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Sandra Seubert
Stichwort: Privatheit
und politische Freiheit
Der Diskurs um Privatheit wird weitgehend als ein »Gefährdungsdiskurs« geführt: Es gebe,
so die Sorge, immer weniger private Bereiche des Rückzugs, der Nichtsichtbarkeit; unser
Verhalten, unsere Vorlieben – alles werde registriert, vermessen, benutzt, ohne dass wir
genau wüssten wie und wozu.1 Zu dem manchmal diffusen, manchmal manifesten Gefühl
der Bedrohung tragen vor allem die Entwicklungen der Informationstechnologie bei: ein
Bündel von Skandalen um die Datensicherheit, deren ganzes Ausmaß nicht zuletzt durch
die Enthüllungen von Edward Snowden auch die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit erreichte. Technisch ist es kein Problem, Abermillionen von Informationen und
privaten Lebensdaten zu speichern, zu durchforsten und zu verknüpfen, und wirtschaftliche und staatliche Akteure nutzen diese neuen Möglichkeiten auf immer exzessivere Weise.
Das ist nur möglich, weil das Internet unsere alltäglichen Beziehungen und Kommunika­
tionspraktiken verändert hat und inzwischen fast alle gesellschaftlichen Lebensbereiche
durchdringt.
Wenn man neben der technischen die sozialkulturelle Seite des Wandels betrachtet, fällt
auf, dass sich die Sorge um einen grundlegenden »Wert« des Privaten mit Diagnosen einer
Kolonisierung des Privaten und einer Kritik »entfremdeter« Privatheit infolge ökonomischtechnischer Imperative mischt. Die Rede vom »Verschwinden des Privaten« unterstellt, wir
wüssten bereits mehr oder weniger, was auf dem Spiel steht, was wir verlieren und warum
wir Privatheit schätzen sollten. Aber gerade dies ist angesichts des tiefgreifenden kulturellen Wandels fraglich geworden.
Bislang verläuft der Diskurs um Privatheit mehr oder weniger in den traditionellen
Bahnen eines liberalen Freiheitsverständnisses. Das ist in Zeiten geheimdienstlicher Massenüberwachung zunächst wenig verwunderlich, verdienen die klassischen liberalen Abwehrrechte der Bürger_innen in diesem Zusammenhang doch besondere Beachtung. Was
dadurch jedoch unzureichend hervortritt, ist die soziale und politische Dimension des
Privaten. Privatheit ist zwar ein Wert für Individuen, aber sie hat auch gesellschaftliche
Bedeutung: Sie ist konstitutiv für soziale Beziehungen und für die kommunikative Infra-
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WestEnd —
Neue Zeitschrift für Sozialforschung
01—2016
struktur der Demokratie. Insofern steht mit der Frage des Schutzes des Privaten immer
auch die Frage nach der Form des politischen Zusammenlebens zur Debatte.
Letztlich überwiegt im öffentlichen und akademischen Diskurs aber noch immer ein
Konzept von Privatheit, das die Schutzansprüche von Individuen isoliert von ihren sozialen
Bedingungen betrachtet. Dabei wird an einer prinzipiellen Trennung zwischen dem einzelnen Individuum und der Gesellschaft, zwischen privater und öffentlicher Autonomie festgehalten, ohne dass deren wechselseitige Ermöglichungsbedingungen hinreichend in den
Blick genommen würden.
Der vorliegende Schwerpunkt will zu einer veränderten, das liberale Paradigma trans­
zendierenden Perspektive auf Privatheit beitragen. Er versammelt Beiträge, die den sozialen und politischen Dimensionen des Privaten Rechnung tragen und den formalen Möglich­
keiten der Selbstbestimmung die Frage nach den tatsächlichen Verwirklichungsbedingungen
zur Seite stellen. Wenn individuelle Freiheit sich in sozialen Bezügen entfaltet, wie sollen
wir dann den Bereich verstehen, der durch Privatheit geschützt wird? Macht es noch Sinn,
ein »right to privacy« als vorgängigen Anspruch gegen andere zu sehen? Oder geht es nicht
vielmehr um den Schutz der Integrität von sozialen Kontexten und Praktiken, in denen und
durch die die Ausübung individueller Freiheit überhaupt erst Bedeutung gewinnt? Die
Durchdringung des Privaten durch ökonomisch-technische Imperative freilich führt zu
einer Erosion des normativen Versprechens, das der bürgerlichen Privatheit noch anhängt,
nämlich Realisierungsbedingung von Autonomie zu sein.
Unter Bezugnahme auf eine Kritik der Kulturindustrie des digitalen Zeitalters werden
im Beitrag von Sandra Seubert die emanzipativen ebenso wie die repressiven Potentiale des
Schutzes von Privatheit ausgelotet. Der Wert des Privaten wird dabei auf die Ermöglichung
kommunikativer Freiheit bezogen. Auch der Beitrag von Beate Rössler stellt die Frage in den
Vordergrund, inwiefern ein Verlust von Privatheit zu einer Transformation sozialer Beziehungen beiträgt. Die Snowden-Enthüllungen werden als Zäsur betrachtet, die die Möglichkeit einer Aushöhlung der Demokratie durch die Manipulation von Kommunikationsformen
eindringlich vor Augen führt. Auf einer konzeptuellen Ebene fragt der Beitrag von Andrew
Roberts danach, inwiefern sich der Wert des Privaten aus alternativen intellektuellen Ressourcen, wie der politischen Theorie des Republikanismus, ableiten lässt. Durch die Aktualisierung einer (neo)republikanischen Sicht werde deutlich, wie Privatheit und politische
Selbstbestimmung inhärent verknüpft sind.
Ergänzt wird der Schwerpunkt durch zwei Beiträge aus angrenzenden Disziplinen. Paula
Helm untersucht in kulturwissenschaftlicher Perspektive, von welchen Bedingungen es
abhängt, ob Privatheit als wertvoll empfunden wird oder nicht. Am Beispiel einer Interpretation von Sucht als »Isolationskrankheit« beleuchtet sie die destruktive Seite von Privat1
Der VolkswagenStiftung sei für die Förderung der Forschung, die diesen Schwerpunkt möglich
gemacht hat, freundlich gedankt. Für weitere Informationen über das interdisziplinäre Forschungsprojekt »Strukturwandel des Privaten« siehe ‹www.strukturwandeldesprivaten.de›.
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Sandra Seubert
Privatheit und politische Freiheit
heit: In der Sucht werden durch Abschottung Reue und Scham, aber gerade kein positives
Selbstverhältnis hervorgerufen. Zugleich wird klar, dass anonyme soziale Schutzräume
helfen können, Autonomie und Intimität wiederzuerlangen. Der Ansatz, Privatheit auch als
auf soziale und kommunikative Praxis bezogen zu erschließen, wird im Beitrag von Johannes
Voelz aus literaturwissenschaftlicher Perspektive weiterverfolgt. Ausgehend von der Annahme, dass die Interiorität des Subjekts den Kern des Privaten bildet, erkundet er am Beispiel
der Literatur der »Neuen Aufrichtigkeit« einen Wandel der sprachlichen und ästhetischen
Vermittlung. Zum einen zieht er daraus zeitdiagnostische Schlüsse, zum anderen rückt er
wiederum die Zweischneidigkeit des Werts des Privaten in den Blick: In der literarischen
Kommunikation von Scham und Peinlichkeit mischen sich Schutzbedürftigkeit und Selbstprofilierung; sie verweist so indirekt auf einen gesellschaftlichen Kontext, der dazu anreizt,
auch noch die Ästhetik des Privaten als Kapitalquelle im Wettbewerb einzusetzen.