ausschließlich die freigemeinnützigen
Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände und räumten ihnen damit quasi ein Monopol
24
Das Subsidiaritätsprinzip im Paragraphendickicht
Pflegeversicherungsgesetz § 11
„Bei der Durchführung dieses Buches sind die Vielfalt der Träger von Pflegeeinrichtungen zu wahren sowie deren Selbstständigkeit, Selbstverständnis und Unabhängigkeit zu achten. Dem Auftrag kirchlicher und sonstiger Träger der freien Wohlfahrtspflege, kranke, gebrechliche und pflegebedürftige Menschen zu pflegen, zu betreuen,
zu trösten und sie im Sterben zu begleiten, ist Rechnung zu tragen. Freigemeinnützige
und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägern.“
Bundessozialhilfegesetz § 93
„Zur Gewährung von Sozialhilfe sollen die Träger der Sozialhilfe eigene Einrichtungen einschließlich Dienste nicht neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen anderer Träger vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können.“ (...)
„Sind Einrichtungen vorhanden, die in gleichem Maße geeignet sind, soll der
Träger der Sozialhilfe Vereinbarungen vorrangig mit Trägern abschließen, deren Vergütung bei gleichem Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung nicht höher ist als die
anderer Träger.“
ein. Von privaten Unternehmen dagegen war in den Gesetzen lange Zeit überhaupt keine
Rede, so dass allein die Freie Wohlfahrt vom Ausbau des Sozialstaats profitierte.
Erst Mitte der neunziger Jahre hat der Gesetzgeber begonnen, die Pfründe der Freien Wohlfahrtspflege abzubauen. So stellte das Pflegeversicherungsgesetz von 1994 erstmals freigemeinnützige und private Einrichtungsträger gleich. Ein ähnlicher Schritt folgte
lichst jene Anbieter bevorzugen sollen, die das preisgünstigste Leistungsangebot vorweisen. Seitdem bekommen die ehemals Privilegierten in einigen Bereichen kräftig
Konkurrenz. Vor allem auf dem Wachstumsmarkt der mobilen Altenpflege tummelt sich
mittlerweile eine ganze Reihe privater Unternehmen, und zwar sehr erfolgreich.
Wenn es allerdings um die Betreuung von Senioren in Pflegeheimen geht, sind die
Wohlfahrtsverbände weiterhin unangefochtener Champion. Im Jahr 2001 etwa betrieben sie 56 Prozent aller Pflegeheime und boten rund 60 Prozent der Heimplätze hierzulande an. Auch in anderen Bereichen haben es die gemeinnützigen Träger bislang sehr
25
3. Freie Wohlfahrtspflege
im Bundessozialhilfegesetz. Dort ist nun festgelegt, dass die Träger der Sozialhilfe mög-
gut verstanden, ihr Terrain zu verteidigen. Wer beispielsweise einen Rettungsdienst alarmiert, der kann sich fast sicher sein, dass kurz darauf Mitarbeiter der Freien Wohlfahrtspflege am Unfallort zur Stelle sind – immerhin halten das Deutsche Rote Kreuz, die
Johanniter Unfallhilfe und die Malteser rund drei Viertel des Marktes fest im Griff.
Wie sich diese Vormachtstellung auf die Finanzen der Hilfsorganisationen auswirkt,
lässt sich allerdings nur vermuten, sind doch die gemeinnützigen Retter nicht verpflichtet, sich von jedem in die Karten schauen zu lassen. Das Wirtschaftsmagazin „Capital“
schätzte die Profite mit dem Rettungsdienst vor einigen Jahren auf rund 1,5 Milliarden
Euro per annum.
Soziale Einrichtungen: Vorfahrt für die Freie Wohlfahrt
So viel Prozent der Einrichtungen wurden im Jahr 2001 von diesen Trägern betrieben
8
Öffentliche
40
Pflegeheime
56
Freigemeinnützige
36
Private
49
Kindertagesstätten
11
3. Freie Wohlfahrtspflege
2
36
40
46
Pflegedienste
Krankenhäuser
52
24
Quelle: Statistisches Bundesamt
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
26
Ähnlich gut im Geschäft sind die Wohlfahrtskonzerne auf dem Feld der Blutversorgung – allen voran das Deutsche Rote Kreuz. Nach eigenen Angaben kontrolliert
das DRK derzeit rund 80 Prozent des Handels mit dem roten Saft. Das Abzapfen dürfte
überaus lukrativ sein, schließlich bekommen die Blutspender meist kaum mehr als einen warmen Händedruck und ein Frühstück. Die Kunden (sprich: die Krankenhäuser)
müssen dagegen für die Blutkonserven zahlen.
Umsonst ist noch lange nicht gratis
Die Bundesbürger bekommen die meisten sozialen Dienste dagegen zumindest
scheinbar zum Nulltarif. Wer beispielsweise ein Sorgentelefon anruft, muss dafür in der
Regel nicht zahlen, auch an der Tür zur Schuldnerberatungsstelle wird kein Eintrittsgeld
verlangt. Doch indirekt kassieren die Wohlfahrtsverbände bei den Bürgern sehr wohl
ab: Über 80 Prozent der Einnahmen der Wohlfahrtspflege stammen aus den öffentlichen
Haushalten und den Sozialtöpfen – und damit aus den Taschen der Steuer- und Beitragszahler.
Meisterlich verstehen es die Verbände, die unzähligen staatlichen Geldquellen anzuzapfen. So berichtete beispielsweise der Landesrechnungshof in Niedersachsen im
Jahr 2002 von einer nicht näher benannten Einrichtung, die Zuschüsse bekam aus vier
verschiedenen Landesfördertöpfen, vier Fördertöpfen einer Stadt, zwei Förderposten
eines Landkreises sowie von mehreren Krankenkassen. Mittlerweile gehöre es wohl „zur
Kunst der Wohlfahrtsverbände, die unterschiedlichen Finanziers zu ermitteln“, resümierten die Prüfer. Eigene Einnahmen – etwa aus Spenden – musste die Einrichtung
dagegen nicht einsetzen. Die öffentlichen Finanzspritzen reichten zur Finanzierung der
Für die Branche ist das Beispiel typisch. Obwohl bei Spendensammlungen stets der
Eindruck vermittelt wird, dass Wohl und Wehe der sozialen Arbeit von der Spendenbereitschaft abhängen, spielen die Almosen bei der Finanzierung der Wohlfahrtsverbände kaum eine Rolle. Im Jahr 2002 etwa machten Spenden und Mitgliedsbeiträge gerade
noch 3 Prozent des Gesamtbudgets der Freien Wohlfahrtspflege aus. Und künftig könnte diese Geldquelle sogar noch spärlicher fließen. Denn die barmherzigen Firmen konkurrieren mit einer steigenden Zahl anderer gemeinnütziger Organisationen um ein seit
Jahren stagnierendes Spendenaufkommen von rund 2 Milliarden Euro per annum.
27
3. Freie Wohlfahrtspflege
Arbeit vollkommen aus.
Deutsches Rotes Kreuz:
Hilfe als Monopol
Marktanteile des DRK in Prozent
im Jahr 2002
Bergrettungsdienste
90
Blutversorgung
80
Flüchtlingsbetreuung
70
Behindertentransportdienste
70
Erste-HilfeAusbildung und
Sanitätsdienst
65
Rettungsdienste
53
Mobile soziale
Dienste
40
3. Freie Wohlfahrtspflege
Quelle: DRK
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
28
Wer die Freie Wohlfahrtspflege finanziert
Einnahmen in Prozent
Leistungsentgelte
Kirchliche Zuwendungen
Öffentliche Zuwendungen
69
Leistungsentgelte: Bezahlung von Leistungen im Rahmen
der Sozialhilfe, Kranken- und Pflegeversicherungen; Stand: 2002
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
14
8
6
3
Sonstige
Spenden und Beiträge
Staat und Wohlfahrtsverbände – eine Hand wäscht die andere
Einerseits hängen die Wohlfahrtsverbände fast ausschließlich am Tropf des Staates,
andererseits gibt es kaum einen Verband, in dem nicht auch ein Politiker sitzt und sein
soziales Engagement zur Schau stellt. Angesichts solcher Konstellationen ist es kein Wunder, dass die engen Verflechtungen zwischen Staat und Wohlfahrt immer wieder in die
Kritik geraten. So bemängelt die Monopolkommission schon seit Jahren, der Gesetzgeber
räume AWO & Co. zu viele Mitspracherechte ein. In den Kommissionen, die zum Beispiel
die Preise für die Leistungen der Pflegeversicherung festlegen, sitzen die Vertreter des
Staats und die Abgesandten der Wohlfahrtsverbände genauso einhellig nebeneinander wie
in den Ausschüssen, die sich mit der Kinder- und Jugendhilfe befassen.
Solche Konstruktionen – noch dazu gesetzlich abgesichert – sind ein idealer Nährboden für die Lobbyarbeit zulasten Dritter, kritisiert nicht nur die Monopolkommission.
Zu Recht, denn die gemeinsame Gremienarbeit von Staat, Wohlfahrtsverbänden und
Leistungskontrollen und Preisvergleiche zu fördern. Bereits seit langem steht daher die
Forderung im Raum, diese Arbeitsgemeinschaften aufzulösen. Angesichts der offensichtlichen Interessenkollisionen gilt dies uneingeschränkt auch für die personellen Verflechtungen zwischen öffentlichen Ämtern einerseits und Führungspositionen in den
Sozialverbänden andererseits.
Bislang lobbyiert der Sozialstaat jedoch weiter vor sich hin. Im März 2004 beklagte
etwa das Wirtschaftsmagazin „Capital“ die Scheu der gesetzlichen Pflegeversicherung,
sich bei den Pflegesatzverhandlungen mit den mächtigen Wohlfahrtsverbänden anzule29
3. Freie Wohlfahrtspflege
gegebenenfalls privaten Anbietern ist nicht gerade dazu angetan, gegenseitige Kritik,
Die gesetzlich garantierten Mitspracherechte
der Verbände
Pflegeversicherungsgesetz § 86 Absatz 1
„Die Landesverbände der Pflegekassen, der Verband der privaten Krankenversicherung e.V., die überörtlichen oder ein nach Landesrecht bestimmter Träger der
Sozialhilfe und die Vereinigungen der Pflegeheimträger im Land bilden regional
oder landesweit tätige Pflegesatzkommissionen, die anstelle der Vertragsparteien
nach § 85 Abs. 2 die Pflegesätze mit Zustimmung der betroffenen Pflegeheimträger
vereinbaren können.“
Kinder- und Jugendhilfe § 71 Absatz 1 Satz 2
„Dem Jugendhilfeausschuss gehören als stimmberechtigte Mitglieder an mit
zwei Fünftel des Anteils der Stimmen Frauen und Männer, die auf Vorschlag der im
Bereich des öffentlichen Trägers wirkenden und anerkannten Träger der freien
Jugendhilfe von der Vertretungskörperschaft gewählt werden; Vorschläge der Jugendverbände und der Wohlfahrtsverbände sind angemessen zu berücksichtigen.“
gen. Als Beleg zitiert das Magazin den Ersatzkassenverbandschef Baden-Württembergs:
„Wenn Sie Kostendruck auf die Gemeinnützigen ausüben, dann stehen Ihnen doch sofort die Politiker auf der Matte.“ Noch klarer formulierte es ein auf Pflegedienste spezialisierter Firmenberater: „Das heimliche Kartell funktioniert überall. Keiner tut dem
anderen weh, weil der AOK-Chef auch im Verwaltungsrat der Diakonie sitzt und der
AWO-Vorsitzende im Stadtparlament.“
3. Freie Wohlfahrtspflege
Dies führe fast zwangsläufig dazu, dass sich Staat, Kassen, Wohlfahrtsverbände und
private Anbieter häufig auf viel zu hohe Vergütungen einigen, resümierten die „Capital“Journalisten. So würden bei der Berechnung der Entgelte oftmals nicht die meist niedrigeren Ausgaben der effizienteren privaten Firmen zugrunde gelegt, sondern die höheren
Kosten der Gemeinnützigen – die Zeche übernehmen schließlich die Beitragszahler.
Oder die Steuerzahler – wie in einem Fall aus der Bundeshauptstadt: Dem Land
Berlin entstand zwischen 1999 und 2002 ein Schaden von rund 3,5 Millionen Euro, weil
Senatsverwaltung und Wohlfahrtsverbände bei ihren gemeinsamen Vergütungsberechnungen im Bereich der Jugendhilfe zu hohe Kosten unterstellten. Die Experten
30
hatten bewusst ignoriert, dass die Samariter im Osten der Stadt geringere soziale Extras
bekommen – stattdessen basierten ihre Kalkulationen für ganz Berlin auf den generöseren
West-Tarifverträgen. Selbst als der Rechnungshof die Verschwendung anprangerte, beharrte die Verwaltung auf ihrer Entscheidung. Sie argumentierte, im Rahmen eines
„Verhandlungskompromisses“ sei mit den Verbandsvertretern vereinbart worden, die
Trennung nach Ost und West nicht vorzunehmen – erst in künftigen Verhandlungen
werde man die notwendigen Konsequenzen ziehen. Im Klartext: Das Land überweist
den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege auch weiterhin zu viel Geld. Nach Schätzungen des Rechnungshofes summieren sich die finanziellen Nachteile für das Land
Berlin auf rund 1 Million Euro pro Jahr.
Die Netzwerke der Wohltäter
Beziehungen und gesetzlich garantierte Mitspracherechte zu allen möglichen Entscheidungen reichen den Sozialverbänden allerdings noch nicht aus. Um ihren Interessen noch besser Gehör zu verschaffen, haben sich die großen Organisationen darüber
hinaus auf allen Ebenen des Sozialstaats zu regelrechten Lobby-AGs zusammengeschlossen: In vielen Städten kooperieren die Caritas und ihre Mitstreiter in so genannten Ligen, auf Landesebene sitzen sie in Arbeitsgemeinschaften zusammen und auf Bundesebene vertritt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)
die Anliegen der Gemeinnützigen.
All diese Zusammenschlüsse haben meist ein und dieselbe Mission: Obwohl eigentlich Konkurrenten, stimmen die Verbände ihr Vorgehen bei allen möglichen Entscheidungen vorher ab. Derart gestärkt, streiten die Wohlfahrtsvertreter dann in den
Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft beispielsweise liest sich das so: „Aufgaben
der BAGFW sind die Beratung und Abstimmung zu allen Fragen der Freien Wohlfahrtspflege, die Mitwirkung an der Gesetzgebung und Kontaktpflege zu allen relevanten politischen Gremien und Entscheidungsträgern sowie die Mitwirkung in Fachorganisationen
und Initiativen.“
Diese enge Kooperation bringt den Verbänden immer wieder den Vorwurf ein, als
Kartell zu agieren. Das K-Wort stand bereits im Hauptgutachten der Monopolkommission
im Jahr 1998. Die Wettbewerbsexperten kamen darin zu dem Schluss, dass die sozialen
31
3. Freie Wohlfahrtspflege
politischen Gremien mit einer Stimme für die Standpunkte ihrer Branche. Auf der
Großorganisationen ihre Positionen vor den Verhandlungen mit dem Staat angleichen,
um sich im Tauziehen um Budgets, Entgelte und staatliche Förderungen besser behaupten zu können. Der Aufschrei der Kritisierten hallte so laut, wie ihre Verteidigung alt
war: Von einem Kartell könne schon deshalb keine Rede sein, weil jeder Verband aus
einer Vielzahl rechtlich unabhängiger Vereine bestehe; diese hätten weitgehend unterschiedliche Interessen und befänden sich auch miteinander im Wettbewerb.
Was genau die Samariter darunter verstehen, zeigt ein Beispiel aus Düsseldorf: Auch
in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt arbeiten die Wohlfahrtsverbände in einer
Liga zusammen. Diese rang der Stadt im Jahr 2002 einen folgenschweren Rahmenver-
trag ab. Darin sichert die Rheinmetropole den sechs örtlichen Verbänden zwischen 2003
und 2007 Zuschüsse von jährlich 20 Millionen Euro zu. Verwendet werden soll das Geld
beispielsweise für die Behindertenhilfe, für Kinder-, Jugend-, Ausländer- und Familienarbeit.
Zwar hat der Vertrag durchaus seinen Charme – schließlich verschafft er allen Be-
3. Freie Wohlfahrtspflege
teiligten für eine Weile Planungssicherheit. Folgenschwer ist das Verhandlungsergebnis
aber deshalb, weil potenzielle Mitkonkurrenten – private sowie gemeinnützige, die keinem Verband angehören – daran gar nicht beteiligt sind. Ihnen wird es folglich schwer
fallen, auf den abgesteckten Sozial-Claims Fuß zu fassen. Ein Wettbewerb um die besten und günstigsten Leistungen kommt somit – zumindest bis 2007 – wohl kaum in
Gang. Stattdessen können die beteiligten Verbände nun das zugesagte Bärenfell in aller
Ruhe unter sich verteilen.
Diese Praxis ist kein Einzelfall – und wie immer ist daran auch Vater Staat beteiligt.
Politiker verhandeln nun einmal gerne mit Großorganisationen, das erspart ihnen näm32
Das Kartell der Wohlfahrtsverbände
Auszüge aus dem Hauptgutachten 1996/1997 der Monopolkommission
„Gegenüber den Sozialleistungsträgern treten die einzelnen Verbände als homogene Gruppe auf. Sie errichten Parallelstrukturen und bilden damit auf den verschiedenen föderativen Ebenen die Ansprech- und Kooperationspartner der Sozialleistungsträger. Auf Bundes- und Landesebene sind die sechs Wohlfahrtsverbände zu
Dachverbänden zusammengeschlossen, wodurch ein einheitliches Auftreten ermöglicht wird. In den Gremien treten die Dachverbände den öffentlichen Vertretern mit
einer Stimme gegenüber, denn unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen konnten
bereits zuvor geklärt und angeglichen werden. Das homogene Auftreten stärkt die
Verhandlungsposition der Freien Wohlfahrtspflege. Das kartellartige Erscheinungsbild der Wohlfahrtsverbände stellt den Gegenpol zu der Verhandlungs- und Nachfragemacht des Staates dar. Den Verbänden ist die Akzeptanz der ausgehandelten Ergebnisse und Verträge sowie die Loyalität in der Durchführung seitens der Basisorganisationen weitgehend sicherer, da die Mitgliedschaft für die Einrichtungen eine
Art Eintrittskarte zur Teilnahme am Versorgungssystem darstellt. Für die Einrichtungsträger bekleiden die Verbände die Funktion, ihnen Fördermittel zu vermitteln. Darüber hinaus gewährleisten sie, dass die freigemeinnützigen Einrichtungen in den Bedarfsplänen Berücksichtigung finden. Im Verhältnis zu ihren Mitgliedern stellen die
Verbände eine Prüfungs- und Bürgschaftsinstanz dar, die ihnen eine Versorgung mit
sozialen Diensten im Rahmen der vereinbarten Leistungsparameter gewährleistet.“
„Die neokorporatistischen Strukturen bei der Versorgung mit sozialen Diensten lassen
3. Freie Wohlfahrtspflege
sich als bilaterales Kartell deuten: Der Konzentration der Sozialhilfeträger und Sozialversicherungen als Kostenträger und Nachfrager steht das Wohlfahrtskartell auf der
Angebotsseite gegenüber. Rahmenempfehlungen auf Bundes- und Landesebene sowie
landesweite Vertragsabschlüsse zementieren ein Geflecht von bilateralen Kartellabsprachen, deren rechtliche Grundlage in unterschiedlichen sozialgesetzlichen Bestimmungen zu finden ist. Die Stellung der FW wird durch das bedingte Vorrangsprinzip und
die generelle Diskriminierung potenzieller Konkurrenten verstärkt. Die neokorporatistische Kooperation der Sozialleistungsträger und der Verbände tritt hinzu.“
33
lich langwierige und unangenehme Verhandlungen mit jedem einzelnen Einrichtungsträger. Also genehmigt man, wie im Fall Düsseldorf, Pauschalen und lässt den Wohlfahrtsverbänden beim Aufteilen der Fördermilliarden offenbar weitgehend freie Hand.
Klar definierte Kriterien jedenfalls sucht man zuweilen vergebens.
So kritisierte zum Beispiel der Niedersächsische Rechnungshof im Jahr 2002, dass
der Freien Wohlfahrtspflege für zehn Jahre rund 250 Millionen Euro an Landesmitteln
zugesagt wurden, „ohne dass das Land auf die Verwendung nennenswerten Einfluss
nimmt und ohne dass sachliche Kriterien für eine Verteilung der Mittel untereinander
bestehen“. Stattdessen wurde das Geld von den Verbänden quasi mit der Gießkanne
weitergeleitet – ein geordnetes Antrags- und Bewilligungsverfahren finde vielfach nicht
statt. „Ein Verband hat selbst dann Mittel weitergeleitet, wenn seine im Rahmen der
Antragsprüfung beteiligte Innenrevision eine Notwendigkeit für den Einsatz der Landesmittel nicht erkennen konnte.“
Stimme der Schwachen oder Anwalt in eigener Sache?
Das Geld anderer Leute auszugeben, das weiß wohl jeder, ist so schwierig nicht –
man muss nur dafür sorgen, dass die Quellen immer weitersprudeln. Die Wohlfahrtsverbände jedenfalls scheinen diesen Mechanismus aufs Beste verstanden zu haben. Der
Bund – hochverschuldet. Die Länder – pleite. Die Kommunen – konkursreif. Obwohl
inzwischen wohl jeder Bundesbürger verstanden hat, dass sich Deutschland seine exorbitanten Sozialausgaben auch beim besten Willen nicht mehr leisten kann, wehrt sich
die Wohlfahrtslobby mit Händen und Füßen gegen den Umbau des Sozialstaates.
Im Jahr 2002 zum Beispiel starteten die Verbände im SPD-Stammland Nordrhein-
3. Freie Wohlfahrtspflege
Westfalen eine Kampagne gegen die Sparanstrengungen der rot-grünen Landesregierung – Parole: „Geschlossen gegen Sozial-Kahlschlag“. Gespart werde nach dem Motto: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, spotteten sie und forderten unisono im
Gewerkschaftsjargon einen „heißen Herbst“.
Nun ist ein solches Engagement in einer demokratischen Gesellschaft zwar durchaus legitim; in diesem Fall allerdings trägt der vermeintliche Altruismus der Verbände
schon arg egoistische Züge. Denn eigentlich sind die Aufgaben in der Branche klar
getrennt: Die rechtlich unabhängigen Träger kümmern sich in ihren Einrichtungen um
die Bedürftigen und den Verbänden obliegt die Lobbyarbeit. Allerdings betreiben einige
34
35
3. Freie Wohlfahrtspflege
Verbände auch „hauseigene“ Einrichtungen oder halten zumindest hohe Beteiligungen
– und sind daher, genauso wie die unabhängigen Einrichtungen, darauf angewiesen,
dass die Geldquellen auch künftig reichlich sprudeln. Wenn diese Verbände also die
Kürzungen in den Sozialetats geißeln, dann tun sie das folglich nicht nur im Namen der
Nächstenliebe – sondern auch, um das finanzielle Wohlergehen ihrer eigenen Kindertagesstätten, Fortbildungshäuser oder Beratungsdienste zu sichern.
So etwas nennt man einen handfesten Interessenkonflikt. Ergo fordern Kritiker von
den Sozialverbänden schon seit langem, ihre „hauseigenen“ Einrichtungen in selbstständige GmbHs auszugliedern und sich von ihren Beteiligungen zu trennen.
Selbst bei vielen Verbandsfunktionären ist das Engagement in Sachen Sozialpolitik
nicht unumstritten. Im Sommer 2003 beispielsweise sprachen sich die Berliner Spitzenverbände in einer gemeinsamen Erklärung mit der Gewerkschaft ver.di gegen Gehaltskürzungen bei der Freien Wohlfahrtspflege aus. So manchem Einrichtungsträger dürfte
diese Forderung allerdings einige Magenschmerzen bereitet haben. Schließlich beklagen sie sich schon seit langem über die viel zu hohen Personalkosten in ihren Organisationen. Ihr Problem: Caritas, AWO & Mitstreiter sind verpflichtet, sich bei der Bezahlung ihrer Mitarbeiter an den Tarifen des Öffentlichen Dienstes, also am Bundesangestelltentarif (BAT) zu orientieren – und der liegt gerade bei einfachen Tätigkeiten um bis
zu 20 Prozent höher als die Entgelte der privaten Rivalen. Die Rolle des Sozialanwalts
gerät damit immer mehr in Konflikt mit den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten
der Träger, sich beispielsweise beim Geschäft mit den mobilen Pflegediensten gegen
3. Freie Wohlfahrtspflege
den wachsenden Wettbewerbsdruck der Privaten zu behaupten.
36
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
Tatort Tiefgarage, irgendwo in Deutschland, vielleicht auch der Schweiz: Zwei Herren steigen aus ihren Limousinen. Beide sind in der Dunkelheit nur schemenhaft zu
erkennen. Ein kurzer Händedruck; man kennt sich, man schätzt sich. Ein Bündel Geldscheine wechselt den Besitzer, der Deal ist perfekt: Zufrieden steigen die Herren in ihre
Nobelkarossen und fahren in aller Seelenruhe davon.
Zugegeben, die Details dieses konspirativen Treffens sind etwas ausgeschmückt –
doch die Aussagen im Prozess um den Bestechungsskandal beim Bayerischen Roten
Kreuz (BRK) Ende der neunziger Jahre regen nun einmal die Phantasie an. Da war nicht
nur von Geldübergaben in Tiefgaragen und Nobelrestaurants die Rede. Die Zeugen berichteten auch von wertvollen Geschenken, die in Schließfächern deponiert wurden,
und von ausgedehnten Luxusreisen, zu denen die Bestochenen samt Ehefrauen eingeladen wurden.
Hauptfiguren in diesem Wirtschaftskrimi waren zwei alte Herren. Der eine stand
lange Zeit den bayerischen Rot-Kreuzlern als Landesgeschäftsführer vor; der andere
leitete über Jahre den BRK-Blutspendendienst. Gemeinsam oblag ihnen der Einkauf
Und beide hielten bei ihren Shoppingtouren stets die Hände auf und kassierten in all den
Jahren ihres Treibens hohe Summen an Schmiergeldern. Im Gegenzug, so stellte das
Münchner Landgericht fest, kauften sie die Pharmaprodukte auf BRK-Kosten zu weit
überhöhten Preisen.
Dem Bayerischen Roten Kreuz entstand damals ein Schaden von fast 9 Millionen
Euro. Fast noch schlimmer jedoch war das Bild, das die Samariter der Öffentlichkeit
darboten: Monatelang sorgte das Gerichtsverfahren für peinliche Schlagzeilen, fast täglich wurden neue pikante Details über das Geschäftsgebaren der Ex-Funktionäre bekannt. Erst nachdem das Gericht die beiden im Frühjahr 2000 wegen Bestechung, Untreue und Steuerhinterziehung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt hatte, legte sich
die Aufregung. Da aber stand der Rettungsdienst-Verband längst vor einem Scherbenhaufen: Der Ruf der größten Hilfsorganisation in Bayern war nachhaltig ramponiert,
das Spendenaufkommen brach ein und das Heer der ehrenamtlichen Helfer zeigte sich
geschockt und brüskiert.
37
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
medizinischer Produkte, die das BRK zur Herstellung von Blutpräparaten benötigte.
Doch wie das Leben so spielt: Der Blutspendenskandal in Bayern war nicht der
einzige Skandal, den die Wohlfahrtsbranche in der jüngeren Vergangenheit erlebte. Denn
fast zeitgleich zum Wirbel um das Rote Kreuz geriet auch der Branchenprimus, die
Caritas, in die Schlagzeilen – genauer gesagt die Caritas-Trägergesellschaft Trier (CTT).
Die Folgen dieses Skandals waren sogar noch gewaltiger als bei den bayerischen RotKreuzlern: Zuerst musste der damalige Bundesverkehrsminister seinen Rücktritt erklären, kurz darauf nahm der saarländische Innenminister seinen Hut und zu guter Letzt
wanderten die verantwortlichen CTT-Manager für lange Zeit ins Gefängnis. Sogar der
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
Bischof von Trier, oberster Dienstherr der Trägergesellschaft, zeigte sich in seinem Glauben an enge Mitarbeiter schwer erschüttert.
Was war passiert? Angefangen hatte alles damit, dass Ende der achtziger Jahre eine
Reihe kleiner katholischer Krankenhäuser in finanzielle Schieflage gerieten und einige
sogar von der Schließung bedroht waren. Um das zu verhindern, wurde die CaritasTrägergesellschaft Trier aus der Taufe gehoben, die manche der klammen Spitäler übernahm. An die Spitze der CTT wechselte der Krankenhausmanager Hans-Joachim
Doerfert, dessen umtriebige Geschäftspolitik auch schnell Erfolge zeigte: Durch die
Zusammenführung der Krankenhäuser zu größeren Einheiten konnten medizinische
Leistungen besser aufeinander abgestimmt werden, die Verwaltungskosten sanken und
die Bildung von Einkaufsgemeinschaften ermöglichte das Aushandeln von Rabatten.
Derart beflügelt, expandierte die CTT munter weiter. Zeitweise betrieb der gemeinnützige Träger 42 Einrichtungen mit rund 9.000 Beschäftigten und machte einen Umsatz von mehr als 400 Millionen Euro. Zunächst schien alles prima zu laufen: Die CTT
genoss unter Fachleuten einen guten Ruf, selbst die Geistlichen im Bistum Trier waren
38
39
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
vom weltlichen Geschäftsmann Doerfert hellauf begeistert – brachte der doch neuen
Wind und jede Menge Geschäftssinn in den Laden.
Doch irgendwann reichten dem für seine Hemdsärmeligkeit gefürchteten Manager
offenbar weder Lob noch sein üppiges Gehalt – und er begann, im großen Stil in die
eigene Tasche zu wirtschaften. Dabei half Doerfert, dass er rund um die CTT ein kaum
zu durchschauendes Geflecht aus Töchterfirmen und Beteiligungen geschaffen hatte.
So konnte der gewiefte Finanzjongleur die Gelder so lange hin und her schieben, bis sie
letztlich auf seinen eigenen Konten landeten; oder auch in den Händen enger Mitarbei-
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
ter, deren Schweigen er sich mit der ihm eigenen Interpretation von Nächstenliebe erkaufte.
Hohe Summen überwies der Manager zudem an den 1. FC Saarbrücken – offenbar ohne dass der Fußballverein dafür irgendwelche erkennbaren Gegenleistungen
erbracht hatte. Für ein Vergelts-Gott seien die Gelder jedoch keineswegs geflossen,
versicherte Doerfert später vor Gericht. Vielmehr habe er – ganz im Sinne der CTT,
die von staatlichen Geldern und Entscheidungen abhing – „politische Landschaftspflege“ betreiben wollen. Denn im Vorstand des Zweitligisten saßen wichtige Entscheidungsträger: Präsident war der ehemalige Bundesverkehrsminister Reinhard
Klimmt, damals noch saarländischer Ministerpräsident, und als Stellvertreter im Klubheim agierte der spätere Innenminister des Saarlandes Klaus Meiser. Beide gerieten
während der Untersuchungen im Fall Doerfert in den Verdacht der Bestechlichkeit
und traten von ihren politischen Ämtern zurück. Doerfert selbst bekam für seine Machenschaften im Sommer 2001 zehneinhalb Jahre Haft aufgebrummt, seine Mitwisser
von der CTT kamen glimpflicher davon.
40
Was die Caritas nach dem langwierigen Gerichtsverfahren durchmachen musste,
erinnerte stark an die Nachwehen des BRK-Skandals: Nicht nur das Image der CTT
war aufs Ärgste ramponiert, sondern gleich das Ansehen des gesamten Wohlfahrtsverbands. Dass die CTT rechtlich unabhängig von der Caritas war – solche Details
interessierten die Bürger wenig. Vor allem die vielen fleißigen Helfer bekamen den
Unmut deutlich zu spüren. So ärgerte sich der damalige Chef des Trierer CaritasVerbandes Franz Josef Gerber: „Bei den persönlichen Kontakten sind unsere Sammler immer wieder mit dem Skandal konfrontiert worden, bis hin zu Beschimpfungen
und Abweisungen.“ Auch der Kassenwart des Verbandes merkte die Folgen. Denn im
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
Skandaljahr sammelte die Caritas im Bistum Trier gut ein Viertel weniger Spenden
ein als vor der Krise.
Außer diesen unerwünschten Nebenwirkungen hatten die beiden Skandale noch
eine weitere Parallele: Sowohl beim BRK als auch bei der CTT konnten die Übeltäter
ihren kriminellen Machenschaften vor allem deshalb so lange unbehelligt nachgehen,
weil es schlichtweg keine Kontrollen gab. Im Fall der Trierer Caritas-Trägergesellschaft,
die als gemeinnütziger Verein kirchlichen Rechts organisiert war, lag die Rechtsaufsicht beim Bischof von Trier. Doch dem waren nach eigenen Aussagen die Hände
gebunden, schließlich sei er „Seelsorger und kein Betriebswirt“. „DER SPIEGEL“
kam daher zu dem Schluss: „Es gab keine Kontrolle der Aktivitäten Doerferts, es gab
keine strenge Nachprüfung. Es ging offenbar zu wie im Absolutismus.“
Auch beim BRK waren anscheinend zwei Sonnenkönige am Werk. So stellte etwa
dpa ungläubig fest, dass die beiden verurteilten Ex-Funktionäre den Verband jahrelang wie unumschränkte Herrscher geleitet hätten. In den Reihen des Bayerischen
41
Roten Kreuzes wollte man da gar nicht erst widersprechen. Heinz Köhler, der nach
Bekanntwerden des Skandals die Leitung des BRK übernahm, meinte, es sei einfach
erbärmlich gewesen, dass es im Blutspendendienst praktisch keine Revision gegeben
habe. „Die unzureichende Kontrolle der Finanzen war in der Vergangenheit die Schwachstelle“, urteilte der Jurist, der mittlerweile für die SPD im Bundestag sitzt.
Ein heilsamer Schock – aber längst nicht für alle
Wie die Rot-Kreuzler in Bayern haben inzwischen viele große Verbände und Einrichtungsträger verstanden, dass es mit reinem Vertrauen allein nicht getan ist – und
setzen meist auf hauseigene Innenrevisionen und externe Wirtschaftsprüfer. Damit ist in
der abgeschotteten und kaum beachteten Welt der Wohlfahrtspflege allerdings noch längst
nicht alles in Ordnung. Denn viele der unzähligen kleinen Verbände und Träger wursteln weiter vor sich hin. So schrieb im Dezember 2003 die „Süddeutsche Zeitung“ etwa
über den Branchenprimus: „Die Caritas hat die Größe eines Weltkonzerns, doch geführt
wird sie wie ein Provinzladen.“ Quer durch die Branche können die meist ehrenamtlichen Vorstände, in denen altgediente Funktionäre sitzen, noch immer nach eigenem
Gusto schalten und walten. Und das sogar legal. Denn solange ein Verband als gemein-
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
nütziger Verein agiert, sind strenge Kontrollen in der Regel gesetzlich nicht vorgeschrieben
und daher die Ausnahme: Externe Prüfer, die Testate ausstellen können? Hält man vielerorts für Geldverschwendung! Eine Weitergabe der Wirtschaftsdaten an die Experten
in den Bundes- und Landesverbänden? Sieht die Satzung nicht vor. Ein Aufsichtsrat, der
das wirtschaftliche Gebaren der Vorstände kontrollieren könnte? Muss die Mehrzahl
von Gesetz wegen nicht einrichten. Das Einzige, wozu das Bürgerliche Gesetzbuch die
meisten Verbände überhaupt verpflichtet, ist die regelmäßige Information der eigenen
Mitglieder.
Die vielen Amateure vor Ort bereiten inzwischen sogar den Zentralen der Bundesund Landesverbände einiges Kopfzerbrechen. Seit kurzem versuchen die hochrangigen
Funktionäre deshalb, ihre Kreis- und Ortsverbände in Wort und Schrift von der Notwendigkeit einer besseren Aufsicht zu überzeugen. So veröffentlichte zum Beispiel der Verband der Diözesen Deutschlands im Februar 2004 eine Arbeitshilfe für Soziale Einrichtungen in katholischer Trägerschaft – Tenor: Die Mitgliederversammlung kann dem Vorstand beziehungsweise der Geschäftsführung nicht streng genug auf die Finger schauen.
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Engagement ist gut – Kontrolle ist besser
Auszüge aus der Arbeitshilfe „Soziale Einrichtungen in katholischer Trägerschaft und wirtschaftliche Aufsicht“ des Verbandes der Diözesen Deutschlands
„Jeder Rechtsträger verpflichtet sich, in seiner Satzung beziehungsweise im
Gesellschaftsvertrag neben dem Vorstand und/oder der Geschäftsführung ein Aufsichtsgremium zu installieren. (...) Die Mitglieder des Aufsichtsgremiums sollen die
notwendigen Fach- und Sachkenntnisse sowie Erfahrungen mitbringen, die aufgrund
der Aufgabenstellung des Trägers erforderlich sind. Bei der Zusammensetzung soll
auf unterschiedliche Kompetenzen Wert gelegt werden. Die ökonomische Kompetenz muss angemessen berücksichtigt sein.
Den Vorständen, Geschäftsführungen und Aufsichtsgremien der Rechtsträger
wird nachdrücklich empfohlen dafür Sorge zu tragen, dass die Verpflichtung zum
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
wirtschaftlichen Handeln und die Beachtung betriebswirtschaftlicher Grundsätze
eine hohe Priorität haben. Die dafür erforderlichen strukturellen und organisatorischen Maßnahmen sowie die notwendigen Instrumente sollten geschaffen und weiter entwickelt werden.
Dazu zählen unter anderem die Aufbau- und Ablauforganisation, ein kaufmännisches Rechnungswesen, die innovative Planung und Steuerung des Leistungsangebotes, die Sicherung der Qualität, die langfristige Markt- und Bedarfssicherung,
eine unternehmerische Investitionspolitik, die Einrichtung eines Frühwarnsystems,
ein internes Überwachungssystem und Controlling.
Weiterhin ist ein effizientes Berichtswesen notwendig, das sich am Wirtschafts-,
Investitions-, Stellen-, Instandhaltungs- und Instandsetzungsplan, an der Entwicklung
wichtiger betrieblicher Leistungsdaten und am Liquiditätsstatus orientiert. Ferner
kommt dem Lagebericht eine große Bedeutung zu.“
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Daher sollen die Wohlfahrtsunternehmen freiwillig ein spezielles Aufsichtsgremium einrichten. Wichtig sei es, so die Autoren der Arbeitshilfe, dass die Mitglieder des Kontrollorgans auch das nötige Know-how hätten – sprich: etwas von Betriebswirtschaft und
von den Geschäftsbereichen des Trägers verstehen.
Leider hat die gut gemeinte Aufklärungsarbeit einen entscheidenden Haken: Bei all
ihren Appellen sind die Bundes- und Landesvorstände auf die freiwillige Einsicht ihrer
Mitglieder angewiesen. Denn da die Kreis- und Ortsverbände rechtlich unabhängig sind,
können sie von ihren Dachorganisationen de facto zu gar nichts gezwungen werden.
Die faktische Immunität der Freien Wohlfahrtspflege verdammt deren Finanziers
(also die Steuer- und Beitragszahler) dazu, dem Treiben praktisch tatenlos zusehen zu
müssen – mehr als sporadische Kritik ist kaum drin. Diesen Job übernehmen vor allem
die Landesrechnungshöfe. Sie prüfen stichprobenartig, ob Diakonie, AWO & Co. die
Finanzspritzen auch wirklich so einsetzen, wie es die staatlichen Richtlinien vorsehen.
Das Ergebnis ist vielfach das Gleiche: Eigene Vermögen werden verschwiegen, Wirtschaftsdaten nicht ausreichend archiviert und Kosten abgerechnet, die gar nicht entstanden sind.
Ein typisches Beispiel dafür findet sich im Bericht des Bayerischen Obersten Rech-
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
nungshofes (ORH) aus dem Jahr 1997. Damals wühlten sich die Mitarbeiter des ORH
durch die Verwendungsnachweise von 20 Einrichtungen der so genannten Offenen
Behindertenarbeit. Das Fazit der Prüfer: Die Dienste hatten gegenüber dem Staat fiktive
Ausgaben abgerechnet, ihre Einnahmen aus den Pflegekassen verschwiegen und Gelder
in Bereiche umgeleitet, die von Gesetz wegen gar nicht gefördert werden sollten. Insgesamt hatten die Samariter fast die Hälfte der staatlichen Fördergelder von rund 700.000
Euro zu Unrecht bekommen.
In einem anderen Fall war es der Staat selbst, der aus Schlampigkeit zu viel zahlte.
In der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel griff er einem Kreisverband der
Freien Wohlfahrtspflege bei dessen Verwaltungsausgaben mit über 400.000 Euro pro
Jahr unter die Arme. Die Zuschüsse seien zu hoch gewesen, mokierte der Landesrechnungshof im Jahr 2002 – und das gleich aus einer Reihe von Gründen: Zum einen hatte die
Stadt nicht berücksichtigt, dass die bezuschusste Geschäftsstelle nicht nur Ausgaben hatte, sondern auch Einnahmen erzielte, die mit der Förderung hätten verrechnet werden
müssen. Zum anderen erhöhten die Stadtväter die Subventionen für die Verwaltung viel
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stärker, als es die Kostensteigerungen verlangt hätten – sie machten sich nicht einmal die
Mühe zu überprüfen, ob der Verband das Geld überhaupt in diesem Umfang brauchte. Als
der Landesrechnungshof dann mal genauer hinschauen wollte, verwehrte ihm der Kreisverband einfach den Blick in seine Bücher. Eine derartige Prüfung der Verwaltungsausgaben,
argumentierten die Funktionäre, sei durch das Gesetz nicht gedeckt.
Unter die Lupe nehmen durfte der LRH aber den Bereich der geförderten sozialen
Dienstleistungen – und hier herrschte Chaos allenthalben: Konten- und Kostenstellenpläne waren unvollständig, staatliche Zuwendungen lagerten auf Konten, die dafür gar
nicht vorgesehen waren, und die Buchführung war mehr als undurchsichtig. O-Ton aus
dem Jahresbericht: „Der LRH bemängelt, dass der Kreisverband keinen lückenlosen
Überblick über die erhaltenen öffentlichen Förderungen hatte.“ Auf Seiten der Förderer
sah es allerdings nicht besser aus. Weil der Verband von verschiedenen Behörden unterstützt wurde, war ein heilloses Durcheinander entstanden. Die linke Hand wusste nicht,
was die rechte bezuschusste – keine einzige der beteiligten Stellen hatte einen Überblick
über die gesamten Finanzen des Verbandes. „Dadurch können Überfinanzierungen nicht
ausgeschlossen werden“, urteilten die Kontrolleure in Schleswig-Holstein.
Die Prüfungen der Rechungshöfe sind aber wie gesagt immer nur Stichproben. Eine
Gesetz sind nämlich nur jene Vereine zur Offenlegung ihrer Daten verpflichtet, die in
puncto Bilanzsumme, Umsatz und Beschäftigtenzahl die Dimension eines Großunternehmens erreichen. Dafür müssen zwei dieser drei Merkmale erfüllt sein: Jahresbilanzsumme übersteigt 65 Millionen Euro, Umsatzerlöse übersteigen 130 Millionen Euro,
Unternehmen beschäftigt im Jahresdurchschnitt mehr als 5.000 Arbeitnehmer. Die vielen kleinen und mittleren Vereine unterliegen daher keiner Publizitätspflicht. Ob bei
ihnen alles mit rechten Dingen zugeht, ob sie steinreich oder bettelarm sind, darüber
können die Bundesbürger nur spekulieren.
Um solchen Spekulationen vorzubeugen und das Image der Branche aufzupolieren,
haben sich viele Spitzenverbände inzwischen zu einer klaren Empfehlung an ihre Mitglieder durchgerungen: Geht offensiv an die Öffentlichkeit und gebt eure Zahlen freiwillig bekannt. Ex-Bundesinnenminister Rudolf Seiters beispielsweise, der seit November 2003 dem Deutschen Roten Kreuz als Präsident vorsteht, formulierte es kürzlich so:
„Bei einem Verband mit 4,6 Millionen Mitgliedern, 5.600 Ortsvereinen und einer gro45
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
breit angelegte Kontrolle der Verbände durch die Öffentlichkeit findet nicht statt. Laut
ßen Selbstständigkeit der einzelnen Strukturen kann es vereinzelt zu Unregelmäßigkeiten kommen, obwohl es dazu natürlich nicht kommen darf. Wichtig ist, dass das DRK
ganz konsequent absolute Offenheit und glaubwürdige Transparenz beweist.“
Genutzt haben solche Appelle bislang wenig. Wer heute bei gemeinnützigen Trägern einen Geschäftsbericht erbittet, erhält vielfach lediglich eine hübsch gemachte,
aber nichts sagende Hochglanz-Broschüre. Oft gibt es aber nicht einmal das – sondern
nur ein freundliches, aber bestimmtes Nein.
Das war schon immer so, da könnt ja jeder kommen ...
Auch von moderner Unternehmensführung und innovativen Managementtools wollen
die wenigsten altgedienten Ehrenamtler etwas wissen – sehr zum Verdruss der jüngeren
Generation. Ein DRK-Funktionär klagte etwa im „SPIEGEL“: „Innovation und Kreativität sind nicht gefragt. In den Leitungsgremien beschließen die Ehrenamtlichen nach
langem Palaver, was die Hauptamtlichen machen dürfen. Jeden neuen Blaulicht-Wagen
finden die Althelfer toll. Aber Computer, um die Einsätze zu optimieren, halten sie für
überflüssig.“
Doch es sind keinesfalls nur die Laien-Funktionäre, die Probleme bereiten. Auch in
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
den oberen Etagen kommen längst nicht alle mit der inzwischen sehr komplexen Rechtslage des deutschen Sozialstaats klar. So berichtete das Magazin „Wirtschaftswoche“ im
Jahr 2001 von einem kuriosen Zwischenfall beim Deutschen Roten Kreuz: Ein Mitarbeiter des Generalsekretariats – immerhin die höchste Verwaltung des Verbands – hatte schlichtweg verschlafen, beim Innenministerium Fördermittel in Höhe von über 600.000 Euro zu
beantragen – und am Jahresende war der Anspruch verfallen. „Als er das Dilemma im
neuen Jahr bemerkte, rief er das Geld einfach ab, als wäre nichts gewesen“, schrieb die
„Wirtschaftswoche“ ein wenig amüsiert. Kurioserweise wurden die Fördermittel vom
Ministerium zunächst trotzdem überwiesen, aufgrund des formalen Fehlers aber kurze
Zeit später wieder zurückgefordert. An dieser Stelle hätte die Aneinanderreihung von Peinlichkeiten eigentlich beendet sein können. War sie aber nicht, denn ob man es glaubt oder
nicht: Die zuständige DRK-Abteilung rückte das Geld einfach nicht heraus – das geschah
erst, nachdem das Präsidium der Rot-Kreuzler von dem Tohuwabohu erfuhr und die Rückzahlung anordnete. „Nun ist nicht nur das Geld futsch. Zusätzlich muss das DRK über
20.000 Euro an Zinsen zahlen“, stellte die „Wirtschaftswoche“ fest.
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4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
Die Konsequenzen solchen Handelns sind alles andere als skurril. Aufgrund der
Inkompetenz und Amateurhaftigkeit ihrer Mitarbeiter steht nämlich vielen Wohlfahrtseinrichtungen das Wasser bis zum Hals – einigen bleibt nicht einmal der Gang zum
Insolvenzgericht erspart. Die wohl spektakulärste Pleite ereignete sich in Berlin, wo der
gesamte Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes im Mai 2001 Insolvenz anmelden musste. Der Grund: Das Management des einstmals 2.700 Mitarbeiter starken Verbandes in der Hauptstadt hatte es zum einen versäumt, Rücklagen für seine Pensionsverpflichtungen zu bilden, und zum anderen durch misslungene Immobiliengeschäfte hohe
Verluste angehäuft.
Da drängt sich die Frage auf, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Warum
muss erst der finanzielle Kollaps eintreten, bevor irgendjemand etwas merkt? Die Antwort ist erschreckend einfach: Wie damals beim DRK Berlin gibt es in vielen Einrichtungen weder eine vernünftige Kostenrechnung noch ein Controlling. Eklatante Unkenntnis der Betriebswirtschaft und des Rechnungswesens seien im Reiche des Guten
und Gemeinnützigen weit verbreitet, konstatierte die Wochenzeitung „Die Zeit“ noch
im Jahr 2001. Viele Verbände rechneten einfach schön säuberlich ihre Ausgaben zusammen und stellten sie den Einnahmen gegenüber – fertig. Doch diese Praxis hat einen
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
folgenschweren Haken: Anhand einer derart simplen Einnahmen-Ausgaben-Rechnung
können selbst gewiefte Betriebswirte künftige Risiken – wie etwa Pensionsverpflichtungen – nicht erkennen. Um eine vorausschauende Wirtschaftlichkeitsrechnung aufzustellen, sind die Daten vieler Sozialeinrichtungen schlichtweg zu wenig aufgeschlüsselt.
Zwar kennen viele Funktionäre die Gesamtkosten ihres Hauses, oft aber haben sie keinerlei Ahnung, wie viel davon in welchen Bereichen entstanden sind. Auch die Ausgaben einer Sozialstation sind meist bekannt; was genau eine Stunde Beratung in Sachen
Familienstreitigkeiten kostet, weiß jedoch kaum jemand.
Mit diesem betriebswirtschaftlichen Schlendrian konnten die Wohlfahrtsverbände
auch deshalb so lange durchkommen, weil es weit und breit keine private Konkurrenz –
und somit keine Vergleichsmöglichkeiten – gab. Wenn Verluste entstanden, sprang stets
der Staat ein. Fehlbedarfsfinanzierung, nennen Experten das etwas euphemistisch – soll
heißen: Die Verbände legen erst mal los, präsentieren anschließend die Rechnung und
die öffentliche Hand zahlt dann die Zeche – jedenfalls soweit die Verbände nicht selbst
mit Einnahmen und Vermögen dafür gerade stehen können. Kein Wunder also, dass sie
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mit einer solchen Bürgschaft im Gepäck kaum Druck verspürten, ihre Dienste möglichst wirtschaftlich zu erstellen.
Die Insolvenzen der vergangenen Jahre haben jedoch gezeigt, dass die unbeschwerten Zeiten endgültig vorbei sind. Überall regiert der Rotstift. Bund, Länder, Kommunen
und Sozialkassen haben nichts mehr zu verschenken: Wohlfahrtspflege ja, aber bitte zu
bezahlbaren Preisen, lautet nun die Devise. Das bekommt die Freie Wohlfahrtspflege an
allen Ecken und Enden zu spüren. In vielen Regionen der Republik werden die Budgets,
etwa für die Jugendhilfe und für Integrationsangebote, drastisch zurückgefahren. Und
statt der anachronistischen Fehlbedarfsfinanzierung werden nun vielfach Leistungspauschalen oder Budgets ausgehandelt. Wer mit den vereinbarten Summen nicht auskommt, der muss eben sehen, wo er Kosten einspart.
Das zeigt Wirkung: Immer mehr Verbände und Einrichtungsträger beginnen, sich
als moderne Wirtschaftsunternehmen aufzustellen. Die Caritas Köln beispielsweise
schreibt auf ihrer Homepage: „Heute muss sich der Caritasverband für die Stadt Köln
wie die anderen Sozialverbände auch als ein marktorientiertes Unternehmen organisieren und entsprechend präsentieren. Er wird an der Professionalität und Fachkompetenz
seiner Hilfeleistungen gemessen. Das kann die Qualität seiner Arbeit fördern, andererden Spagat zum Kernziel der Caritas.“
Die Klage über den „Spagat“ lässt zwar vermuten, dass die Verbände der neuen
Ausrichtung noch skeptisch gegenüberstehen, aber immerhin: Es tut sich was. Begriffe
wie Management und Effizienz umweht nicht mehr der Hauch des Unsozialen; die
Wohlfahrtsverbände lassen sich von Unternehmensberatungen durchleuchten, und ihre
Berührungsängste gegenüber den modernen Instrumenten der Betriebswirtschaft schwinden. Mittlerweile haben praktisch alle großen Einrichtungsträger und Verbände sowie
viele ihrer kleineren Mitstreiter die verstaubte kameralistische Einnahmen-AusgabenRechnung ad acta gelegt und stattdessen die kaufmännische Buchführung eingeführt.
So lobenswert die ersten ökonomischen Gehversuche der Wohltäter auch sind – ein
wirklich modernes Management verlangt mehr. Systematisches Benchmarking etwa,
mit dem Einsparpotenziale identifiziert werden könnten, sucht man in der Branche praktisch vergebens. Vielerorts fehlen dafür auch schlichtweg die Voraussetzungen. Denn
um die Kosten und die Qualität einzelner Angebote miteinander zu vergleichen und
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4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
seits bedeutet die marktwirtschaftliche Orientierung oft einen nur schwer auszuhalten-
dann zu optimieren, benötigen die sozialen Dienstleister ein umfassendes Kennzahlensystem. Doch diese für strategische Entscheidungen wichtigen Daten liegen in den
Verwaltungsetagen meist nicht vor. So tappt zum Beispiel noch mancher Träger in Sachen Auslastung völlig im Dunkeln. Wer jedoch nicht weiß, wie viele Kinder etwa ins
Jugendzentrum kommen, der kann auch nicht sagen, ob dort wirklich jeden Tag drei
Sozialarbeiter Dienst tun müssen.
Insbesondere die Bundes- und Landesverbände weisen die Einrichtungen immer
wieder drauf hin, wie wichtig ein modernes Management in Zeiten leerer Staatskassen
ist. So raten etwa die Caritas und das Diakonische Werk in einer gemeinsamen Handreichung allen Einrichtungen, ein Risikomanagement zu installieren. Das Frühwarnsystem
soll unter anderem die Entwicklung der Tariflöhne, die Qualifikationen der Mitarbeiter,
die Angebots- und die Preisentwicklung am Markt im Auge behalten.
Doch selbst auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Die Funktionäre können nur
Tipps geben – vorschreiben dürfen sie ihren Orts- und Kreisverbänden gar nichts. In den
Zentralen der Bundes- und Landesverbände ist deshalb hinter vorgehaltener Hand immer wieder zu hören, dass wohl erst noch weitere Einrichtungen in die Pleite rutschen
müssen, bevor auch wirklich der letzte Ortsvorsitzende die Zeichen der Zeit erkennt.
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
Die Zweifel im eigenen Haus lassen vermuten, dass der Branche noch ein ebenso
langer wie schmerzhafter Reformprozess bevorsteht. So mancher altgediente Helfer wird
sich dabei von lieb gewonnenen Traditionen verabschieden und auch Tabus über Bord
werfen müssen – zum Beispiel die Vorbehalte gegen Fusionen: Derzeit werkeln viele
Einrichtungen wie auf einsamen Inseln vor sich hin. Weil rechtlich unabhängig, gründet
auch schon mal ein kleiner Stadtverband sein eigenes Krankenhaus oder Altenheim.
Zwar sind viele solcher Einrichtungen viel zu klein, um rentabel betrieben werden zu
können, doch mit der logischen Folge – einer Fusion – tun sich die meisten Verbandsfunktionäre außerordentlich schwer. Nur die wenigsten sind bereit, sich von ihren prestigeträchtigen Einrichtungen zu trennen.
Ähnliche Vorbehalte gelten auch für andere Erkenntnisse der modernen Betriebswirtschaft. Warum zum Beispiel schließen sich nicht mehrere Krankenhäuser einer Region zu Einkaufsgemeinschaften zusammen, um gemeinsam Spritzen, Pflaster und anderes Material einzukaufen und so einen Mengenrabatt auszuhandeln? Oder was spricht
eigentlich dagegen, dass die Bundes- und Landesverbände eine Art Franchising-System
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4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
etablieren, bei dem die Dachorganisationen alles Nötige zentral einkaufen und dann an
ihre Franchising-Nehmer quer durch die Republik weiterreichen?
Es wäre allerdings weder im Interesse der Bundesbürger noch der Wohltäter selber,
bei diesem Reformprozess ausschließlich auf die Kostenseite zu schielen. Vielmehr gilt
es, auch die Qualität der Leistungen im Auge zu behalten. Viele Verbandsmitarbeiter –
Profis wie Ehrenamtliche – machen sich derzeit genau darum Sorgen: Wird nun alles
dem Sparzwang untergeordnet? Werden Nächstenliebe und Menschlichkeit zugunsten
der Betriebswirtschaft geopfert? Die Sorge ist verständlich, aber unnötig. Denn zwischen Effizienz und Qualität, zwischen modernem Management und Barmherzigkeit
muss gar kein Widerspruch bestehen – im Gegenteil: Sie können sich ergänzen. Doch
dafür braucht die Freie Wohlfahrtspflege vor allem eins: ein gutes Qualitätsmanagement.
Genau das aber wird quer durch die Branche sträflich vernachlässigt. Erst wenige
Einrichtungen erkundigen sich bei ihren Kunden nach deren Zufriedenheit oder Wünschen. Klar definierte Daten über Qualität der Leistungen sind die Ausnahme. Stattdessen
verlassen sich die meisten Verbände einfach darauf, mit ihren langjährigen Erfahrungen
schon den Geschmack der Bürger zu treffen. Doch gerade in Bereichen, in denen private
Unternehmen auf den Markt drängen – allen voran die Pflegedienste – ist solch eine Ein-
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
stellung naiv. Weil die Preise für die Pflege alter Menschen bei allen Anbietern eines Bundeslandes in der Regel die gleichen sein müssen, wird der Wettbewerb längst über Qualität
geführt. Wer viel Geld für einen Pflegedienst zahlt, der möchte eben auch freundlich behandelt werden und möglichst einen 24-Stunden-Service nutzen können.
Die steigenden Qualitätsansprüche der Kunden haben für die Verbände auch personelle Konsequenzen: Insbesondere bei den arbeitsintensiven Pflegeleistungen sind sie
verstärkt auf Profis angewiesen. Denn nur die gut ausgebildeten Hauptamtlichen besitzen das nötige Know-how für einen qualitativ hochwertigen Service; nur sie können zu
Weiterbildungen verpflichtet und zu Bereitschaftsdiensten und Nachtschichten herangezogen werden. Mit freiwilligen Helfern dagegen ist das nicht zu machen.
Gebraucht werden die Ehrenamtler aber dennoch. Schließlich haben sie etwas, was
den Profis meist fehlt: Zeit, in der sie sich in Ruhe um die Betreuten kümmern können.
Einen solchen Zusatzservice haben die privaten Anbieter nicht zu bieten – Ehrenamtler
gibt es in ihren Reihen keine. Für die Verbände sind die engagierten Bürger daher ein
echtes Pfund, mit dem sie im Wettbewerb um Kunden wuchern können.
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Allerdings wird es für die Gemeinnützigen immer schwieriger, freiwillige Helfer
längerfristig an sich zu binden. Während die Deutschen den Verbänden in der Vergangenheit quasi lebenslang die Treue gehalten und zu ihrer Verantwortung gestanden haben, sind bei den meisten Jugendlichen von heute eher Freiheit und Selbstverwirklichung angesagt. „Wer sich heute engagiert, will nicht mehr als Ausputzer irgendwo
hingeschickt werden, wo sich der Sozialstaat gerade zu verabschieden droht, sondern
will selbst entscheiden, was er wo wie lange macht“, beschreiben Soziologen und Psychologen den Einstellungswandel. Und die Leiterin eines Bremer Altenheims formulierte es so: „Freiwillige müssen gar nichts. Sie können, wenn sie wollen.“ Darüber
mögen die gestressten Hauptamtlichen klagen – ändern werden sie es nicht. Wie so oft,
wird ihnen nur eines helfen, die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten unter einen Hut zu bringen: ein professionelles Management.
Wohlfahrtspflege im 21. Jahrhundert
Jede Menge neue ältere Kunden, nachwachsende Generationen auf dem Selbstverwirklichungstrip, spitz rechnende Konkurrenz durch private Anbieter aus dem Inund Ausland, klamme Sozialkassen, Vertrauensverlust in der Bevölkerung und ein imDienstleister könnten größer kaum sein. Während viele Funktionäre in den höheren
Verbandsetagen den Reformbedarf bereits erkannt und entsprechende Schritte eingeleitet haben, machen es sich viele der zigtausend selbstständigen Verbandsableger noch
immer in althergebrachten Strukturen gemütlich. In so manchem kleinen Ortsverein
gelten Wohlfahrt und Wirtschaftlichkeit per se als Widerspruch; den einen mangelt es an
Einsicht, anderen fehlt es an Know-how – mancherorts sucht man beides vergebens.
Selbst wenn es den Helfern noch so schwer fällt: Auch gute Taten müssen bezahlt werden können – ansonsten bleibt es bei guten Absichten. Damit aber ist niemandem geholfen. Wenn die Freie Wohlfahrt ihrem eigenen Anspruch auch künftig gerecht werden
will, wird sie nicht umhinkommen, sich so zu verhalten, wie alle anderen Wirtschaftszweige auch:
Interne Kontrolle verbessern. Um Skandale und Misswirtschaft möglichst zu vermeiden, brauchen alle Verbände eine funktionstüchtige Kontrolle. Für die Kreisverbände
und jene Einrichtungsträger, die hohe Umsätze machen und in vielen Geschäftsberei53
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
mer härterer Wettbewerb um Spendengelder – die Herausforderungen für die sozialen
Wohltäter in Nadelstreifen
Das moderne Management der Samariter-Stiftung Nürtingen
Nächstenliebe und unternehmerisches Handeln – für die Samariter-Stiftung im
baden-württembergischen Nürtingen ist das kein Widerspruch. Im Gegenteil: „Für
uns als Dienstleistungsunternehmen zählt wirtschaftliches Handeln unabdingbar
zum diakonischen Auftrag“, schreibt die Stiftung in einer ihrer Broschüren. Die
Mitgliedsorganisation im Diakonischen Werk betreibt in Süddeutschland 31 Einrichtungen – vor allem Altenheime, mobile Pflegedienste und Behindertenwohnheime.
Einen Namen in der Branche haben sich die Samariter gemacht, weil sie den Worten
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auch Taten folgen ließen.
Mittlerweile gelten die modernen Management-Methoden der Stiftung als Paradebeispiel dafür, wie Wohlfahrtsorganisationen den Sprung ins 21. Jahrhundert
schaffen können:
Qualitätsmanagement. Mindestens einmal im Jahr werden die rund 3.700 Kunden in Gesprächen nach ihrer Zufriedenheit befragt. Dann wollen die Manager
wissen: Wie beurteilen sie die tägliche Pflege und soziale Betreuung? Gibt es Schwierigkeiten mit der Hausverwaltung? Schmeckt das Essen? Alle Antworten werden
dokumentiert. Den Verantwortlichen geben diese Befragungen wichtige Anhaltspunkte
für den Planungsprozess: „Die individuellen Interviews helfen uns mehr als anonyme Fragebögen, da wir anschließend genau wissen, wo der Schuh drückt“, erklärt
Eberhard Goll, Geschäftsführer der Samariter-Stiftung. Und wo der Schuh drückt,
da greifen die Manager ein. Beschweren sich beispielsweise viele Heiminsassen
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über die Leistungen der externen Wäscherei, dann wechselt die Stiftung halt den
Anbieter.
Benchmarking. Die Kundenbefragungen ermöglichen zudem den ständigen Vergleich der 31 Einrichtungen. Dieses so genannte Benchmarking liefert nicht nur Informationen über Stärken und Schwächen der einzelnen Heime, sondern fördert auch
einen gesunden Wettbewerb unter den Einrichtungen – zugunsten der Kunden.
Personalcontrolling. Regelmäßig dokumentiert die Stiftung Mitarbeiterzahlen
und Fachkräftequoten, Fehlzeiten sowie Kündigungsgründe. Die Informationen sollen
Aufschlüsse über die Zufriedenheit der rund 2.200 Mitarbeiter geben. Schließlich
sind die Samariter auf motiviertes Personal angewiesen, um eine hochwertige Betreuung zu garantieren.
Finanzcontrolling. „Wir erbringen unsere Leistungen wirtschaftlich, indem wir
das Verhältnis von Kosten und Nutzen optimieren“, heißt es auf der StiftungsHomepage ambitioniert. Zu diesem Zweck wurde das Rechnungswesen auf die kaufmännische Buchführung umgestellt. Zudem überwachen die hausinternen Finanzexperten ständig die Ausgaben der Stiftung. Laufen beispielsweise die Sachkosten
für Lebensmittel, Energie oder Medikamente während des Geschäftsjahres aus dem
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Ruder, wird Alarm geschlagen. Als zweites Frühwarnsystem fungiert weiterhin eine
Belegungsstatistik, die Rückschlüsse auf die zukünftige Auslastung der Einrichtungen zulässt.
Transparenz. In Sachen Transparenz haben die Süddeutschen erst einen vorsichtigen Schritt gewagt: Seit kurzem veröffentlicht die Stiftung im Rahmen einer
Jahrespressekonferenz zumindest ihre Bilanzsumme (2002: 143 Millionen Euro) und
einige andere Kennzahlen wie etwa die Belegschaftsgröße.
Diese betriebswirtschaftlichen Reformen zahlen sich für die Samariter aus. Wegen des guten Rufes in Fachkreisen falle es der Stiftung beispielsweise leichter als
der Konkurrenz, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, erklärt Geschäftsführer Goll.
Und auch im Ringen um staatliche Fördermittel habe man Wettbewerbsvorteile.
Schließlich wüssten Staat und Kassen, dass die öffentlichen Gelder bei den Samaritern effizient verwendet werden.
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chen aktiv sind, heißt das: Sie müssen eine Innenrevision einrichten und ihre Jahresabschlüsse von unabhängigen Experten überprüfen lassen. Für die vielen kleinen Verbände mag sich eine solch kostspielige Kontrolle nicht immer lohnen – das Pi-mal-Daumen-Prinzip ist trotzdem keine Alternative. Deshalb könnten alle Kreis- und Ortsverbände
verpflichtet werden, ihre Bücher zum Beispiel von den Experten der Bundesverbände
checken zu lassen – nicht zuletzt, um gegebenenfalls rechtzeitig vor absehbaren Entwicklungen (wie steigenden Personalkosten oder Pensionsverpflichtungen) gewarnt zu
werden. Unabhängig davon muss das wirtschaftliche Gebaren der Vorstände beziehungsweise der Geschäftsführungen – wo immer möglich – durch ein Aufsichtsgremium überwacht werden. Diese professionelle und unabhängige Kontrollinstanz ist mit klaren Kompetenzen auszustatten: Sie soll kontrollieren, aber nicht in jede einzelne Entscheidung
reinreden.
Transparenz stärken. Weil die Freie Wohlfahrtspflege jedes Jahr Milliardensummen
von den Bundesbürgern einkassiert – in Form von Zuschüssen, Leistungsentgelten und
Spenden – hat die Öffentlichkeit ein Recht auf Informationen darüber, was mit dem
Geld passiert. Wenn die Sozialeinrichtungen nicht freiwillig dazu bereit sind, muss der
Gesetzgeber sie dazu verpflichten. Dass es auch anders geht, hat die Privatwirtschaft
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
bereits vorgemacht: Vor einiger Zeit formulierte eine Regierungskommission mit hochrangigen Unternehmenslenkern den so genannten Corporate Governance Kodex. Darin
führen die erfahrenen Manager detailliert aus, wie sich ein vorbildliches Unternehmen
in Sachen Transparenz verhalten sollte – wohlgemerkt: sollte! Denn viele Aspekte sind
lediglich Empfehlungen und keineswegs gesetzlich vorgeschrieben. Solch ein Kodex
wäre auch für die Freie Wohlfahrtspflege denkbar – sozusagen ein Knigge für Wohltäter. Stoßrichtung: Die gemeinnützigen Verbände und Einrichtungsträger verpflichten
sich freiwillig, aussagekräftige Jahresabschlüsse zu veröffentlichen und ihre Geschäftslage allgemein verständlich zu beschreiben. Darüber hinaus könnten sich die Profi-Samariter bereit erklären, flächendeckend Aufsichtsräte einzurichten, deren Mitglieder eventuelle Interessenkonflikte wie etwa Mitgliedschaften in Parteien oder anderen Unternehmen offen legen.
Effizienz verbessern. In Zeiten knapper öffentlicher Gelder und zunehmenden Wettbewerbs ist die Freie Wohlfahrtspflege gehalten, effizienter zu arbeiten. Wo sich Kosten
einsparen lassen, kann unter anderem durch Benchmarking herausgefunden werden –
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4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
also durch einen Kosten- und Qualitätsvergleich mehrerer Einrichtungen. Große Verbände und Träger, die mehrere Krankenhäuser oder Pflegeheime betreiben, können das
allein initiieren. Bei den kleineren Verbünden sollten die Landesverbände die Vergleiche organisieren – eventuell auch über die Landesgrenzen hinweg. Zudem benötigt die
Freie Wohlfahrtspflege ein detailliertes Berichtswesen: Die Verbände müssen dokumentieren, welche Ausgaben und Einnahmen sie haben, wo und wie viel sie künftig investieren wollen, in welchen Einrichtungen Renovierungsarbeiten zu erwarten sind und wie
ihr Vermögen angelegt ist. Nur wenn solche Informationen auf dem Tisch liegen, können die Funktionäre tragfähige Entscheidungen treffen – zum Beispiel darüber, ob der
Bau eines weiteren Pflegeheims nötig ist und auch finanziert werden kann.
Qualitätsmanagement. Den Vorwurf, ihre Kosten seien zu hoch, hat die Freie
Wohlfahrtspflege stets gekontert: Dafür sei halt die Qualität ihrer Dienstleistungen top.
Doch ob die Kunden wirklich so zufrieden sind, steht in den Sternen – systematische
Befragungen jedenfalls sind seltene Ausnahmen. Die Wohlfahrtsverbände sollten daher
regelmäßig abfragen, was die Patienten von den Heimen halten oder wie die Hilfesuchenden mit den Beratungsstellen klargekommen sind.
Professionalisierung. Ob es nun um Qualitätsmanagement, Benchmarking, Perso-
4. Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst
nalentwicklung oder um ein transparentes Rechnungswesen geht – insbesondere für die
vielen ehrenamtlichen Vorstände sind das bisher noch böhmische Dörfer. Daraus ist
ihnen auch kein Vorwurf zu machen – schließlich kann nicht jeder auf allen Gebieten
firm sein. Da die Wohlfahrtsbranche inzwischen jedoch längst ein umsatzstarker
Wirtschaftsfaktor ist, muss sie sich um eine professionelle Leitung bemühen – Leute
vom Fach, die sich nicht nur mit guten Taten auskennen, sondern auch mit erfolgreicher
Unternehmensführung.
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5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt:
Konkurs oder Konkurrenz?
Bringt man all die großen und kleinen Zusammenhänge, die in den bisherigen Kapiteln beschrieben wurden, auf den kleinsten Nenner, so lautet dieser: Mit jedem Jahr,
das ins Land zieht, werden die Deutschen ihre sozialen Dienste mehr brauchen als je
zuvor, während es gleichzeitig schwieriger und schwieriger wird, die wachsende Nachfrage zu finanzieren. Und für diese Herausforderung sind viele Anbieter sozialer Dienstleistungen noch unzureichend gerüstet: Protegiert durch die Nähe zur Politik, oft
unprofessionell gemanagt und weitgehend unkontrolliert arbeiten die Verbände mit ihren Einrichtungen vor sich hin.
Die 1-Million-Euro-Frage heißt nun: Wie renoviert man eine träge Branche mit
nicht weniger als 100.000 weitgehend selbstständigen Einrichtungen und insgesamt fast
1,3 Millionen Beschäftigten und gut noch einmal so vielen Ehrenamtlichen. Wie können Caritas, Diakonie, AWO, Rotes Kreuz und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband auch in Zeiten knapper öffentlicher Gelder dazu angespornt werden, qualitativ
hochwertige soziale Dienstleistungen anzubieten, die sowohl bei den Menschen gut ankommen, als auch bezahlbar sind? Bei der Suche nach Antworten lohnt sich ein kurzer
Blick auf den Markt für Telekommunikation.
alles, was mit dem Telefonieren zu tun hatte. Jahrzehntelang nahm der Gesetzgeber die
Monopol-Behörde unter seine Fittiche und lehnte jeden Wettbewerb kategorisch mit dem
Argument ab, bei den Leistungen der Post handele es sich um einen Teil der „staatlichen
Daseinsfürsorge“. Ein hehres und edles Anliegen, könnte man meinen. Die älteren Bundesbürger werden sich jedoch erinnern, was diese vermeintliche Fürsorge in Wahrheit
bedeutete: Träge Beamte, die den Bürger wie einen Bittsteller behandelten; ein neuer
Telefonanschluss konnte schon mal Monate auf sich warten lassen, und wenn der Apparat
dann geliefert wurde, hatte man die Wahl zwischen Hellgrau, Grün und Schwarz. Ein
Ortsgespräch, heute schon für 1 Cent zu haben, kostete damals mehr als das Zehnfache,
bei Fern- oder gar Auslandsgesprächen galt die eiserne Regel: Fasse dich kurz, sehr kurz.
Dann geschah das zuvor Undenkbare – das Monopol fiel, die Märkte wurden freigegeben. Und siehe da: Kaum hatte der Staat seine angeblich so soziale Daseinsfürsorge
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5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt
Vor nicht allzu langer Zeit war die gute alte Deutsche Post noch allein zuständig für
drangegeben, funktionierte plötzlich alles viel besser. Ein neuer Telefonanschluss ist
heute eine Frage von Stunden; wer will, kann sogar von Gespräch zu Gespräch einen
anderen Anbieter wählen; die privaten Kommunikationsunternehmen überbieten sich
gegenseitig mit immer neuen Offerten, und die Qualität der Technik und der Dienstleistungen ist so sprunghaft gestiegen, wie die Preise gefallen sind. Heute kann jeder Bundesbürger an der eigenen Telefonrechnung ablesen, was Ökonomen seit Jahr und Tag
predigen: Konkurrenz belebt das Geschäft, denn der Wettbewerb animiert die Unternehmen, sich nach den Wünschen der Kunden zu richten.
Warum sollte also auf dem Markt für gute Taten nicht gehen, was beim Geschäft mit
Telefongesprächen sehr gut funktioniert? Wieso sollte der Wettbewerb nicht dafür sorgen, dass Schwung in den festgefahrenen Sozialsektor kommt?
Aller Abschied fällt schwer – besonders von alten Pfründen
Gegen solche Überlegungen wenden Wettbewerbskritiker in den Reihen der Wohlfahrtsverbände jedoch immer das Gleiche ein: Die Betreuung von schwachen Menschen
sei mit normalen Dienstleistungen und Gebrauchsgütern nicht zu vergleichen. Schließlich könne niemand von Senioren, Behinderten, Kindern oder Abhängigen erwarten,
dass sie sich selbstbewusst gegen ihre Betreuer zur Wehr setzen oder sogar den Anbieter
wechseln – wie das etwa souveräne Kunden einer miesen Telefongesellschaft oder einer
5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt
schlechten Autowerkstatt tun können. Schon deshalb bleibe dem Staat förmlich gar nichts
anderes übrig, als die Menschen vor solchen Anbietern in Schutz zu nehmen, sprich: die
Wohlfahrtsbranche der Marktwirtschaft zu entziehen.
Eins ist bei dieser Argumentation nicht von der Hand zu weisen: Leider werden
Senioren, Kranke und Behinderte zuweilen tatsächlich vernachlässigt. Doch all dies hat
nichts, absolut nichts mit Kategorien wie „privat“ oder „gemeinnützig“ zu tun. Schwarze Schafe gibt es bekanntlich überall, das rechtfertigt noch lange kein Wettbewerbsverbot. Im Gegenteil: Über kurz oder lang wird der Wettbewerb dafür sorgen, dass Anbieter, die ihre Kunden nicht wie Könige behandeln, vom Markt verschwinden. Denn
auf dem sensiblen Feld der sozialen Dienstleistungen wachen gleich drei Schiedsrichter
über das Fairplay:
Fürsorgliche Angehörige. Es gehört zu den vielen Ammenmärchen in unserer auf
Jugendwahn getrimmten Gesellschaft, alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen
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per se als wehr- und hilflos abzustempeln. Die meisten können jedoch sehr wohl eigene
Entscheidungen treffen. Und selbst wenn sie eines Tages tatsächlich nicht mehr dazu in
der Lage sind, gibt es vielfach immer noch Angehörige, Bekannte und Freunde, die
darauf achten, dass diese Menschen in ihren Alten- oder Pflegeheimen in guten Händen
sind. Diese „private“ Kontrolle funktioniert in „privaten“ Einrichtungen genauso gut
wie in „gemeinnützigen“.
Freiwillige Qualitätskontrolle. Tue Gutes und rede darüber – auch das gehört zu
einem befruchtenden Wettbewerb. Gerade gute Einrichtungen haben ein Interesse, sich
von den schwarzen Schafen abzuheben; also könnten sie zum Beispiel freiwillige
Qualitätssiegel ins Leben rufen und veröffentlichen – ein Instrument, das es auf dem
Spendenmarkt bereits gibt.
Staatliche Kontrolle. Obwohl sich der Staat so weit wie möglich zurückhalten
sollte, wird er selbstverständlich auch weiterhin ein Auge auf wichtige Bereiche des
Sozialstaats werfen – etwa auf die Arbeit der Pflegeheime, Krankenhäuser und Ret-
Spenden-Siegel:
Orientierungshilfe im Almosendschungel
Auf dem deutschen Spendenmarkt herrscht harte Konkurrenz. Mehr als 250.000
gemeinnützige Vereine und Stiftungen kämpfen um ihren Anteil am stagnierenden
Almosenkuchen. Doch nicht alle, die um milde Gaben bitten, arbeiten seriös und
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setzen ihre Mittel im Sinne der Spender ein. Um den Bundesbürgern Orientierungshilfe im Wohltätigkeitsdschungel zu geben, hat das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen (DZI) eine Art TÜV für Spenden sammelnde Organisationen entwickelt, der seit 1992 ein „Spenden-Siegel“ vergibt. Den Qualitätsnachweis erhält,
wer anerkannt gemeinnützig arbeitet, wahre und sachliche Werbung macht, die Mittel nachprüfbar sowie sparsam verwendet, eine nachvollziehbare Rechnungslegung
führt und ein unabhängiges Aufsichtsorgan eingerichtet hat, das die Führungsspitze der Organisation überwacht. Zudem besteht das DZI darauf, dass grundsätzlich
keine Prämien oder Provisionen für die erfolgreiche Vermittlung von Spenden gezahlt werden. In einem Spenden-Almanach werden die derzeit 176 positiv beurteilten Organisationen aufgelistet. Diese müssen das Siegel jedes Jahr neu beantragen.
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tungsdienste. Gebraucht wird allerdings eine neue Form der Kontrolle. Derzeit versucht der Gesetzgeber noch, die Qualität mittels Vorschriften und Paragraphen zu sichern. In der Heimmindestbauverordnung zum Beispiel ist detailliert vorgegeben, wie
ein Altenwohnheim auszusehen hat. Kostprobe: „Wohnplätze für eine Person müssen
mindestens einen Wohnschlafraum mit einer Wohnfläche von 12 Quadratmetern, ferner eine Küche, eine Kochnische oder einen Kochschrank umfassen und über einen
Sanitärraum mit Waschtisch mit Kalt- und Warmwasseranschluss und Spülklosett verfügen.“ In diesem Stil geht es weiter – doch was, bitte, sagt eigentlich die Größe eines
Zimmers über die Qualität eines Heims und dessen Personal aus? Sicher, bestimmte
Standards müssen eingehalten werden, mindestens genauso wichtig sind aber Erhebungen und Kontrollen (und gegebenenfalls Sanktionen) etwa in Sachen Kundenzufriedenheit oder Krankheiten. Viel entscheidender als die Bedingungen, unter denen die sozialen Dienstleister zu arbeiten haben, sind die Ergebnisse, die dabei herauskommen.
Und die werden bei privaten Anbietern per se sicherlich nicht schlechter sein als bei
den Unternehmen mit dem staatlichen Siegel der Barmherzigkeit. Denn wer gutes Geld
verdienen will, der wird auch gute Leistungen anbieten. Oder wie es der schottische
Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith schon im 18. Jahrhundert formulierte: „Wir
erwarten unser Essen nicht von der Wohltätigkeit des Fleischers, Brauers oder Bäckers,
Vor dem Wettbewerb sollte sich also keiner fürchten – außer so mancher unfreundliche und teure Wohlfahrts-Dienstleister. Die Einwände der Kritiker müssen daher wohl
vor allem als der Versuch gewertet werden, alte Pfründe zu sichern, welche die Freie
Wohlfahrtspflege noch immer genießt:
•
Subventionen. Mittwoch für Samstag, Woche für Monat, Jahr für Jahrzehnt – jedes
Mal, wenn sich die staatlichen Lostrommeln drehen, hoffen Millionen Lottospieler auf
den großen Wurf. Und tatsächlich, nahezu jede Woche wird ein neuer Millionär gekürt
– die große Mehrheit aber geht entweder leer aus oder muss sich mit kleineren Gewinnen bescheiden und weiter hoffen. Genau von dieser Hoffnung leben die Vertreter der
Wohlfahrtsbranche – solange gewettet wird, gehören sie nämlich immer zu den Gewinnern, überweisen doch die Lotteriegesellschaften den Verbänden regelmäßig einen gehörigen Teil ihrer Einnahmen. Warum auch nicht. Schließlich lässt sich überhaupt nichts
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sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“
dagegen einwenden, wenn sogar noch mit dem Pech beim Glücksspiel etwas Gutes getan werden kann.
Völlig unverständlich ist aber, dass private Anbieter sozialer Dienstleistungen bei
dieser großen Umverteilung in die Röhre gucken: Obwohl sie ganz genau dasselbe machen, bekommen sie keinen einzigen Cent. Die Wohlfahrtsverbände dagegen streichen
jedes Jahr Millionen ein. Die Westdeutsche Lotterie zum Beispiel überwies den Gemeinnützigen im Jahr 2002 fast 30 Millionen Euro; das Land Niedersachsen greift ihnen zwischen 1999 und 2009 mit sage und schreibe 250 Millionen Euro unter die Arme.
•
Spenden. Man nehme ein Pflegeheim, verleihe ihm das Siegel „gemeinnützig“ oder
„kirchlich“ – und fertig ist der Spendenapparat. Das gleiche Haus kann „privat“ betrieben keinen einzigen Cent Spenden steuerlich absetzen. Diese indirekte staatliche Bevormundung und Steuerung spendenwilliger Bürger ist umso unverständlicher, als das
Etikett „gemeinnützig“ allein rein gar nichts bedeutet. Erinnert sei nur an die zahlreichen Beispiele von Missmanagement, Betrug und Verschwendung im vorherigen Kapitel – hier waren die „Gemeinnützigen“ alles andere als nützlich.
•
Zivildienstleistende. Falls die Wehrpflicht aufgehoben wird, fällt auch der Zivil-
dienst. Doch solange es den Ersatzdienst noch gibt, haben die Wohlfahrtsverbände auch
hier einen Wettbewerbsvorteil. Denn die rund 80.000 jungen Männer, die derzeit bei
Caritas, AWO & Co. ihren Zivildienst leisten, sind vor allem eins: kostengünstig. Wäh-
5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt
rend sich die Arbeitskosten für einen ausgebildeten Pflegehelfer auf monatlich knapp
3.000 Euro summieren, belastet ein Zivi die Budgets gerade einmal mit 700 Euro. Selbst
wenn man berücksichtigt, dass die Jung-Helfer weniger produktiv sind als ausgebildete
Fachkräfte, bleibt nach Schätzungen von Experten noch ein Kostenvorteil von bis zu
200 Prozent. Private Anbieter haben dagegen das Nachsehen – sie dürfen keinen einzigen Zivi beschäftigen.
•
Steuervorteile. Im Gegensatz zur privaten Konkurrenz sind die Einrichtungen der
Freien Wohlfahrtspflege von einigen Steuern befreit – zum Beispiel von der Körperschaftsteuer.
Sollen private Unternehmen den trägen Verbänden Zunder machen, dann gehören
diese wettbewerbsverzerrenden Regelungen schleunigst in den Reißwolf. Wie das gehen
kann, haben Experten wie Dirk Meyer von der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität
der Bundeswehr bereits durchbuchstabiert: Entscheidend für den Zugang zu Steuerver64
günstigungen, Subventionen, Spenden und Zivis darf nicht mehr das Kriterium der „Gemeinnützigkeit“ sein – die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die erbrachten Dienstleistungen sozialen Zielen dienen. Im Klartext: Ausnahmslos alle, die alte Menschen pflegen,
Kranke versorgen oder Hilfesuchende beraten, kommen in den Genuss der staatlichen
Unterstützungen – egal, ob sie nun private Anbieter sind oder mildtätige Vereine.
Gefördert werden müssen die Menschen – nicht die Institutionen
Letztlich aber sind all die Subventionen und Vergünstigungen für die Wohlfahrtsbranche nur Symptome einer viel gefährlicheren Krankheit: der unheilvollen Zweisamkeit von Staat und Verbänden. Solange Politiker, Beamte, Kassenvertreter und Wohlfahrtsrepräsentanten zusammenarbeiten, kann kein fairer Wettbewerb in Gang kommen. Diesen Closed Shop gilt es zu öffnen. Die Zauberformel hierfür heißt Subjektförderung,
und die Idee dahinter ist sowohl einfach als auch wirksam: Statt wie bisher die Fördermittel
und Leistungsentgelte an die Wohlfahrtseinrichtungen zu überweisen, zahlt der Staat
das Geld direkt an die hilfsbedürftigen Menschen – und die entscheiden dann in Eigenregie, welche sozialen Dienste sie damit einkaufen.
Beispiel ambulante Pflege: Die Senioren erhalten monatlich einen festen Betrag
vom Staat, über den sie frei verfügen können. Möchten sie lieber vom italienischen
Restaurant nebenan bekocht werden statt von einem gemeinnützigen Lieferservice wie
in den Gelben Seiten oder im Internet einen günstigeren Pflegedienst auftut als seinen
bisherigen, der wechselt einfach und leistet sich von dem eingesparten Geld zum Beispiel noch eine Putzhilfe.
Ähnliche Konzepte sind in vielen Bereichen des Sozialstaats denkbar. Alleinerziehende bekommen einen Zuschuss zu den Kindergartengebühren, Gehbehinderte einen
Festbetrag für ihre Krankenfahrten und so weiter und so fort. Wichtig ist: Es sind die
Menschen, die entscheiden, welche Dienstleistungen sie in Anspruch nehmen und wie
viel sie dafür zu bezahlen bereit sind – und nicht das eingespielte Duo aus Staat und
Verbänden. Deren Klüngel hätte damit ein Ende, denn die Wohlfahrtsbranche müsste
fortan ihre Kunden umwerben, nicht die Politiker.
Statt Vitamin B zählen nun gute Preise und attraktive Leistungen. Ausgaben, welche die Kosten hochtreiben ohne die Qualität zu verbessern, können sich die Verbände
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„Essen auf Rädern“ – kein Problem, dann bekommt halt die Pizzeria das Geld. Und wer
damit nicht mehr leisten – sprich: die Zeiten der Verschwendung, der aufgeblähten Verwaltungen und der unwirtschaftlichen Materialeinkäufe sind passé. Gleichzeitig müssen sich die Einrichtungen über ihre Einnahmen finanzieren, denn der Staat gibt weder
Zuschüsse noch begleicht er entstandene Defizite. Angebote, die kein Mensch braucht,
etwa verwaiste, völlig überdimensionierte Beratungsstellen, werden daher bald ihre Türen
schließen müssen.
Angesichts solcher Aussichten ist es nur logisch, dass die Idee von der Subjektförderung in den Reihen der Wohlfahrtsverbände nicht unbedingt auf viel Gegenliebe
trifft. Dabei bietet dieses Konzept auch für sie Vorteile. Beispiel Bürokratie: Derzeit
müssen die Einrichtungen nachweisen, was sie mit den öffentlichen Mitteln machen.
Zahlreiche Berichte der Landesrechnungshöfe haben gezeigt, dass die meist von ökonomischen Laien geführten Einrichtungen damit offenbar überfordert sind. Kommt das
Geld dagegen direkt von den Kunden, werden solche Verpflichtungen überflüssig. Dadurch erhalten die Wohltäter zudem mehr Handlungsspielraum. Denn momentan knüpft
der Staat seine Fördermilliarden an Auflagen. So können die gemeinnützigen Träger ein
staatlich gefördertes Pflegeheim zum Beispiel nicht mal eben in ein Krankenhaus umwandeln – denn dann müssten sie die Zuschüsse zurückzahlen. Im Rahmen der Subjektförderung dagegen redet der Branche niemand in ihre unternehmerischen Entscheidungen rein – abgesehen natürlich von den Kunden.
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Eine Sinnkrise steht allerdings den Spitzenverbänden bevor, verliert doch ihre Lobbyarbeit nun an Bedeutung. Doch auf die Funktionäre warten neue Aufgaben: Schon in der
Vergangenheit sind insbesondere die Bundesverbände mit guten Vorschlägen zum Thema „betriebswirtschaftliche Reformen“ aufgefallen. Künftig könnten sich die Mitarbeiter daher vor allem als Unternehmensberater für ihre Kreis- und Ortsverbände profilieren – anstatt bei der Politik um immer neue Fördermilliarden zu buhlen.
Das Wohlfahrtskartell hat ausgedient
Erste Gehversuche in Richtung Subjektförderung gibt es bereits. Die Hansestadt
Hamburg zum Beispiel drückt mittlerweile den Eltern Kita-Gutscheine in die Hand, mit
denen sie ihre Kids in einer Tagesstätte ihrer Wahl unterbringen können. Zwar gab es bei
der Einführung Anlaufschwierigkeiten, doch sind diese in erster Linie darauf zurückzuführen, dass es gleichzeitig drastische Mittelkürzungen gegeben hat.
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Bons für Kids –
Das Hamburger Kita-Gutschein-System
Seit August 2003 versucht Hamburg mit einem neu konzipierten Kita-GutscheinSystem, den Wettbewerb in Sachen Kinderbetreuung auf Touren zu bringen. Die
Grundidee ist einfach: Alle Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt
erhalten vom Jugendamt einen Gutschein für eine bestimmte Stundenzahl an Betreuung. Diesen Coupon können die Eltern dann Hamburg-weit in einem Kindergarten einlösen. Die Einrichtung wiederum reicht den Betreuungsbon an die Stadt
weiter und erhält dafür ein festgelegtes Entgelt. Dieses Gutschein-System hat gleich
mehrere Vorteile:
Mehr Kundennähe. Die Einnahmen der Kindergärten hängen nun davon ab,
wie viele Kids sie betreuen. Sollten Defizite anfallen, steht die Stadt dafür nicht
mehr gerade. So werden die Einrichtungen zu einem verantwortungsvolleren Wirt-
5. Die Zukunft der Freien Wohlfahrt
schaften animiert. Gleichzeitig müssen sie auch versuchen, mit ihren Angeboten
möglichst viele „Kunden“ von sich zu überzeugen, wodurch in der Hansestadt ein
breiteres Angebot an Betreuungsleistungen entstehen dürfte. Merken die Einrichtungen beispielsweise, dass in ihrem Stadtteil eine ganze Reihe berufstätiger Eltern
ihre Sprösslinge auch gerne am Nachmittag versorgt sähe, können die Kindergärten darauf reagieren und ihre Öffnungszeiten bis 16 oder 17 Uhr ausdehnen.
Größere Chancen für private Anbieter. Eine selektive Finanzierung, die Kitas
der Stadt oder der Wohlfahrtsverbände bevorzugt, gibt es nicht mehr. Stattdessen
kann jeder Anbieter, der bestimmte Qualitätsvorgaben – etwa Mindestöffnungszeiten
oder eine ausreichende Personalausstattung – erfüllt, eigene Einrichtungen eröffnen. Hauptsache, sie kommen bei Eltern und Kindern an.
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Noch einen Schritt weiter in Sachen Subjektförderung ist der Gesetzgeber im Bereich der Behindertenhilfe gegangen. Statt Sachleistungen zu gewähren, dürfen die Sozialämter den Behinderten seit kurzem ein persönliches Budget auszahlen. Mit dem
Geld können die Betroffenen dann soziale Dienstleistungen einkaufen, die sie für ihren
Alltag brauchen – etwa Haushaltshilfen, Begleitpersonen oder auch Dolmetscher für
Taubstumme. Bislang wird das Konzept erst in einigen Modellregionen erprobt, so etwa
in Niedersachsen. Die Landesregierung in Hannover verspricht sich von dem Budget
insbesondere mehr Konkurrenz unter den Anbietern – zum Vorteil aller: Der Wettbewerb werde sich „zugunsten der Kostenträger regulierend auf die Preisgestaltung auswirken“ und zugleich „die Wahlmöglichkeiten der Budgetnehmer erhöhen“, schreibt
das zuständige Ministerium. Auch auf Seiten der Behinderten herrscht eine frohe Erwartungshaltung. So jubelte etwa die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL):
„Endlich können Behinderte wie Verbraucher agieren und den Anbieter von Hilfeleistungen, der ihren Bedürfnissen entspricht, auswählen.“ Gleichzeitig müssten sich die
Dienste in der Behindertenhilfe auf das veränderte Kundenverhalten einstellen und lernen, Menschen mit Behinderungen als das wahrzunehmen, was sie sind: Kunden wie
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alle anderen auch.
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-602-14668-5
Gefördert mit Mitteln der informedia-Stiftung – Gemeinnützige
Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik Köln
Herausgegeben vom
Institut der deutschen Wirtschaft Köln
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Text: Klaus Chevalier
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Fachliche Beratung: Dr. Dominik Enste
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