Wir haben MP3 und ein „Insektenauge“ für Mobiltelefone entwickelt

Wir haben MP3 und ein „Insektenauge“ für Mobiltelefone entwickelt
„Die Gründung eines Kontaktbüros ist in jedem industrialisierten, High-Tech-Land, zu denen sicherlich
auch Tschechien zählt, möglich,“ sagt Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft,
die exzellent in der angewandten Forschung ist. Ihr Gesamthaushalt beträgt jährlich 2,1 Milliarden
Euro, was ungefähr 57 Milliarden Kronen darstellt.
LN: Welche Vision und Philosophie hat die Fraunhofer-Gesellschaft, dass sie so erfolgreich
ist?
Die Fraunhofer-Gesellschaft in Deutschland hat die Mission, originäre Ideen, Erkenntnisse und
Ergebnisse der Forschung gemeinsam mit Unternehmen in Innovationen umzusetzen – zum Wohl der
Gesellschaft und zur Stärkung der deutschen und europäischen Wirtschaft. Ziele ist es, mit
Ressourcen nachhaltig umzugehen, sie zu schonen.
LN: Im Unterschied zur Max-Planck-Gesellschaft, die sich auf Grundlagenforschung orientiert,
widmen Sie sich der angewandten Forschung. Sie haben 67 Institute mit vielseitiger
Ausrichtung. Welche von ihnen kann man sozusagen als erfolgreichste, wichtigste
bezeichnen?
Man kann die Institute nicht in wichtige oder unwichtige einteilen. Jedes hat seine Kernkompetenz in
der Wissenschaft, in konkreten Disziplinen und spezifischen Methoden.
LN: Ich verstehe, mir ging es jedoch eher darum, wie wir wissen – z. B. von unserer Akademie
der Wissenschaften, wenn es dort auch um Grundlagenforschung geht – ob einige Institute
leistungsfähiger sind, z.B. bei Erlösen aus Lizenzen usw.
In Deutschland gibt es viele Institute, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragen verbinden
und Lösungen anbieten. Für Fraunhofer Gesellschaft kann ich insbesondere die Mikroelektronik
nennen, wo wir z. B. den Audiostandard MP3 entwickelt haben, was ein großer Erfolg war, auch
hinsichtlich der erzielten Lizenzerlöse. Ein ähnliches Beispiel gibt es in der Videotechnik: Fraunhofer
war mit wesentlichen Beiträgen an der Entwicklung des bekannten Videostandards(MPEG-4)beteiligt.
Ein weiterer bedeutender Bereich sind die sog. life-sciences und Biotechnologien. Hier deckt
Fraunhofer möglichst die ganze Prozesskette ab – von der Diagnostik über die Wirkstoffentwicklung
bis hin zu den ersten Phasen der klinischen Prüfung, möglichst in jedem Prozessschritt in
Zusammenarbeit mit der Industrie. So wirken wir mit an neuen Wirkstoffen z. B. zur Bekämpfung von
Krebs und Arthrose sowie anderer Zivilisationskrankheiten. Nicht zuletzt möchte ich hier die
Produktionstechnik mit einem Beispiel nennen: Fraunhofer hat in Zusammenarbeit mit 60
Unternehmen die weltweit erste Pilot-Fabrik im Automobilzulieferbereich entwickelt, in der Karosserien
bei 30 % weniger Einsatz von Energie und Ressourcen gebaut werden.
LN: Haben Sie irgendeine Neuheit?
Eines unserer aktuell erfolgreichen Projekte ist eine extrem flache Kamera, die nach dem Vorbild der
Natur, konkret dem Insektenauge aufgebaut ist. Der Vorteil zeigt sich sehr deutlich beim Einsatz in
Handys, deren Dicke insbesondere durch den minimalen Abstand der Linsen im Fotoapparat bestimmt
wird. Dank der „Insektenaugen-Kamera“ können wir künftig die Dicke der Handys deutlich reduzieren,
so dass sie vielleicht bald nur noch so dick sind wie zwei übereinander gelegte Kreditkarten.
LN: Alle Ihre Institute haben insgesamt 24 Tausend Mitarbeiter. Wie suchen Sie die besten
Forscher, die sich gerade auf Innovationen und angewandte Forschung konzentrieren?
Die Auswahl läuft bei uns systematisch: auf nationaler wie auf internationaler Ebene suchen wir
sowohl Studenten als auch Doktoranden. Auf der nationalen Ebene ist jedes Fraunhofer-Institut an
eine Universität angebunden. So sind wir kontinuierlich in Kontakt mit den Studenten. Über
Studienarbeiten können sie in Projekten mitarbeiten. Erfolgreiche Studenten und Absolventen können
wir so schon frühzeitig an Fraunhofer binden. Für Postdocs haben wir das Programm „Attract“, mit
dem wir hervorragende Wissenschaftler aus Deutschland aber vor allem auch international anlocken
wollen. Es geht darum, dass wir, wenn wir jemanden für uns fachlich interessanten finden, ihm die
Finanzierung, einer Forschungsgruppe und die Ausstattung zur Verfügung stellen, damit er bei uns
seinen Wissenschaftsbereich entwickeln kann. Damit erhöhen wir weltweit unsere Attraktivität.
LN: Bei „Fraunhofer“ zu forschen, das ist wohl ein attraktiver Job…
In Deutschland finden jedes Jahr Umfragen statt, wer in verschiedenen Bereichen der beliebteste
Arbeitgeber ist. Fraunhofer ist in diesen Rankings stets sehr gut platziert, bei den Ingenieuren zum
Beispiel auf einer Linie wie namhafte Automobilhersteller oder Firmen wie Siemens oder Bosch,
LN: Das ist beeindruckend. Wissen Sie, wie stark die „tschechische Spur“ bei Ihnen ist? Wie
viele Tschechen arbeiten bei Ihnen?
Dazu habe ich leider keine Zahlen. Aber ich sage Ihnen etwas anderes Interessantes. Obwohl ich der
Präsident einer Forschungsorganisation mit 24 000 Mitarbeitern bin, beteilige ich mich noch an der
Leitung eines Studienprogramms, das gemeinsam mit der TU Chemnitz und der TU Brünn erfolgt. Es
befasst sich mit Fertigungssystemen und es handelt sich um den ersten tschechisch-deutschen
Studiengang, den das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU das ich
vormals leitete, bereits vor zehn Jahren gegründet hat.
LN: An der TU Brünn wurden Sie 2007 Ehrendoktor, 2014 dann an der TU Prag. Wie sind Ihre
Beziehungen mit tschechischen Kollegen, nicht nur im Bereich Ihrer Mechatronik?
Ich war lange Zeit als Professor in Chemnitz tätig und habe langfristig mit der TU Brünn
zusammengearbeitet. Wir haben Diplomarbeiten der tschechischen sowie der deutschen Studenten
angeleitet. Ausgezeichnete Beziehungen habe ich auch mit der TU Prag, insbesondere mit der
Maschinenbaufakultät. Und zwar seit mehr als 30 Jahren, aus der Zeit, in der ich in Dresden tätig war.
In den beiden tschechischen Städten habe ich viele Freunde, wir besuchen uns regelmäßig und einer
der Oberingenieure des Fraunhofer IWU promovierte in Tschechien und in Deutschland.
LN: Fraunhofer unterhält internationale Standorte in den USA, Europa und auch in Asien. Ist
es möglich, dass wir auch in Tschechien eine Vertretung erwarten können?
Fraunhofer hat Tochtergesellschaften in Europa und in den Vereinigten Staaten und Chile. Fraunhofer
USA betreibt sieben Center, wie wir unsere Forschungseinheiten im Ausland nennen. In Europa
haben wir Tochtergesellschaften in Schweden, Großbritannien, Italien, Österreich und in Portugal,
wobei jedes Land ein Center hat, nur in Österreich gibt es zwei. Jede der Tochtergesellschaften erhält
Grundfinanzierung aus ihrem Land. Darüber hinaus erzielen die Center selbst Erträge über Projekte in
Zusammenarbeit mit dortiger Industrie oder in öffentlich geförderten Projekten – also im selben
Finanzierungsmodell, in dem Fraunhofer in Deutschland operiert. In Asien ist es anders. Dort unterhält
Fraunhofer representative offices, die die Vernetzung mit der lokalen Forschung und
Projektkooperationen unterstützen. Darüber hinaus haben wir in Japan und Singapur sog. project
centers, die für die Zusammenarbeit der Wissenschaftler an konkreten Projekten auf bestimmte Zeit
errichtet werden.
LN: Und die Chance für Tschechien, dass hier eine Fraunhofer-Zweigstelle oder Vertretung
entsteht?
Grundsätzlich ist die Gründung eines Kontaktbüros oder einer Tochter in jedem industrialisierten,
High-Tech-Land, zu denen sicherlich auch Tschechien zählt, möglich. Die primäre Voraussetzung ist
jedoch, zunächst eine erfolgreiche und intensive Zusammenarbeit auf der Projektebene zu etablieren.
Es ist unser Ziel, die Zusammenarbeit zwischen Fraunhofer und der tschechischen Forschung zu
intensivieren. Wenn wir es schaffen, dass tschechische und deutsche Wissenschaftler in sichtbaren
Projekten langfristig und strategisch mit der deutschen und der tschechischen Wirtschaft
zusammenarbeiten und auch erfolgreich im Rahmen europäischer Projekte sind, kann dies die
Grundlage sein, für eine lokale Präsenz von Fraunhofer, z.B. in Form eines Project Centers.
Gegenwärtig beträgt das Volumen unserer Zusammenarbeit mit der tschechischen Wirtschaft rund 1,2
Millionen Euro (ca. 33 Millionen Kronen) pro Jahr, das können wir sicher ausbauen.
LN: Welche Disziplinen sind für Sie von Interesse: Kybernetik, Maschinenbauwesen,
Biotechnologien?
Mit Botschafter und dem Dekan Valášek haben wir davon gesprochen, wie die Zusammenarbeit
verläuft und welche Partnerschaften es gibt. Die ersten Themen, ersten Ansätze, betrafen
insbesondere die Bereiche der smart materials, smart production, Infrastrukturen und smart cities. Wir
planen einen Fraunhofer-Tag in der Deutschen Botschaft im Oktober dieses Jahres durchzuführen,
um konkretes, neues Kooperationspotenzial zu identifizieren.
LN: In Tschechien sind 48 neue Forschungszentren entstanden. Nehmen Sie ihr Potential
wahr?
Einige von ihnen kenne ich, z.B. die Zentren in Brünn, oder Liberec, wo man sich der Forschung im
Bereich Textil widmet, ich weiß also von ihrem Potenzial. Gleichzeitig ist mir auch bekannt, dass
Tschechien über eine sehr ähnliche Innovationskultur wie Deutschland verfügt, womit die
Voraussetzungen für eine mögliche strategische Zusammenarbeit gegeben sind. Also ja, das Potential
ist hier vorhanden, es ist jedoch notwendig, dies von Fall zu Fall zu bewerten.
LN: Sie haben in Dresden studiert, in Chemnitz gearbeitet. Wie hat sich die Qualität der
Forschung und Ausbildung gerade in der ehemaligen DDR, dem ehemaligen Ostdeutschland
verändert?
Ich bin nicht der Meinung, dass es heute noch einen bedeutenden Unterschied zwischen westlichen
und östlichen Universitäten in Deutschland gibt. Beide Universitäten, aus denen ich stamme, sind von
guter Qualität. Wenn Sie die Technische Universität Dresden sehen, so zählt sie zu den EliteUniversitäten im Rahmen der nationalen Exzellenz-Initiative, genauso hat die Technische Universität
Chemnitz einen Exzellenz-Cluster im Bereich der Materialtechnologien. Und allgemein: in den
Ergebnissen der Studenten nach dem Bologna-Prozess, die testiert werden, wechseln sich im
Rahmen der Bundesländer an den ersten Stellen immer wieder die Studenten aus Sachsen und
Bayern ab.
LN: Haben Sie noch Zeit zu forschen? Unterrichten Sie?
Ich widme mich zwei Bereichen. Auf strategischer Ebene leite ich zusammen mit fünf
Wissenschaftlern einen Think-Tank, in dem wir uns mit der Identifizierung großer technischer
Herausforderungen befassen und daraus konkrete Projekte ableiten, an denen man arbeiten sollte, z.
B. in Anknüpfung an Industrie 4.0, IT und Energiewesen. Ich habe auch rund 70 Doktoranden an der
Technischen Universität Chemnitz. Vor zwei Wochen nahm ich wieder einmal an drei
Doktorprüfungen teil. Es ging um Simulationsmodelle in nichtlinearen Materialsystemen, in zweitem
Fall um die Regelungstechnik bei Kaskadenreglern und in drittem Fall um die Theorie der Plastizität in
der Umformtechnik ging. Es sind tatsächlich komplizierte Dinge. Bei den Prüfungen waren rund 100
Wissenschaftler zugegen, in einer solchen Gesellschaft darf man sich keine Blöße geben.
Prof. Reimund Neugebauer (62)
Seit 2012 Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, der zehnte in ihrer Geschichte
Studierte Maschinenbau an der TU Dresden (1975), Doktortitel (1984)
Seit 1994 Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik
2003-2006 Dekan der Maschinenbaufakultät an der TU Chemnitz
Träger einer ganzen Reihe von Auszeichnungen und Ehrendoktortiteln
(2007 TU Brünn, 2014 TU Prag)