fast vergessene orte

Historisches aus dem Siegerland
F ast
vergessene
O rte
B
eim Gang durch die Stadt passiert es mir hin und
wieder, dass ich an einem Haus, einer Brücke, einem
Brunnen oder einem Kunstwerk vorbeikomme, bei
dem ich gerne sofort Fragen stellen würde: Seit wann steht
das hier, was war früher hier, welche Bedeutung hatte es einmal? Orte, die kaum jemand bewusst wahrnimmt, obwohl sie
unter Umständen eine bewegte Geschichte haben, die aber in
Vergessenheit zu geraten drohen, da es immer weniger Menschen gibt, die darüber etwas erzählen können. Da diese Orte
oft unscheinbar sind oder versteckt, von der Natur teilweise
überwuchert, nimmt manch ein Spaziergänger kaum Notiz
davon. Wie gut, dass es Siegener wie Willi Zöller gibt. Mit
ihm traf ich mich in der Rosterstraße vor einer merkwürdigen
Tür und er erzählte mir aus seiner Schulzeit:
„Bis zum schweren Bombenangriff am 16.12.1944 lief
der Schulbetrieb eigentlich ziemlich normal. Danach häuften
sich Alarme und akute Luftgefahr und alle Klassen mussten immer wieder in den Bunker unterhalb unserer Schule,
der heutigen Diesterwegschule am Rosterberg. Zu unserem
Leidwesen meinte unser Klassenlehrer Herr Schoning (Rektor war Herr Schnutz), selbst im Halbdunklen sei Kopfrechnen noch gut möglich und dies wurde auch praktiziert.
Etwa nach dem zweiten Großangriff am 1.2.1945 habe ich
die Schule nicht mehr besucht. Ob der Schulbetrieb über eine
Bekanntmachung oder sonst wie offiziell und ab wann eingestellt wurde, ist mir bis heute nicht bekannt. Nach Kriegsende
begann für uns, aber nur für die 8. Klasse, nach Hörensagen
oder wie auch immer der Unterricht wieder etwa September/
Oktober 1945 in der Hammerhütter Schule in der Koblenzer
Straße unter Rektor Bruski in einem notdürftig hergerich-
Foto: Rita Petri
teten Raum mit zum Teil Pappdeckel vor den Fenstern und
einem Kanonenofen mit einem Ofenrohr aus einer Fensteröffnung. Die Toilettenanlage war nicht intakt. Unvergessen
ist die alsbald verabreichte „Quäkerspeise“, die von den
kräftigsten Jungen am Ende der Eintracht (damals Stadtpark,
heute Siegerlandhalle) in Milchkannen geholt werden musste und vom Rektor persönlich in die jeweils von den Schülern
mitgebrachten Becher per Schöpfkelle eingeschenkt wurde.
Es kam auch vor, dass er fragte: „Warst du nicht eben schon
mal hier?“ Die Jungs mit den Milchkannen waren mit der
Zeit auf die Idee gekommen, die Kannen unterwegs schon
mal um den „Trägerlohn“ zu „erleichtern“. Dazu wurde in
einem Versteck der Deckel abgehoben, gefüllt und reihum
geleert. Irgendwann stellte schließlich Herr Bruski fest, dass
die Kannen nicht mehr richtig gefüllt wären. Er wollte sich
bei der Kommandantur beschweren. Die Jungs allerdings
sind nie befragt worden. Etwa im Mai/Juni 1946 wurden wir
in die Schule an der Frankfurter Straße unter Rektor Schönhoff, wahrscheinlich wieder konfessionell getrennt, verlegt,
obwohl die Schulzeit eigentlich abgelaufen war. Wer eine
Lehrstelle bekam, konnte dann die Schule verlassen.
Etwa im März 1945 hieß es, die HJ-Jungs Jahrgang 1929
hätten sich bei der Leitstelle Bunker Kaisergarten sozusagen zur Einberufung zu melden. Mein Bruder war Jahrgang
1929. Nach Beratung mit einigen weiteren Betroffenen
wurde einfach nichts unternommen, was natürlich schlimme Folgen hätte haben können. Alle haben aber zum Glück
nichts mehr gehört und gesehen. Das Chaos war vermutlich
schon zu weit fortgeschritten. Aber auch hier stellt sich mir
im Nachhinein wie so oft die Frage was „hieß es“ für eine
Bedeutung eigentlich hatte.
Wo kam das her, wer sagte
was, welch amtlichen Charakter kam dem zu?
Ähnlich war das mit der
Beendigung der Bunkerzeit. Nachdem die Amerikaner Anfang April 1945 den
Rosterberg und Umgebung
eingenommen hatten „hieß
es“, alle könnten nach Hause
gehen. Wer hat das bestimmt,
angeordnet?
Obwohl die Bürokratie
nach meinem Eindruck auch
in der schwersten Zeit allgegenwärtig war, gingen viele
Ereignisse doch sehr unbürokratisch nach „Hörensagen“ über die Bühne.“
Willi Zöller an dem Ort, der in seiner Schulzeit für ihn eine große Bedeutung hatte:
Willi Zöller/Uli Hoffmann
Der Bunker in der Rosterstraße unterhalb der Diesterwegschule
36
durchblick 2/2016