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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Max Reger, der Falstaff der Musik
Teil 5
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
Redaktion:
Freitag, 13. Mai 2016
(Wiederholung von 2014)
9.05 – 10.00 Uhr
Bettina Winkler
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SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker
Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 5
… mit Thomas Rübenacker. Heute: Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 4.
MUSIK: JINGLE
Meiningen, heute eine Kreisstadt im fränkisch geprägten Südthüringen, war von
1680 an Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Meiningen und
schon immer den Künsten zugewandt. Ja, was nach verschlafener fränkischer
Provinz im Dreiländereck Thüringen, Bayern und Hessen klingt, wurde im 19.
Jahrhundert, unter der Regentschaft Herzog Georgs II., sogar zu einem
europäischen Zentrum der Theaterkunst und der Musik. Der Herzog unterhielt ein
kleines, aber feines Orchester, das von 1880 bis 85 durch den
Hofmusikintendanten Hans von Bülow zum Spitzenensemble geformt wurde –
heute würde man sagen: Berliner oder Wiener Philharmoniker en miniature.
Nachdem Brahms die Meininger Hofkapelle zum ersten Mal gehört hatte, schrieb
er an Clara Schumann: „Ich kenne jetzt auch das aller-beste Orchester
hierzulande!“, und Jahre später sprach Max Reger: „Es gibt nur ein Orchester, das
ich haben möchte: Meiningen“. Meiningen war die letzte große Herausforderung
für Reger, der Traum vom idealen „Instrument“, der ihn, als er sich mittendrin
fand, noch einmal beflügelte zu Großem, Neuem, zu Klangwirkungen, wie er sie
zwar in mancher Kammermusik schon angestrebt hatte, auf der Orgel und auch
auf dem Klavier: Aber letztlich war all das nur Ersatz gewesen … Zwar hatte er
schon vorher dirigiert, aber das jeweilige Orchester war nur wie ein geliehenes
Instrument gewesen; sein eigenes Orchester hatte er erst jetzt. Man schrieb das
Jahr 1911, Reger wurde Hofkapellmeister in Meiningen, ab 1913 mit dem Titel
„Generalmusikdirektor“. Zwar musste er das Amt schon ein Jahr später, 1914,
eines Nervenleidens wegen wieder aufgeben, aber sowieso wäre alles
zusammengebrochen, wie wir gleich erfahren werden. Zuerst jedoch blühten
sowohl der Komponist wie das Orchester noch einmal auf!
MUSIK: REGER, MOZART-VARIATIONEN, TRACK 7 + 8 (5:10)
MAX REGER, Mozart-Variationen; SO des Bayerischen Rundfunks, Colin Davis;
Philips 422 347-2 (LC 0305)
Max Reger, hier ganz der „Koloss auf tönernen Füßen“, mit der wunderbaren
sechsten und siebten seiner Mozart-Variationen op. 132, auf das Thema des
Kopfsatzes von dessen Klaviersonate A-dur KV 331 (das schon Mozart variiert
hatte). Überhaupt, Mozart: Er rückte immer weiter ins Zentrum von Regers
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Bewusstsein, ins Zentrum seiner Ästhetik. Schon bei der Serenade op. 77 sagte er,
sie sei „einfach und klar à la Mozart“, und bei der Sinfonietta op. 90 habe er
jeden Tag gebetet, „Gott der Allmächtige möchte uns einen Mozart senden; der
tut uns bitter not“. Und als er ebendieses graziöse Siciliano der Mozart-Sonate
seinen Veränderungen unterwarf, wollte er „aus dem Liedthema (…) duftigste
Gestalten (…) herausblühen lassen“ - was ihm, wie wir gerade hören konnten, ja
auch gelang. Gespielt war das allerdings nicht von der Meininger Hofkapelle,
aber einem ähnlich vorzüglichen Ensemble: dem Symphonie-Orchester des
Bayerischen Rundfunks. Der Dirigent: Sir Colin Davis.
Schreibt Rainer Cadenbach: „Im März (1911) wird Regers Anstellungsurkunde
(von Herzog Georg II.) unterzeichnet. Mit einer jährlichen Remuneration von 6000
Mark, von denen ca. 5 % in Naturalien (Korn und Holz) ausgezahlt werden,
verdient Reger deutlich mehr als bisher, und sein Gehalt (ohne Einkünfte aus
selbständiger Tätigkeit) entspricht etwa dem eines beamteten Regierungsrats.
Nach Beendigung einer Konzerttournee, die fast einen Monat dauert, stellt sich
Reger dem Meininger Orchester vor, und am 1. Dezember tritt er seinen Dienst
an. Er erreicht damit im Alter von 38 Jahren die höchste Position seiner
beruflichen Karriere und leitet das Orchester künstlerisch und organisatorisch bis
zu seinem Weggang nach Jena (… 1914), der mit dem Tod von Herzog Georg II.,
dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der hiermit verbundenen Auflösung
des Orchesters zusammenfällt. Besonders die überaus detaillierte Probenarbeit
und zahlreiche äußerst erfolgreiche Orchestertourneen führen dazu, dass der fast
schon vergessene Ruhm der 'Meininger' noch einmal wiederhergestellt wird.“
Der Meininger Konzertsaal wird nun, sozusagen, das Alchimistenlabor des Dr.
Reger, er komponiert verstärkt für Orchester, probiert neue Klangwirkungen aus
und experimentiert auch, was er sonst eher gemieden hatte, mit der Form. 1913
zum Beispiel entsteht eine der wenigen Programmmusiken in Regers „absolutem“
Oeuvre, zugleich etwas, worin er frühe Überlegungen zur Synästhesie von Malerei
und Tonsprache neu erforscht: die „Vier Tondichtungen nach A. Böcklin“, nach
dem Schweizer Symbolisten Arnold Böcklin, dem Ahnvater der großen
Surrealisten. Zu Beginn der Woche hatte ich Ihnen schon das erste Bild vorgestellt,
den „Geigenden Eremiten“, jetzt will ich mein Versprechen einlösen, das
berühmteste, „Die Toteninsel“, in der Version Regers und einer vier Jahre früher
komponierten von Sergej Rachmaninow einander gegenüberzustellen. Und, Sie
werden's kaum glauben: Die Reger-Version ist die bei weitem straffere, über die
Hälfte knappere!
Das Bild zeigt einen zypressenbewachsenen Felsen im dunklen Meer, auf dem ein
Nachen mit einem Sarg still gen Ufer fährt, gesteuert von einer verschleierten
Gestalt: dem Fährmann, der die Toten in der Unterwelt abliefert. Bei
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Rachmaninow ist das eine Fahrt ins Reich der Schatten, in eine Welt der immer
subtileren Grautöne. Kurze Episoden, die vom Vorleben der Toten künden (wie
etwa ein versprengtes Geigensolo), bleiben selbst schattenhaft, sind nur noch
Erinnerungen, die in der Luft über dem Meer oder Fluss – in der Antike: der Styx –
verwehen; wer auf die Toteninsel will, muss sich auch erst einmal trennen von den
Erinnerungen. Wenn Musik philosophisch sein kann, dann ist es gewiss
Rachmaninows Vertonung der „Toteninsel“, Musik kurz vor dem Verstummen: die
dominant stille, trostleere letzte Reise eines Komponisten, der zeitlebens unter
Schwermut litt, bis hin zur düstersten der Depressionen. Die Steigerungen kommen
in der Wellenbewegung des Wassers, und das gregorianische „Dies irae“, das
Rachmaninow so sehr liebte und so morbid oft zitierte, ist als Subtext auch hier
immer im Spiel. Das 20-minütige Stück muss ich Ihnen nun bis auf etwa ein Viertel
verkürzen; in unserer Aufnahme dirigiert Fritz Reiner das Chicago Symphony
Orchestra.
MUSIK: RACHMANINOW, DIE TOTENINSEL, TRACK 8 (20:00; ACHTUNG! BITTE BEI CA.
5:36 UNTER TEXT AUSBLENDEN!; CA. 5:39)
SERGEJ RACHMANINOW, Die Toteninsel; Chicago Symphony Orchestra, Fritz
Reiner; RCA/BMG 09026 61250 2 (LC 0316)
Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“, auralisiert einmal von Sergej
Rachmaninow, 1909 in Dresden. Übrigens ein Werk, das dem großen Zauderer
und Grübler offenbar in einem Wurf gelang: „Alle Stimmen (kamen) zugleich,
nicht ein Stück hier, ein Stück da. Alles. Das Ganze entsteht … Wann es kam, wie
es begann … wie kann ich es sagen. Es entstand in mir, wurde gehütet und
niedergeschrieben.“ Auch das ein Stück Philosophie der kreativen Arbeitswelt.
Das Chicago Symphony Orchestra spielte, der Dirigent war Fritz Reiner.
Bei Max Reger klingt „Die Toteninsel“ - erwartungsgemäß? - ganz anders: Sie lebt
noch mehr, die tote Insel. Kein abgründiges misterioso hier, kein Eiland, das
weniger von Zy- als von Depressen bewachsen scheint. Reger bemüht sich zwar
ebenfalls um fahle Klänge, aber seine Leichen sind eher pausbäckig und stehen
noch gut im Saft. Auch können sie sich noch gegen ihr Schicksal aufbäumen, wie
gelegentliche Klangeruptionen suggerieren. Richard Wagner kommt in den Sinn,
aber für den Meister von „Siegfrieds Tod und Trauermarsch“ ist Regers
Programmmusik immer noch zu lebensprall. Dafür ist der „Accordarbeiter“
diesmal mit knapp über acht Minuten beinahe ein Gehetzter – gegen
Rachmaninows 20 Minuten. Dem Herzog Georg zwei schrieb sein GMD damals:
„In der Toteninsel wechselt öde, trostloseste Verzweiflung mit rasenden
Schmerzensausbrüchen – am Schluss dann eine große Verklärung; merkwürdig,
dass gerade die schauerliche Musik auf das Publikum solch großen Eindruck
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machte ...“ Nun, das ist jedenfalls neu: Den Tod-und-Verklärungs-Aspekt findet
man in Rachmaninows „Toteninsel“ nicht; dort endet die letzte Bootsfahrt zu
trostleer-endgültig. Hören wir Max Regers Version jetzt vom ConcertgebouwOrchester Amsterdam, der Dirigent ist Neeme Järvi.
MUSIK: REGER, DIE TOTENINSEL, TRACK 3 (8:22)
REGER, Die Toteninsel; Concertgebouw-Orchester Amsterdam, Neeme Järvi;
Chandos 8794 (KEIN LC!)
Max Regers „Toteninsel“ aus den „Vier Tondichtungen nach A. Böcklin“, mit dem
Concertgebouw-Orchester unter Neeme Järvi.
Einmal, ein einziges Mal verließ Reger sein inzwischen untrüglicher Instinkt für
orchestrale Wirkungen. Die „duftigsten Gestalten“, die er in den MozartVariationen selber aus dem Siciliano-Thema „herausblühen“ sah, hätten nicht
unbedingt nach dieser etwas pompösen Doppelfuge zum Schluss verlangt. Ein
nicht sonderlich spektakulärer, aber sehr kluger Dirigent wie Hans SchmidtIsserstedt hörte hier immer „den Auftritt des Trompeters von Säckingen“, und der
war vor allem eines: laut. Natürlich kann ein gewiefter Kontrapunktiker wie Reger
kaum anders, als mit einer Schlussfuge das musikalische Material und die eigenen
Künste zu „sieghaftem“ Ausklang zu bündeln; da aber die Gestimmtheit der
Mozart-Variationen schon so deutlich sich unterschied von Regers früheren
Veränderungs-Apotheosen – warum sollte er nicht auch eine andere Art von
Schluss finden? Anders als bei den Beethoven-Variationen komponierte Reger
hier zuerst für Orchester, dann stellte er eine Fassung für Klavier zu vier Händen
her. Und hier wie dort ist das Original – bei Beethoven sind es zwei Klaviere –
vorzuziehen. Nur wird bei Mozart das Trompetengeschmetter am Schluss der
Fuge eben doch erträglicher in der Klavierfassung; sie scheint die Passage zu
enthymnen, sie auf sanfte und somit dem Rest des Werkes kompatiblere Art zu
versachlichen.
MUSIK: REGER, MOZART-VARIATIONEN (KLAVIER ZU 4 HÄNDEN), TRACK 29 (7:34)
REGER, Mozart-Variationen (Fuge); Yaara Tal, Andreas Groethuysen; Sony SK 47
671 (LC 6868)
Max Reger, die Schlussfuge seiner Mozart-Variationen op. 132a, des Meisters
eigene Transkrition für Klavier zu vier Händen, was ein bisschen den Pomp des
Schlusses abmildert. Yaara Tal und Andreas Groethuysen spielten.
Gerätselt wurde, warum Max Regers letzte Orchesterkomposition ausgerechnet
„Eine vaterländische Ouvertüre“ sein musste, sein Opus 140. Die einen nannten es
eine „prügelharte deutsche Polyphonie“, die andern die letzte „Zuckung eines
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alkoholkranken Geistes, der schon beim Militärdienst versagt hat“. Uraufgeführt
wurde das Werk am 8. Januar 1915 in Wiesbaden, im nämlichen Konzert wie die
Mozart-Variationen, der Komponist selbst dirigierte mit seinem klobigen Stab und
den beinahe karikierend überdeutlichen Bewegungen. Keine Frage, dass später
die Nazis, die sich in ihrem Rassenwahn um einige der größten Stücke Musik
brachten, auf diesen vermeintlich patriotischen Reger-Schinken stürzten, dieses
Hexenlied aus Nationalhymne, der heroischen „Wacht am Rhein“, dem schon
etwas defätistischeren „Ich hab' mich ergeben“, alles gut verrührt mit dem
Choral aus dem Dreißigjährigen Krieg, „Nun danket alle Gott“: Das hielten die
Nationalsozialisten für Kriegs-Verherrlichung, wo doch dem ewigen Plattfuß Reger
nichts ferner lag als militaristisches Hurra!-Geschrei; er hatte ja noch nicht einmal
den sehr merkwürdigen „Aufruf an die Kulturwelt“ mit unterschrieben, worin 93
deutsche Geistesgrößen am 4. Oktober 1914 bekundeten, Krieg sei der Vater
aller Dinge und ergo auch Praeceptor deutscher Kultur. Sogar die Widmung
„Dem deutschen Heere!“ muss man nicht als musikalische Mobilmachung
verstehen, nicht als Glorifizierung des Feldherrnhügels, sondern als compassio fürs
Fußvolk, für das millionenfach anonymisierte „Kanonenfutter“. So schrieb er auch
in einem Brief an einen Freund: „Was ich unter 'Deutschthum' (…) verstehe, ist
natürlich nicht Chauvinismus – ist ganz und gar unpolitisch; der Ausdruck
Deutschthum ist für mich da eben nur 'Gattungsbegriff'; wir könnten ebenso
sagen 'bachisch'; das heißt, aus Bach'schem Geiste geboren.“ Mit anderen
Worten: Was die Anhänger des Werks im Dritten Reich natürlich übersahen (und
gewiss auch übersehen mussten): Die Absicht zu Max Regers „Vaterländischer
Ouvertüre“, seinem (wie er sagte) Beitrag zum „Weltkrieg deutschen Geistes“,
war eigentlich eine zutiefst pazifistische …
MUSIK: REGER, EINE VATERLÄNDISCHE OUVERTÜRE, CD 2, TRACK 14 (14:01;
ACHTUNG! BITTE AM ENDE – CA. 15-20 SEC FÜR ABSAGE – RECHTZEITIG
AUSBLENDEN!)
REGER, Eine vaterländische Ouvertüre; Städtisches Orchester Berlin, Robert Heger;
Guild 2400/01 (LC 14392)