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Szene
Kultur
BALLETT
L I T E R AT U R
Aschenputtel im Krieg
Feßle mich
I
lahmen Klassiker „Schwanensee“ vor und
verpaßte dem plüschigen Schmachtfetzen
eine Radikalüberholung. Die jungen Schwäne im weißen Tutu waren plötzlich keine
liebreizenden Ballettratten
mehr, sondern knackige
Kerle mit Muckis und federbesetzten Pluderhosen,
und der Prinz verfiel folgerichtig keiner ätherischen
Primaballerina, sondern
gab sich einem dämonischen Ledermann hin. Jetzt
hat sich der Choreograph
Prokofjews „Cinderella“
vorgeknöpft. Im Londoner
Piccadilly Theatre erzählt
Bourne nun das Märchen
von Aschenputtel als herbes Liebesdrama während
der Luftschlacht über England. Die von Stiefmutter
und -schwestern getriezte
Cinderella muß sich nicht
mehr in den strahlenden
Prinzen vergucken, sondern
fliegt auf einen smarten AirForce-Piloten. Schauplätze
in der witzigen Bourne-Version sind ein von der deutschen Luftwaffe zerbombter Nachtclub, die Londoner U-Bahn und ein Notlazarett, in dem der derangierte Flieger zwischen
Gitterbetten endlich seiner
Traumfrau den verlorenen
Schuh über den zierlichen
Fuß streifen kann: Höhenflug zum Happy-End.
M. LE POER TRENCH PHOTOGRAPHY
m britischen Ballettwesen ist er einer
der frechsten Bilderstürmer. Im vergangenen Jahr etwa nahm sich Matthew
Bourne, 36, Tschaikowskis langsam flügel-
T H E AT E R
Der stoische Clown
Ü
ber den Schauspielergipfeln ist Ruh’ –
Ulrich Wildgruber hat sie fast alle
erklommen: Zum Monolithen Shakespeare stieg er wiederholt mit der ZadekSeilschaft auf, daneben wagte er ein
paar Exkursionen in die Seitentäler, zum
Müllkutscher Doolittle aus „My Fair
Lady“ in Essen oder jetzt zum Krapp in
Becketts „Das letzte Band“. Mit dem Monolog über Erinnerung, Bananen und das
Altern hat Wildgruber an diesem Freitag in den Hamburger Kammerspielen
Premiere (Regie: Ulrich Waller). Einen
„schäbigen, tapferen Ritter der Stoa im
Clownsgewand“ hat der Theaterkritiker
Georg Hensel den Krapp einmal genannt
– eine Beschreibung, die auch auf den luf-
tigen Bären Wildgruber passen würde.
„Schöne Worte“, wehrt der ab, „aber was
man in sich drinnen entdeckt, ist alles etwas ruppiger.“ Ein wenig sentimental dürfte Wildgruber, 59, die Wiederbegegnung
mit Beckett aber schon stimmen, war doch
eine seiner ersten
Rollen vor ziemlich
langer Zeit die des
Estragon aus „Warten auf Godot“. Was
den Krapp betrifft,
ist er vor der Premiere ganz Schauspieler, noch vorsichtig, unsicher, tastend. „Da muß ich
erst mal sehen, was
ich rausfinde – vorher drüber zu reden
wäre Hochstapelei.“ Wildgruber
ACTION PRESS
Szene aus „Cinderella“
d e r
s p i e g e l
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B
evor der große Film kommt und die
Kino-„Titanic“ alles überschwemmt,
was feinere Takelage und dünnere Nerven
hat: schnell noch ein Griff zu einem „Titanic“-Roman der 1. Klasse.
„Nachtlicht“ heißt das gute Stück, im
englischen Original „Every Man for Himself“, das letzte Kommando des Captain
Smith: Rette sich, wer kann. Sarkastisch
wird darin untergegangen, subtil und sublim und völlig unheroisch. Also prima
literarisch.
Autorin ist die Engländerin Beryl Bainbridge, 62, eine winzige Erscheinung aus
Ironie und Energie, mit einem Bühnenleben
lange hinter sich und mittlerweile eine von
Britanniens besten Schreibern, eingedeckt
mit Preisen. Mit dem „Nachtlicht“ taucht
sie erstmals in Deutschland auf.
Sie läßt einen Überlebenden erzählen, einen erfundenen 22jährigen namens Morgan, im Buch ein Neffe des
US-Magnaten, dem die „Titanic“ eigentlich gehört: J.
Pierpont Morgan mit der
Knollennase. Der junge Morgan hat die Knollen zunächst
im Hirn.
Mit einer Jeunesse-dorée-Clique ist er auf das Superschiff
gekommen; die Jungfernfahrt
der „Titanic“ soll ihn seiner
eigenen Jungfernschaft entledigen. Ein alter Räsoneur an
Bord, Scurra mit Namen, verwandt mit
Naphta aus Manns „Zauberberg“, öffnet
ihm die Augen, über sich selbst, über die
Welt, Scurra inklusive.
Denn just das Yankee-Girl, an dem Morgan
festmachen möchte, muß er, als unfreiwilliger Beobachter, unter Scurra stöhnen
hören: „Feßle mich.“ Und dann: „Ich will
nur noch sterben.“ Da stirbt auch etwas im
jungen Morgan, und die Welt der „Titanic“, die mondäne Blindheit vor der Realität, kann getrost versinken.
Den Szenen-Reigen aus erfundenen und
historischen Personen an Bord, aus nautischen Fakten und Society-Comedy hat
Beryl Bainbridge wie ein Bühnen-Profi voll
im Griff. Ein Narrenschiff auf dem Weg
zur Apokalypse, ein Zeitroman ohne Verfallsdatum.
Und die Apokalypse selber, das „wütende
Brüllen des sterbenden Schiffes“, beschreibt die Bainbridge packend. Kurz
vorher verabschiedet sich ein Brite von
dem Helden: „Eine interessante Reise. Ich
glaube kaum, daß wir noch einmal etwas
Ähnliches erleben werden.“
Beryl Bainbridge: „Nachtlicht“. Aus dem Englischen
von Charlotte Breuer. Europa Verlag, München; 240 Seiten; 39,80 Mark.
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