BpB (Hrsg.): 60 x Deutschland (DVD-Videos und DVD-ROM) Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): 60 x Deutschland. Fernsehen macht Geschichte. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014. ISBN: /; 60x15 Min. Rezensiert von: Andreas Kötzing, HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung Die Geschichtskultur in Deutschland wird häufig von Jahrestagen geprägt. Beliebt sind Jahrgänge, die auf „9“ enden, weil dann gleich mehrere wichtige Jubiläen anfallen – zuletzt im Jahr 2009, als unter anderem an den 60. Jahrestag der doppelten deutschen Staatsgründung und an den 20. Jahrestag des Mauerfalls erinnert wurde. So nervig diese jubiläumsorientierte Erinnerungskultur auch sein mag, so wichtig ist sie für Museen, Gedenkstätten, Sachbuchverlage und TV-Geschichtsredaktionen, die mit ihren unzähligen Veröffentlichungen, Dokumentationen und Veranstaltungen um das Interesse des historisch interessierten Publikums buhlen. Über den Sinn und Unsinn von Jubiläen, die bestimmte Ereignisse – unabhängig von ihrer inhaltlichen Relevanz – alle fünf bis zehn Jahre wieder auf die geschichtspolitische Agenda setzen, kann man streiten. Das ändert aber nichts daran, dass runde Jahrestage bei der öffentlichen Auseinandersetzung mit historischen Themen eine zentrale Rolle spielen, zum Beispiel wenn es darum geht, Geschichte in didaktischer Form an ein jüngeres Publikum zu vermitteln, das die entsprechenden Ereignisse nicht selbst miterlebt hat. In diesem Kontext ist im Jubiläumsjahr 2009 beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) die aufwändige Jahresschau „60 x Deutschland“ entstanden. Die einzelnen Folgen der Reihe sind inzwischen auch auf DVD erhältlich, einschließlich eines umfangreichen pädagogischen Begleitmaterials, das vom Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Universität Münster in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) erarbeitet wurde. „60 x Deutschland“ umfasst die Jahre 1949 bis 2008 – zu jedem Jahr seit Gründung der beiden deutschen Staaten gibt es eine etwa viertelstündige Dokumentation. Das ergibt zusammengenommen ein opulentes Konvolut von etwa 15 Stunden. Was zunächst nach 2016-2-100 einem sperrigen Geschichtsmarathon klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als anschauliches Panorama, das seinen Reiz vor allem aus dem vielfältigen Bildmaterial bezieht, das überwiegend aus den Archiven der ARD-Sender und den Programmen des DDRFernsehfunks sowie den Wochenschauen in beiden deutschen Staaten zusammengestellt wurde. Ergänzt wird das historische Bildmaterial durch viele Zeitzeugeninterviews, die eigens für die Reihe produziert wurden. Der Anspruch der Serie ist dabei bewusst einfach gehalten, große historische Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt, im Gegenteil: Es geht offenkundig darum, den Zuschauer daheim auf dem Sofa „abzuholen“ und ihn mitzunehmen auf eine Reise durch die deutsche Geschichte, wie Sandra Maischberger gleich zu Beginn der ersten Folge betont – die prominente Moderatorin präsentiert alle Folgen mit einer kurzen Einleitung und einem Ausblick auf die nächste Folge. Inhaltlich verfolgt die Jahresschau von Beginn an einen gesamtdeutschen Blick: Die Entwicklungen bis 1989/90 werden in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen geschildert, meist als Gegenüberstellung, häufig aber auch mit dem Impuls, ähnliche Entwicklungen in beiden deutschen Staaten herauszustellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass in „60 x Deutschland“ komplexe historische Sachverhalte nur verkürzt dargestellt werden können. Es wäre müßig, sich darüber aufzuregen, welches wichtige Detail in jener Folge fehlt, oder welches Thema in einer anderen Folge (zu) einseitig dargestellt wird. Das 15-minütige Format bedingt zwangsläufig eine inhaltliche Reduzierung, die die RBB-Redakteure und Redakteurinnen vor eine immense Herausforderung gestellt hat: Es ging ihnen nicht nur darum, die politischen Schwerpunktthemen des jeweiligen Jahres zu beleuchten, sondern zugleich die alltäglichen und gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen im Leben der Menschen abzubilden. Das gelingt zwar nicht immer gleichermaßen gut, manche Übergänge sind holperig, auch die Themenwahl dürfte nicht selten davon abhängig gewesen zu sein, welche Bildquellen überhaupt zur Verfügung standen. Ein erhebliches Defizit besteht außerdem darin, dass nur sehr wenig Bildmaterial von den privaten © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. Fernsehsendern aufgenommen wurde – insbesondere in den Folgen zu den 1990er-Jahren und für die Zeit nach 2000 gibt es dadurch einige Lücken. Insgesamt aber bieten die einzelnen Episoden der Jahresschau gleichwohl einen kompakten und abwechslungsreichen Einblick in die historische Entwicklung Deutschlands seit den 1950er-Jahren. Dabei stößt man selbst als Fachhistoriker manchmal auf überraschende Details, die eine interessante Perspektive auf gegenwärtige Debatten werfen: Wer innert sich beispielsweise noch daran, dass ähnlich wie heute schon 1974 in der Bundesrepublik über die Abschaffung von Plastiktüten gestritten wurde? Neben der kurzweiligen Unterhaltung, die „60 x Deutschland“ bietet, stellt sich die Frage, welchen Mehrwert die Jahresschau für die politische Bildung haben kann. Die begleitende Lernsoftware der BpB und der Universität Münster bietet hierzu eine außergewöhnlich umfangreiche multimediale Basis. Mit Hilfe der Software können historische Schwerpunktthemen systematisch vertieft werden, z.B. der Mauerbau, die Verfolgung von NS-Straftätern in beiden deutschen Staaten oder die friedliche Revolution 1989/90. Arbeitsblätter und mehrstufige Aufgabenblöcke, aber auch eigene Recherchemöglichkeiten in einem digitalen Archiv bieten hierzu vielfältige Optionen. Neben der thematischen Auseinandersetzung verfolgt die Software aber auch einen medienpädagogischen Ansatz: Anhand von einzelnen Ausschnitten und Standbildern können die Nutzer und Nutzerinnen die Gestaltungsmittel der Jahresschau analysieren und ihre Wirkung hinterfragen. Wie werden die Zeitzeugeninterviews eingebettet? Welchen Einfluss hat der Kommentar auf die Bilder? Wie werden die Zuschauer bereits durch die jeweilige An- und Abmoderation der Folgen in ihrer Wahrnehmung beeinflusst? Diese und viele weitere Aspekte werden in der Software nicht nur didaktisch aufbereitet, es gibt darüber hinaus auch individuelle Gestaltungsmittel, indem man zum Beispiel einzelne Sequenzen mit einem eigenen Kommentar versehen kann, um anschließend die veränderte Wirkung der Bilder zu testen. Und das ist nur eine von vielen kreativen Möglichkeiten, die den Nutzer bzw. die Nutzerin interaktiv ein- binden. Angesichts ihrer Komplexität eignet sich die Lernsoftware wohl am ehesten für die Sekundarstufe II an weiterführenden Schulen, denkbar ist aber auch ein Einsatz an Universitäten in geschichts- und medienwissenschaftlichen Studiengängen. Unabhängig davon könnte die Jahresschau auch für die aktuell diskutierten Flüchtlings-Integrationskurse von hohem Interesse sein – auf der Website www.60xdeutschland.de gibt es die einzelnen Folgen der Reihe nicht nur in der deutschen Fassung, sondern auch in englischer und arabischer Synchronisation. Allerdings mussten die Dokumentationen hier aus rechtlichen Gründen zum Teil gekürzt werden, insbesondere bei Sportereignissen oder Musikausschnitten konnten die Bildrechte für die Online-Nutzung nicht erworben werden.1 Es wäre zweifelsohne wünschenswert, dass diese rechtlichen (und letztlich finanziellen) Probleme gelöst werden können, auch im Hinblick auf eine naheliegende Fortsetzung der Reihe über das Jahr 2008 hinaus. Dies gilt ebenso für das didaktische Begleitmaterial, das von der jetzigen DVD-Fassung idealerweise auf eine erweiterungsfähige und ständig aktualisierbare Online-Plattform übertragen werden sollte. Eine solche dauerhafte, öffentlich zugängliche und didaktisch begleitete „Jahresschau“ im Internet wäre sicher ein reizvolles Projekt, denn das nächste große Jubiläum – dann im Jahr 2019 – kommt bestimmt. HistLit 2016-2-100 / Andreas Kötzing über Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): 60 x Deutschland. Fernsehen macht Geschichte. Bonn 2014, in: H-Soz-Kult 13.05.2016. 1 <www.60xdeutschland.de> (28.04.2016). Auch die DVD-Fassung unterscheidet sich aufgrund rechtlicher Bestimmung geringfügig von der ursprünglich im Fernsehen gesendeten Fassung. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
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