J. Laursen (Hrsg.): Dynamics of European Institutions - H-Soz-Kult

J. Laursen (Hrsg.): Dynamics of European Institutions
Laursen, Johnny (Hrsg.): The Institutions and
Dynamics of the European Community, 1973–83.
Baden-Baden: Nomos Verlag 2013. ISBN:
978-3-8329-6963-9; 312 S.
Rezensiert von: Mathias Haeussler, Magdalene College, University of Cambridge
Die britische Historikerin Helen McCarthy
verglich jüngst die innerdisziplinäre Aufspaltung des akademischen Geschichtsbetriebs
mit einer Dinnerparty. Wären alle Historiker auf einer solchen Party versammelt, so
McCarthy, fände man die Diplomatiehistoriker wohl verschüchtert in einer Ecke stehend,
mit Nickelbrille die Buchrücken im Wandregal studierend, während die Kulturhistoriker haschischrauchend in der Küche säßen.1 Historiker der europäischen Integrationsgeschichte, so ist man versucht hinzuzufügen, wären zu einer solchen Party wohl
gar nicht erst eingeladen: zu nischenhaft das
Feld; zu stark abgegrenzt von anderen aktuellen Forschungstrends. Dass es sich dabei jedoch um wenig mehr als ein veraltetes Klischee handelt, beweist der hier vorliegende
Sammelband, welcher vom dänischen Historiker Johnny Laursen zusammengestellt wurde und auf Basis jüngster archivalischer Veröffentlichungen neues Licht auf die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften im
Zeitraum von 1973 bis 1983 wirft. Der Band
basiert auf der 13. Konferenz der HistorikerVerbindungsgruppe der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, welche im Februar 2010 in Aarhus abgehalten wurde.2
Wie Laursen in seiner aufschlussreichen
Einleitung skizziert, sind historiographische
Interpretationen der europäischen Integration der 1970er-Jahre durchaus nicht konstant
geblieben. Dominierten bis vor einigen Jahren noch zeitgenössische Bilder des integrationspolitischen Stillstands, gar der sogenannten „Eurosklerose“, so wird das Jahrzehnt
nun zunehmend als revitalisierende und reformierende Epoche gesehen. Diese Darstellungen korrespondieren mit einer mittlerweile vorherrschenden allgemeineren Lesart
der 1970er-Jahre als Zeit der „Umbrüche in
die Gegenwart“.3 Für die EG-Geschichte lassen sich ähnliche Interpretationen in mehreren kürzlich erschienenen Spezialstudien fin-
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den, welche beispielsweise Fortschritte im Bereich der monetären Integration, der außenpolitischen Zusammenarbeit oder der EGErweiterung untersuchen.4 Auch der hier vorliegende Sammelband positioniert sich in dieser Interpretationslinie, welche ebenso von
anderen Sammelbänden zur EG-Geschichte
jener Zeit vertreten wird.5 Die 1970er-Jahre, so
Laursen in seinen einführenden Worten, sollten als Zeit der Transformation begriffen werden; als Dekade, in der die EG mit neuartigen
Herausforderungen konfrontiert wurde und
sich dadurch politisch ebenso wie institutionell stark reformierte.
Trotz dieser betont revisionistischen Stoßrichtung liefert der Sammelband jedoch keine simple, irreführende Reinterpretation der
1970er-Jahre als blühendes Jahrzehnt der europäischen Integration. Ziel ist vielmehr, die
EG-Geschichtsschreibung analytisch zu öffnen und mit dem noch immer häufig vorherrschenden teleologischen Narrativ einer
konstanten, linearen Progression der EG zur
„ever closer union“ klar zu brechen. Die vielfältigen Dynamiken der europäischen Integration werden stattdessen als dialektischer
1 Helen
McCarthy, Review of ‘On the Fringes of
Diplomacy: Influences on British Foreign Policy,
1800–1945’ (review no. 1210), <http://www.history.
ac.uk/reviews/review/1210> (02.03.2016).
2 Siehe Tagungsbericht: Conference on the History of European Integration: From Crisis to New Dynamics: the
European Community 1973–83, 11.02.2010 – 12.02.2010
Aarhus, in: H-Soz-Kult, 15.03.2010, <http://www.
hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte3023> (02.03.2016).
3 Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9 (2012), S. 8–32; Lutz Raphael / Anselm DoeringManteuffel, Nach dem Boom: Perspektiven auf die
Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Niall Ferguson u.a. (Hrsg.), The Shock of the Global: The 1970s in
Perspective, Cambridge MA, 2010.
4 Emmanuel Mourlon-Druol, A Europe Made of Money: The Emergence of the European Monetary System, Ithaca NY 2012; Aurélie Elisa Gfeller, Building a
European Identity: France, the United States, and the
Oil Shock, 1973–1974, New York 2012; Eirini Karamouzi, Greece, the EEC and the Cold War, 1974–1979: The
Second Enlargement, Basingstoke 2014.
5 Guia Migani / Antonio Varsori (Hrsg.), Europe in the
international arena during the 1970s: entering a different world, Brüssel 2011; Claudia Hiepel (Hrsg.), Europe in a Globalising World: Global Challenges and
European Responses in the „long“ 1970s, Baden-Baden
2014.
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Prozess begriffen; als oftmals improvisiertes
„vor und zurück“ im Angesicht neuer Aufgaben und globaler Dynamiken.6 So beschreibt
Emmanuel Mourlon-Druol in einem erhellenden Kapitel die Entstehung des europäischen
Währungssystems als Kumulation eines langwierigen, verworrenen und oftmals auch widersprüchlichen Lernprozesses transnationaler Finanzeliten; langfristige Dynamiken, welche sich dann unter Eindruck der Wirtschaftspolitik der US-Regierung unter Präsident Carter zusätzlich intensivierten. Auch Piers Ludlow untersucht in seinem Beitrag die Wechselwirkungen amerikanischer Politik mit der europäischen Integration, insbesondere im Kontext des wiederaufflammenden Kalten Krieges Ende der 1970er-Jahre. Ludlow konstatiert
für diesen Zeitraum eine Politisierung der
EG insbesondere auf außenpolitischer Bühne, welche durch Schaffung der Europäischen
Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und des
Europäischen Rats ihren institutionellen Ausdruck fand. Antonio Varsori zeigt in seinem
Kapitel zur langen Vorgeschichte der griechischen EG-Mitgliedschaft ebenso die überragende Bedeutung sicherheitspolitischer Motive auf, welche die wirtschaftlichen Bedenken mancher Mitgliedstaaten letztlich übertrumpften. Beide Beiträge werfen so explizit die Frage auf, inwiefern die scharfe historiographische Trennung der europäischen Integrationsgeschichte von der Geschichte des
Kalten Krieges noch zu halten ist.
Doch auch die interne Agenda der EG erfuhr in den 1970er-Jahren verglichen mit früheren Epochen eine inhaltliche ebenso wie institutionelle Erweiterung. So zeigt beispielsweise Ann-Christina Lauring Knudsen am
Beispiel von britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament, wie sich dieses bereits
vor Einführung der Direktwahlen zu einem
einflussreichen Akteur im Institutionsgefüge
der EG entwickelte, und dementsprechend
auch auf nationaler britischer Ebene durchaus
Beachtung erfuhr. Hierbei illustriert Knudsen eindrucksvoll, wie soziologische Methoden gewinnbringend mit empirischer historischer Forschung kombiniert werden können. In ähnlicher Weise analysieren Bill Davies und Morten Rasmussen den Bedeutungsgewinn des Europäischen Gerichtshofs (EGH)
von den 1950ern- bis in die 1980er-Jahre: in
einem hochkomplexen transnationalen Netz
errang das Europäische Gemeinschaftsrecht
auch für die nationalen administrativen Systeme der Mitgliedsstaaten eine zentrale Bedeutung. Jan-Henrik Meyer schließlich kombiniert diese beiden Ansätze in einem höchst
aufschlussreichen Beitrag, welcher den Wandel der EG-Umweltpolitik von einer anfangs
eher peripheren Angelegenheit zu einem zentralen Politikfeld der EG analysiert; hierbei
hebt Meyer insbesondere die Bedeutung des
Europäischen Parlaments als institutionellen
„agenda-setter“ hervor.
Ein solch vielschichtiges Bild der EG-Politik
erfordert auch methodologisch neue Herangehensweisen. So fordert Anne Deighton, die
Geschichte der europäischen Integration zukünftig noch stärker in den größeren Kontext der internationalen Geschichte einzubetten, insbesondere mit Blick auf die bipolaren Strukturen des Kalten Krieges; ebenso
schlägt sie vor, die Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Geschichtsschreibung sowie das Verhältnis der Politikwissenschaften zur europäischen Integrationsgeschichte
noch präziser auszuloten. Auch Wolfram Kaiser pocht in seinem Beitrag darauf, Europäisierungsprozesse und die Rolle transnationaler Netzwerke stärker zu berücksichtigen. Dies, so Kaiser, sei der einzige Weg,
der zunehmenden innerdisziplinären Isolation der Europäischen Integrationsgeschichte
zu entfliehen. Demgegenüber demonstrieren
die Beiträge von Guido Thiemeyer und Michael Gehler, inwiefern biographische Ansätze für Studien der 1970er-Jahre fruchtbare Erkenntnisse liefern können. So nutzt Thiemeyer beispielsweise den deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt als eine Art analytische
Sonde, um die vielfältigen (und oftmals extrastaatlichen) Einflüsse auf deutsche Positionen zum EWS aufzuzeigen; Gehler illustriert
in ähnlicher Weise anhand des Beispiels Bruno Kreiskys die Schwierigkeiten des neutralen Drittstaats Österreichs, im Angesicht der
enormen politischen sowie wirtschaftlichen
Anziehungskraft der EG in den 1970er-Jahren
6 Hierbei
stützt sich das Werk explizit auf Mark Gilberts
einflussreichen Artikel: Narrating the Process: Questioning the Progressive Story of European Integration,
in: Journal of Common Market Studies 46/6 (2008),
S. 641–662.
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J. Laursen (Hrsg.): Dynamics of European Institutions
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noch unabhängige Handels- und Wirtschaftspolitiken zu verfolgen.
„Europa lebt – aber mir scheint, es lebt von
Krisen“, deklarierte der damalige Finanzminister Helmut Schmidt bereits im Januar 1974
während einer Rede am Londoner Royal Institute of International Affairs.7 Nach Lektüre des hier vorliegenden Sammelbands ist
man versucht, diesem zeitgenössischen Urteil
zuzustimmen. Mit empirischer Sorgfalt, methodologischer Raffinnesse und (teils) stilistischer Eleganz schaffen es die hier versammelten Historiker, die immer noch dominante Wahrnehmung der 1970er-Jahre als Epoche
des Stillstands der europäischen Integration
umfassend zu zerlegen und mit einer wesentlich komplexeren, vielschichtigeren Deutung
zu ersetzen. Freilich handelt es sich hierbei
nicht um das letzte Wort. Wie jeder Sammelband bietet auch das hier vorliegende Werk
lediglich einen skizzenhaften und notwendigerweise stark selektiven Überblick über ein
sich noch formierendes Forschungsfeld; das
Buch lässt dementsprechend einen starken roten Faden weitgehend vermissen. Doch liegt
dies primär am Genre des Sammelbandes als
solchem, und keineswegs an der individuellen Qualität der versammelten Beiträge. Sollte die Zunft der europäischen Integrationshistoriker tatsächlich in der oftmals postulierten Krise stecken, so ist mit dieser Veröffentlichung ein großer Schritt aus der Krise getan.
Zumindest aber haben sich die Autoren definitiv eine Einladung zur nächsten Dinnerparty verdient.
HistLit 2016-2-114 / Mathias Haeussler über
Laursen, Johnny (Hrsg.): The Institutions
and Dynamics of the European Community,
1973–83. Baden-Baden 2013, in: H-Soz-Kult
20.05.2016.
7 Gedruckt
in Helmut Schmidt, Mein Europa: Reden
und Aufsätze, Hamburg 2013, S. 42. Siehe ebenso zu
Schmidts Europabild: Mathias Haeussler, A „Cold War
European“? Helmut Schmidt and European Integration, c.1945-1982, in: Cold War History 15/4 (2015),
S. 427–447.
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