Diakon Mathias Wolf, Oberursel Übrigens in hr4 am Dienstag, 24.05.2016 Das alte Wegkreuz Fast jeden Tag gehe ich daran vorüber: an einem alten Sandsteinkreuz in unserer Straße. Es steht einige Häuser weiter an einer Abzweigung. Alte Kreuze am Wegesrand wie dieses gibt es viele. Sie stehen an Feldwegen, Straßen oder auf Plätzen und prägen unsere Landschaften und Orte. Das Wegkreuz in unserer Straße ist etwas Besonders: Es erzählt seine eigene Geschichte. Anfangs ist mir das gar nicht aufgefallen. Aber als ich einmal genauer hinschaute, da habe ich sie entdeckt: die alte, fast verwitterte Inschrift. Die Jahreszahlen verraten: Gut 250 Jahre ist das Kreuz alt. Die Inschrift erzählt von den Eheleuten Krämer und ihrer Tochter. Sie beklagen den Tod ihres Sohnes und Bruders Jakob. Er war als junger Mann zur Lehre von zu Hause weggegangen und dann in der Fremde gestorben und begraben worden. Mutter, Vater und Schwester sind ganz erfüllt vom Schmerz über diesen Verlust in der Familie. Ihr Schmerz ist so gewaltig, dass auch die Vorübergehenden angesprochen werden: „O Ihr alle, die den Weg vorübergehet, merket doch und sehet ob auch ein Schmerz sei wie mein Schmerz …“ heißt es da. Diese Trauerfamilie Krämer damals: Sie erhofft sich Trost dadurch, dass andere mittrauern und Mitleid mit ihnen haben. Sie vergraben sich nicht in ihrer Trauer, sondern sie tragen sie nach außen. Aber nicht nur das: Die alte Inschrift verrät noch mehr. Diese Familie Krämer verbindet ihr Schicksal mit dem Gekreuzigten. Denn diese Inschrift steht auf der Vorderseite direkt unter dem Kreuz verbunden mit dem Wort aus der Bibel „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Sohn (hin)gegeben hat, dass jeder, der an ihn glaubt das ewige Leben hat.“ Diese Familie Krämer spürt: Auch Jesus hat furchtbar gelitten – so wie wir nun schrecklich leiden und trauern. Das tröstet sie. Es vertreibt nicht den Schmerz, aber es lässt ihn eher ertragen und gibt Hoffnung über den Tod hinaus. Ich finde das mutig: Die eigene Trauer und die Suche nach Trost so zu zeigen. Das erlebe ich heute eher selten: Menschen, die einen ihrer Lieben verloren haben, verkriechen sich oft in sich selbst. Sie haben Scheu, ihre Trauer und ihren Schmerz zu zeigen. Das Schicksal der Familie Krämer berührt mich auch noch nach so vielen Jahren, die zwischen uns liegen. Ich hoffe, dass es ihnen damals geholfen hat, über den Verlust hinweg zu kommen. Mir macht dieses alte Sandsteinkreuz in unserer Straße Hoffnung. Es sagt mir: Menschen hat es schon immer gut getan, von ihrer Trauer zu sprechen – zu anderen Menschen und zu Gott.
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