Manuskript

1
Freitag, 27.05.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning
Großer Wurf
Max Reger
Das gesamte Orgelwerk Vol. 4
Bernhard Buttmann
OEHMS CLASSICS OC 054 (4 CDs)
Spektakuläre Erstveröffentlichungen
Martha Argerich
Early Recordings
Mozart, Beethoven, Prokofjew, Ravel
DG 479 5978
Lohnende Ausgrabung
Crudo Amor
Agostino Steffani
Arien & Duette
Eugenia Boix (Sopran)
Carlos Mena (Countertenor)
Ensemble Forma Antiqua
Aarón Zapico
WINTER & WINTER 910 231 (edel)
Hinreißend musiziert
From My Homeland
czech impressions
Miniaturen von Suk, Smetana, Dvořák, Janáček, Martinů
Werner von Schnitzler (Violine)
Cosmin Boeru (Klavier)
Ars Produktion ARS 38 184 (Note 1)
Saftig, schmissig, transparent
Antonín Dvořák
Overtures
PKF – Prague Philharmonia
Jakub Hrůša
PENTATONE PTC 5186 532 (Naxos)
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Eleonore Büning, ich grüße Sie!
Im wunderschönen Monat Mai, da jährte sich der Todestag des großen Komponisten Max
Reger zum 100. Mal. Und was konnte man da allenthalben über ihn lesen? Witze und lustige
Anekdoten, von einem maßlosen, kompromisslosen, bissigen, übergewichtigen,
pathetischen alten Kauz, den niemand je richtig leiden konnte. Und was kriegte man von
Max Reger allenthalben zu hören? Seine angeblich kompromisslose, maßlose,
übergewichtige Orgelmusik:
Max Reger: Präludium h-Moll op. 129 Nr. 8
2:25
Übergewichtig, das ist dieses kurze Präludium op. 129 Nr. 8 von Max Reger ganz sicher
nicht! Es endet in einem wunderlich eingedunkelten Dur, steht aber eigentlich in der Tonart
h-Moll. Wieso klingt dieser Dur-Schlussakkord, mit seiner langen Fermate, so fremdartig?
Das liegt wohl an der dramatischen Wendung, die diese Musik genommen hatte! Leicht,
transparent, so hatte das Stück begonnen. Kapriziös und charmant, also: ganz „unregerisch“.
2
Da plötzlich stürzte eine barocke, rhetorische Figur der Verzweiflung herein, eine
absteigende Bassfigur, ein Einbruch, ja, ein Abgrund, von Schubertschem Format. Für den
Gottesdienst ist so etwas eher ungeeignet: zu extrem. Zu beunruhigend. Wie Reger es mit
der Religion hielt, er, der als Katholik so viele protestantische Choräle bearbeitet hat, steht
dahin. Aber fest steht auch: Er war es, der die romantische Subjektivität der absoluten Musik,
die sinfonischen Gedanken von Schubert, Brahms, Mahler in die Orgelmusik hineintrug. Das
hört man, in diesem Präludium h-Moll op. 129 Nr. 8. Gespielt wurde es von Bernhard
Buttmann, an der Link-Orgel in der Pauluskirche zu Ulm.
Vor sieben Wochen, planmäßig pünktlich zum Reger-Jahr, vollendete Bernhard Buttmann,
Kirchenmusikdirektor in Nürnberg, sein Riesenwerk; er legte die vierte und letzte CD-Box
seiner Reger-Edition vor. Das ist die erste Aufnahme heute in „SWR2 Treffpunkt Klassik –
Neue CDs“. Außerdem möchte ich Ihnen vorstellen: Early Recordings – unbekannte frühe
Aufnahmen – mit der Pianistin Martha Argerich; Duett-Kantaten von Agostino Steffani; einen
wunderbaren, wenn auch nicht mehr ganz jungen Geiger: Werner von Schnitzler mit
tschechischen Impressionen – und Jakub Hrůša und die Philharmonia Prag mit DvořákOuvertüren.
Zurück zu Reger. Dass ein einziger Organist das komplette Gesamtwerk Regers für Orgel
einspielt, das hatte es bis jetzt noch nicht gegeben. Stilistisch und spieltechnisch sind
nämlich die Anforderungen an die Interpreten legendär schwer. Weshalb, zum Beispiel, das
Label NAXOS seinerseits seine Gesamtaufnahme auf die Schultern verschiedener
Organisten verteilt hatte. Buttmann dagegen bietet, beim Label OEHMS, in vier Etappen und
auf insgesamt 16 CDs, das gesamte Orgelschaffen Regers aus einer Hand: Er spielte die
Werke chonologisch ein, je nachdem teils an modernen Orgeln, die der visionären
Klangvorstellung Regers eher entsprechen, aber teils benutzte Buttmann auch ältere Orgeln,
wie Reger sie gewohnt war zu spielen – oder gar solche, an deren Pult Reger einst selbst
gesessen hatte. Ein raffiniertes Konzept; es basiert auf tiefer Kenntnis der differenzierten
Regerschen Musik und geht auch voll auf. Für die späte Fuge fis-Moll op. 73 zum Beispiel,
die entschieden nicht kammermusikalisch gedacht ist, vielmehr in chromatischer Überfülle
den barocken Spaltklang beschwört, wählte Buttmann die viermanualige Sauer-Orgel von
1910 aus dem Berliner Dom.
Max Reger: Fuge fis-Moll op. 73
5:05
Bernhard Buttmann spielte die Fuge fis-Moll aus op. 73 von Max Reger. Dass so etwas eine
Zumutung für die Interpreten sei, das gab Reger selbst zu. „Meine Orgelsachen sind
schwer“, schreibt er um 1900 an seinen Freund, den Organisten Gustav Beckmann, „es
gehört ein über die Technik souverän herrschender, geistvoller Spieler dazu … Man macht
mir oft den Vorwurf, dass ich absichtlich so schwer schreibe. Gegen diesen Vorwurf habe ich
nur eine Antwort, dass keine Note zu viel darin steht.“ Soweit Reger. „Keine Note zu viel“: Da
erschlägt er seine Kritiker mit einem Mozart-Zitat!
Und geistreich, souverän – das sind genau die richtigen Begriffe, um den Organisten
Bernhard Buttmann zu charakterisieren, der Regers Orgelwerke für das Label OEHMS, im
Vertrieb von NAXOS, komplett eingespielt hat. Jetzt ist diese Edition abgeschlossen – ein
großer Wurf. Freilich, die Orgelspieler hielten Reger stets die Treue. In dieser Nische genießt
er immer noch Weltruhm. Dabei ist, wie Buttmann zeigt, Regers Musik für die Orgel keine
regressive Nischenkunst, verloren irgendwo in einem übermenschlichen Spagat zwischen
Bach und Schönberg. Ich muss ehrlich sagen: Statt zweier Orgelgesamteinspielungen im
Katalog wäre mir eine Gesamtaufnahme mit Regers völlig vergessenen 300 zarten Liedern
lieber gewesen in diesem Gedenkjahr, oder ein paar Aufnahmen mehr mit seiner luziden
Kammermusik, die nicht so recht in unser festbetoniertes Reger-Vorurteil hineinpassen will.
Wozu sonst sind denn Gedenkjahre gut? Aus demselben Grund, weshalb die Köpfe rund
3
sind, nämlich, wie es der französische Dichter und Maler Francis Picabia einmal sehr schön
gesagt hatte: Damit das Denken die Richtung wechseln kann.
Diskografisch sehr viel besser geht es der berühmten Gedenk- und Tastenmusikerin Martha
Argerich. Sie ist keine 100 Jahre tot, im Gegenteil, sie ist super lebendig, und feiert am
5. Juni ihren 75. Geburtstag, öffentlich auf dem Podium, in Berlin, und Daniel Barenboim und
dessen Staatskapelle sind die Gratulanten. Auch die Major-Labels gratulierten bereits, sie
schielten dabei natürlich auf den Markt: SONY, WARNER und die Deutsche Grammophon
haben wieder mal ihren Back-Katalog geplündert. Zum Glück: Da gibt es Neuigkeiten!
Argerich und Mozart! Wo gab es denn so was?
Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate D-Dur KV 576, 1. Satz
4:45
Wie viele Mozart-Klavier-Sonaten hat die Argerich öffentlich vorgetragen und im Studio
eingespielt? Keine? Eine? Ja, genau, eine! Nämlich diese hier: die Sonate Nr. 18 D-Dur
KV 576. Wir hörten den ersten Satz daraus, Allegro, gespielt von der 19-jährigen Martha
Argerich, aufgenommen im Januar 1960 im Studio 2 des WDR Köln.
Diese Aufnahme ist eine Erstveröffentlichung, sie wurde erst jetzt, 46 Jahre später,
freigegeben. Argerich hatte diese Sonate einstudiert für den Busoni-Wettbewerb in Bozen
1957, den sie gewann – ebenso wie den Klavierwettbewerb in Genf, im gleichen Jahr. Da
war sie 16. Zwar brachten ihr diese frühen Wettbewerbs-Erfolge Aufmerksamkeit ein, aber
der große Ruhm kam erst, als sie dann 1965 auch noch den Chopin-Wettbewerb in
Warschau gewonnen hatte. Alsbald gab es feste Plattenverträge, und alsbald legte sich
Martha Argerich fest auf ein Repertoire ohne die Wiener Klassiker, Mozart und Beethoven,
dafür mit viel Chopin, Liszt, Schumann, Schubert, Brahms, Prokofjew, Ravel. Sie hasste ihre
Soloauftritte so sehr, dass sie neun Jahre später damit ganz und gar Schluss machte – ihre
letzte Solo-Recital-Platte 1984 galt Schumanns „Kreisleriana“. Gewiss, begleitet von
Orchestern und Dirigenten, wenn sie nicht allein auf dem Podium war, spielte sie immer
wieder, auch mit Kammermusikpartnern tat sie sich manchmal für Beethoven und Mozart
zusammen. Aber die Solosonaten: Daraus wurde ein blinder Fleck in ihrer Diskografie. Diese
WDR-Studio-Aufnahmen von 1960, die jetzt erstveröffentlicht wurden, sind also eine
Sensation!
Wie ungeheuer kraftvoll und formbewusst Argerich Mozart gestaltete als 19-jährige, das
haben Sie soeben gehört. Fast noch großartiger, denke ich, ist die Aufnahme der siebten
Beethoven-Sonate, aufgenommen im gleichen Kölner Studio, wenige Monate später. Diese
Sonate D-Dur op. 10 Nr. 3 hatte Martha Argerich, und zwar möglicherweise noch unter
Aufsicht ihres Lehrers Friedrich Gulda in Wien, als Pflichtstück einstudieren müssen für den
Genfer Klavierwettbewerb. Man glaubt jedenfalls, Guldas Einfluss deutlich zu hören –
obgleich er es war, der immer gesagt hatte: Er habe diesem „Mädel“ nichts beibringen
können, sie habe alles schon von selbst gekonnt. Argerichs Beethoven ist, darin dem Guldas
(in dessen Gesamtaufnahme von 1968) ähnelnd, ebenfalls sehr schnell, stürmisch, pointiert.
Andererseits spielt sie konturierter und kontrastreicher. Und sie expandiert, sie gestaltet
agogisch, nimmt sich für das Detail mehr Zeit. Beim Presto der Sonate D-Dur op. 10 Nr. 3
beträgt der Unterschied nur zehn Sekunden. Aber das nachfolgende Largo e mesto ist eine
romantische Offenbarung, ein himmlischer Gesang, den lässt sie im Pianissimo verlöschen –
und dafür braucht Argerich in summa gut 1½ Minuten länger als Gulda. Das hören wir jetzt –
erst das Presto, dann das himmlische Largo aus Beethovens Sonate op. 10 Nr. 3 mit
Argerich.
Ludwig van Beethoven: Sonate D-Dur op. 10 Nr. 3, 1. und 2. Satz
16:00
Unfassbar die Intensität der Gestaltungskraft, diese Sicherheit im Ausdruck bei einer so
jungen Person! Wer immer diese Beethoven-Lesart 1960 im Studio gehört hat, dem musste
4
sofort klar sein: Diese Pianistin würde alles und jeden aus dem Felde schlagen. Von einer
spezifischen „Gefühlsintelligenz“ der Martha Argerich sprach damals der Musikkritiker Peter
Cossé – aber die forderte ihren Preis. Martha Argerich verausgabt sich im Augenblick der
Aufführung. Sie traumwandelt, sie glüht, verglüht, sie legt ihre Seele auf den Tisch des
Hauses. Es ist auch klar, dass sie sich dem zunehmend entzogen und sich geschützt hat,
auf ihre Art. Denn im Jahr 2016, wenn Martha Argerich ihren 75. Geburtstag feiern wird (also
nächste Woche), dann hat sich an der emotionalen Intelligenz ihres Spiels nicht das
Geringste geändert.
Diese Aufnahme der Sonate op.10 Nr. 3 von Ludwig van Beethoven, aus der wir zuletzt das
Largo hörten, gespielt von der 19-jährigen Martha Argerich, wurde damals nicht veröffentlicht. Sie ist jetzt unter dem Titel „Martha Argerich – Early Recordings“ von der Deutschen
Grammophon erstmals zugänglich gemacht worden.
Ein weiteres Highlight des Albums ist, neben Mozart und Beethoven, die dritte ProkofjewSonate, a-Moll, aufgenommen im März 1960 im NDR-Studio in Hamburg – ebenfalls bislang
eine Lücke in der Argerich-Diskografie. Auch das restliche Recital-Programm dieses
spektakulären Doppelalbums besteht aus Erstveröffentlichungen, nur wurden diese Stücke
später von Argerich noch mehrfach eingespielt. So könnten wir jetzt, aus reinem Vergnügen,
stundenlang vergleichen und, zum Beispiel, „Gaspard de la nuit“ oder die „Sonatine“ von
Maurice Ravel in der berühmten Deutsche-Grammophon-Version von 1975, aufgenommen
in Westberlin, 15 Jahre zurückspiegeln ins Kölner Studio, wo die junge Argerich-Löwin,
durchwegs schneller und schärfer, ihre Pranken zeigte.
Im Treffpunkt Klassik in SWR2 tauchen wir jetzt aber stattdessen noch ein bisschen weiter
zurück, ziemlich genau 260 Jahre. Da geht es, in einer zweistimmigen Kantate, um Leben
und Tod. „Crudo amor, morir mi sento!“
Agostino Steffani: „Crudo amor“
2:00
Es ist nicht zu überhören: Da möchte jemand sterben, und zwar in Schönheit, oder
zumindest in kunstvoller Zweistimmigkeit: „Grausamer Amor, ich fühle, dass ich sterbe –
entweder löscht Du das Feuer meiner Qualen, oder Du bringst mir den Tod.“
So lautet der Text dieses Duetts aus einer galanten Kammerkantate, die der venezianischbajuwarische Titularbischof und Hofkapellmeister Agostino Steffani komponiert hat, und zwar
um 1700, als er gerade in diplomatischer Mission in Brüssel weilte. Was aber leider auch
nicht zu überhören war eben, bedauerlicherweise: Die beiden Stimmen, die einander da in
kanonischen Terzgängen umgarnen, sind ziemlich ungleiche Gesellen. Die Sopranistin
Eugenia Boix hat eine kleine, zarte, hübsche Barockopernstimme, gegen die weiter nichts
einzuwenden ist, außer, dass sie ohne Stütze geführt wird und nicht im Fokus sitzt, weshalb
sie, zumal in den schnellen Koloraturen, ungenau intoniert. Damit ist aber auch schon der
einzige Schönheitsfehler dieses neuen Albums des Ensembles Forma Antiqua benannt.
Der Rest ist vorbildlich, um nicht zu sagen, herausragend. Zunächst: das seltene Repertoire.
Sechs zauberhafte Kammerduette des Agostino Steffani kann man hier kennenlernen, der
damit eine neue, galante Gattung schuf, die Schule machte – sogar Georg Friedrich Händel
hat sich solche Kammerduette bei Steffani abgekupfert. Zweitens: Das Barockensemble aus
Theorbe, Gitarre, Cello, Harfe und Cembalo spielt und swingt ganz vortrefflich. Es handelt
sich um ein junges, spanisches Alte Musik-Ensemble namens Forma Antiqua, das offenbar
in Familienbesitz ist, denn alle Musiker, bis auf die Cellistin, tragen genau den gleichen
Nachnamen wie der Dirigent, Aarón Zapico. Schließlich, drittens, ist das Album vorbildlich
bibliophil ausgestattet, in edlem Karton; und viertens, das Allerwichtigste: die zweite Stimme.
Carlos Mena, Countertenor oder vielmehr Altus, intoniert sauber, er trägt mustergültig
leuchtende Koloraturfarben auf. Und er führt seine volle und ausdrucksstarke Stimme sicher
5
und gut, sie kommt hier, in der Duett-Kantate „Occhi, Perché Piangete“ besonders
eindrucksvoll zum Tragen.
Agostino Steffani: „Occhi, perché piangete?”
6:40
Eugenia Boix (Sopran) und Carlos Mena (Altus) sangen „Occhi, perché piangete“ von
Agostino Steffani. Sie wurden begleitet vom Ensemble Forma Antiqua unter Leitung von
Aarón Zapico. In dieser Kantate geht es um schöne Augen, die vor Tränen überfließen. Und
überhaupt wird sehr viel geweint auf diesem Album, meist in so wundervoll fallenden
Lamentosekunden und mit so süßen Durchgangsdissonanzen, dass man nicht genug davon
kriegen kann.
Agostino Steffani, den ein abenteuerliches Diplomatenleben quer durch Europa geführt hatte
und der mehr als 17 komplette Opern hinterließ, wie am Schnürchen, den muss man heute
nicht mehr wortreich vorstellen, glaube ich. Seit die Sängerin Cecilia Bartoli gemeinsam mit
der Schriftstellerin Donna Léon für diesen vergessenen Komponisten des Seicento die
Reklametrommel gerührt hat, ist er ja nicht mehr vergessen. Ganz im Gegenteil: Das
Wiederentdecken Steffanis ist geradezu selbst zur einer Mode geworden. Alle drei Monate
gibt es eine neue Steffani-Ausgrabung, die sich immer wieder lohnt. Diese hier auch.
Zwischen die sechs Duett-Kantaten Steffanis hat das Ensemble Forma Antiqua pfiffigerweise
noch ein paar Instrumentalstücke von noch viel vergesseneren, noch viel unbekannteren
Komponisten eingestreut, unter anderem von einem gewissen Johann Caspar Ferdinand
Fischer.
Johann Caspar Ferdinand Fischer: Passacaglia (Ausschnitt)
0:40
Sie hören „SWR2, Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, heute mit Eleonore Büning.
Und noch einen Verschollenen, einen zwischendurch total Vergessenen will ich Ihnen heute
vorstellen. Oder vielmehr: ins Gedächtnis zurück rufen. Vielleicht erinnern Sie sich ja!? Da
gab es in den 90er Jahren ein Wunderkind aus Köln, das Furore machte mit seiner Geige,
Preise gewann, Fernsehauftritte absolvierte und mit großen Orchestern auftrat, dann aber
entschwand in die USA: Nein, ich meine nicht David Garrett. Dieser Knabe, von dem ich
spreche, verfügte, im Unterschied zu Garrett – wie man bis heute in alten Videos auf
YouTube bewundern kann – schon über eine ausgefeilte, saubere Bogen- und Grifftechnik
und, trotz seiner jungen Jahre, über einen reifen, sprechenden Legato-Seelenton. Sein
Name: Werner von Schnitzler. Er spielte wirklich sensationell Geige. Mit einem goldenen,
seidigen, strahlenden Klang – auf altmodische Art gewürzt mit Portamenti und viel Vibrato,
erinnerte er an den jungen Menuhin. Dann wurde Werner von Schnitzler von privaten
Umständen und Krankheit aus dem Verkehr gezogen. Jetzt ist er wieder zurück. Er ist
erwachsen, mittlerweile 38 Jahre alt, vielleicht zu alt, um in diesem menschenfressenden
Klassik-Musikbetrieb noch einmal groß rauszukommen. Aber der goldene Ton, der ist noch
da.
Josef Suk: Vier Stücke für Violine und Klavier op. 17, Nr. 2
4:40
Werner von Schnitzler spielte, begleitet von Cosmin Boeru, aus den vier Stücken op. 17 für
Violine und Klavier von Josef Suk das zweite: „Appassionato“.
Es erinnert stark an die alte, böhmische Spielmannskunst des Geigenspielens, wie von
Schnitzler hier auftritt: virtuos, zugleich schmachtend, mit vielen verschiedenen möglichen
Regenbogenfarben in nur einem einzigen Bogenstrich, auch immer hart an der Kitsch- oder
auch Herzschmerzgrenze, mit nahtlosen Registerwechseln und einem dynamisch fließenden
Dauerlegato, und natürlich: mit Portamenti. Auch Suks Violinstücke aus dem Jahr 1900 sind
von dieser alten böhmischen Art: bitter und süß, von Seufzerfiguren angetrieben, von
6
Tanzbodenrhythmus unterminiert. Josef Suk hatte selbst Violine studiert, bevor er dann
später Komposition lernte, bei Antonín Dvořák.
Werner von Schnitzler, der sein Comeback-Album „Tschechische Impressionen – From My
Homeland“ getauft hat, suchte allerhand tschechische Violin-Miniaturen dafür zusammen, die
sonst selten gespielt werden – von Dvořák, Janáček, Suk, Martinů und Smetana: kleine
folkloreinspirierte Stücke, die einander ähneln und dabei doch sehr verschieden sind;
Stücke, mehr oder weniger anspruchsvoll, die oft als Etüden oder Zugaben dienen, und die
manchmal gering geschätzt werden. Herzstück des Albums ist die Violinsonate von Leoš
Janáček, ein Werk, an dem der Komponist jahrelang herumlaboriert hatte, um dann doch
bekanntzugeben, er halte die Sonate „für kein außerordentliches Werk, aber der 2. und
3. Satz haben ein Stück Wahrhaftigkeit ....“ – Freilich: Auch kleine Dinge können uns
entzücken!
Leoš Janáček: Sonate für Violine und Klavier, 4. Satz
5:10
Aus der Violinsonate von Leoš Janáček spielte Werner von Schnitzler, begleitet von Cosmin
Boeru, den Finalsatz, das Adagio. Entstanden ist diese Gespenster-Musik mit den
nachklappenden, nachzitternden Echos darin bereits um 1915, unter dem frischen Eindruck
der ersten Siege der russischen Armee zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Janáček, der
damals Mitglied des russischen Zirkels in Brünn war, stand als slawischer Patriot auf Seiten
der russischen Armee. Vollendet hat er diese Violin-Sonate dann Jahre später, nach der
Oktoberrevolution, da hatte sich das politische Blatt längst wieder gewendet. Auch kleine
Dinge können von großen Ereignissen berichten!
Und auch Antonín Dvořák, mit dessen Romantischen Stücken op. 75 Werner von Schnitzler
sein tschechisches Programm eröffnet, hielt es für nötig, das Licht dieser kleinen Bagatellen
unter den Scheffel zu stellen. Er schrieb an seinen Verleger Simrock: „Sie sind freilich mehr
für Dilettanten gedacht. Aber hat Beethoven, hat Schumann auch nicht einmal mit ganz
kleinen Mitteln geschrieben. Und wie?“
Antonín Dvořák: Vier romantische Stücke für Violine und Klavier op. 75, Nr. 1
3:30
Eine letzte Kostprobe war das, aus dem neuen Album des deutschen Violinvirtuosen Werner
von Schnitzler, der als Wunderkind in den 90er Jahren berühmt war und jetzt mit einer
Auswahl an hinreißend musizierten Miniaturen böhmischer Musikanten sein Comeback
feiert. Dieses Stück eben stammt von Antonín Dvořák, es ist das Allegro Moderato aus
dessen Vier romantischen Stücken op. 75.
„From My Homeland“ – (Aus der Heimat), so heißt dieses Album. Der Pianist, der von
Schnitzler so kongenial auf dieser sentimental journey in die violinistische Vergangenheit des
östlichen Europa begleitet, heißt Cosmin Boeru, er stammt aus Rumänien. Erschienen ist
das Album beim Label Ars Produktion, im Vertrieb von Note 1.
„Heimat“ – das ist ein heikler Begriff, ein Begriff mit Januskopf. Manche haben ein Heim und
wissen es gar nicht. In aller Regel bezeichnet „Heimat“ eine Art Neverland, ein Wunschland,
am nötigsten und wichtigsten all denen, die kein Zuhause (mehr) haben. Das erklärt, warum
im alten Böhmen, Zankapfel der Großmächte und fremdbestimmte Durchgangsstation über
Jahrhunderte, so viele Heimatromanzen und Heimatmusiken entstehen konnten. Eine der
schönsten dieser Wunschmusiken ist die Ouvertüre „Mein Heim“ op. 68 von Antonín Dvořák.
An zentraler Stelle zitiert und verarbeitet Dvořák in dieser Musik das patriotische Lied „Wo ist
meine Heimat?“, das lange Zeit die konspirative heimliche, heute aber die offizielle
Nationalhymne Tschechiens geworden ist. Diese Ouvertüre „Mein Heim“ ist das Herzstück
der neuen CD, die die PKF Prager Philharmonia unter Leitung ihres jungen Chefdirigenten
Jakub Hrůša jetzt eingespielt hat:
7
Antonín Dvořák: „Mein Heim“, Ouvertüre op. 68
10:10
„Mein Heim“. So heißt diese Ouvertüre op. 68 von Antonín Dvořák. Es spielte die PKF
Prager Philharmonia unter der Leitung von Jakub Hrůša. Insgesamt 13 Ouvertüren hat
Dvořák hinterlassen, jede erzählt eine Geschichte, acht davon gehören zu seinen eigenen
Opern – fünf hatten andere Anlässe. Und diese fünf weit ausgreifenden Sinfonie-Ouvertüren,
selten aufgeführt, weithin unbekannt, sind jetzt auf dem neuen Album der Prager
Philharmonia zu finden, saftig, schmissig und transparent musiziert. Eine CD des Labels
PENTATONE, im Vertrieb von NAXOS. – Bald müssen sich die Prager freilich von ihrem
Chefdirigenten Jakub Hrůša verabschieden: Er wird nächste Saison die Bamberger
Sinfoniker übernehmen.
„SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ geht damit zu Ende. Am Mikrophon verabschiedet
sich Eleonore Büning. Danke fürs Zuhören und – auf Wiederhören! Nähere Angaben zu den
CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de. Dort steht die Sendung auch noch eine
Woche lang zum Nachhören. Und hier in SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice,
danach folgt „Aktuell“, mit den Nachrichten.