SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Max Reger, der Falstaff der Musik Teil 5 Von Thomas Rübenacker Sendung: Redaktion: Freitag, 13. Mai 2016 (Wiederholung von 2014) 9.05 – 10.00 Uhr Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Der Herzog unterhielt ein kleines, aber feines Orchester, das von 1880 bis 85 durch den Hofmusikintendanten Hans von Bülow zum Spitzenensemble geformt wurde – heute würde man sagen: Berliner oder Wiener Philharmoniker en miniature. Nachdem Brahms die Meininger Hofkapelle zum ersten Mal gehört hatte, schrieb er an Clara Schumann: „Ich kenne jetzt auch das aller-beste Orchester hierzulande!“, und Jahre später sprach Max Reger: „Es gibt nur ein Orchester, das ich haben möchte: Meiningen“. Meiningen war die letzte große Herausforderung für Reger, der Traum vom idealen „Instrument“, der ihn, als er sich mittendrin fand, noch einmal beflügelte zu Großem, Neuem, zu Klangwirkungen, wie er sie zwar in mancher Kammermusik schon angestrebt hatte, auf der Orgel und auch auf dem Klavier: Aber letztlich war all das nur Ersatz gewesen … Zwar hatte er schon vorher dirigiert, aber das jeweilige Orchester war nur wie ein geliehenes Instrument gewesen; sein eigenes Orchester hatte er erst jetzt. Man schrieb das Jahr 1911, Reger wurde Hofkapellmeister in Meiningen, ab 1913 mit dem Titel „Generalmusikdirektor“. Zwar musste er das Amt schon ein Jahr später, 1914, eines Nervenleidens wegen wieder aufgeben, aber sowieso wäre alles zusammengebrochen, wie wir gleich erfahren werden. Zuerst jedoch blühten sowohl der Komponist wie das Orchester noch einmal auf! MUSIK: REGER, MOZART-VARIATIONEN, TRACK 7 + 8 (5:10) MAX REGER, Mozart-Variationen; SO des Bayerischen Rundfunks, Colin Davis; Philips 422 347-2 (LC 0305) Max Reger, hier ganz der „Koloss auf tönernen Füßen“, mit der wunderbaren sechsten und siebten seiner Mozart-Variationen op. 132, auf das Thema des Kopfsatzes von dessen Klaviersonate A-dur KV 331 (das schon Mozart variiert hatte). Überhaupt, Mozart: Er rückte immer weiter ins Zentrum von Regers 3 Bewusstsein, ins Zentrum seiner Ästhetik. Schon bei der Serenade op. 77 sagte er, sie sei „einfach und klar à la Mozart“, und bei der Sinfonietta op. 90 habe er jeden Tag gebetet, „Gott der Allmächtige möchte uns einen Mozart senden; der tut uns bitter not“. Und als er ebendieses graziöse Siciliano der Mozart-Sonate seinen Veränderungen unterwarf, wollte er „aus dem Liedthema (…) duftigste Gestalten (…) herausblühen lassen“ - was ihm, wie wir gerade hören konnten, ja auch gelang. Gespielt war das allerdings nicht von der Meininger Hofkapelle, aber einem ähnlich vorzüglichen Ensemble: dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks. Der Dirigent: Sir Colin Davis. Schreibt Rainer Cadenbach: „Im März (1911) wird Regers Anstellungsurkunde (von Herzog Georg II.) unterzeichnet. Mit einer jährlichen Remuneration von 6000 Mark, von denen ca. 5 % in Naturalien (Korn und Holz) ausgezahlt werden, verdient Reger deutlich mehr als bisher, und sein Gehalt (ohne Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit) entspricht etwa dem eines beamteten Regierungsrats. Nach Beendigung einer Konzerttournee, die fast einen Monat dauert, stellt sich Reger dem Meininger Orchester vor, und am 1. Dezember tritt er seinen Dienst an. Er erreicht damit im Alter von 38 Jahren die höchste Position seiner beruflichen Karriere und leitet das Orchester künstlerisch und organisatorisch bis zu seinem Weggang nach Jena (… 1914), der mit dem Tod von Herzog Georg II., dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der hiermit verbundenen Auflösung des Orchesters zusammenfällt. Besonders die überaus detaillierte Probenarbeit und zahlreiche äußerst erfolgreiche Orchestertourneen führen dazu, dass der fast schon vergessene Ruhm der 'Meininger' noch einmal wiederhergestellt wird.“ Der Meininger Konzertsaal wird nun, sozusagen, das Alchimistenlabor des Dr. Reger, er komponiert verstärkt für Orchester, probiert neue Klangwirkungen aus und experimentiert auch, was er sonst eher gemieden hatte, mit der Form. 1913 zum Beispiel entsteht eine der wenigen Programmmusiken in Regers „absolutem“ Oeuvre, zugleich etwas, worin er frühe Überlegungen zur Synästhesie von Malerei und Tonsprache neu erforscht: die „Vier Tondichtungen nach A. Böcklin“, nach dem Schweizer Symbolisten Arnold Böcklin, dem Ahnvater der großen Surrealisten. Zu Beginn der Woche hatte ich Ihnen schon das erste Bild vorgestellt, den „Geigenden Eremiten“, jetzt will ich mein Versprechen einlösen, das berühmteste, „Die Toteninsel“, in der Version Regers und einer vier Jahre früher komponierten von Sergej Rachmaninow einander gegenüberzustellen. Und, Sie werden's kaum glauben: Die Reger-Version ist die bei weitem straffere, über die Hälfte knappere! Das Bild zeigt einen zypressenbewachsenen Felsen im dunklen Meer, auf dem ein Nachen mit einem Sarg still gen Ufer fährt, gesteuert von einer verschleierten Gestalt: dem Fährmann, der die Toten in der Unterwelt abliefert. Bei 4 Rachmaninow ist das eine Fahrt ins Reich der Schatten, in eine Welt der immer subtileren Grautöne. Kurze Episoden, die vom Vorleben der Toten künden (wie etwa ein versprengtes Geigensolo), bleiben selbst schattenhaft, sind nur noch Erinnerungen, die in der Luft über dem Meer oder Fluss – in der Antike: der Styx – verwehen; wer auf die Toteninsel will, muss sich auch erst einmal trennen von den Erinnerungen. Wenn Musik philosophisch sein kann, dann ist es gewiss Rachmaninows Vertonung der „Toteninsel“, Musik kurz vor dem Verstummen: die dominant stille, trostleere letzte Reise eines Komponisten, der zeitlebens unter Schwermut litt, bis hin zur düstersten der Depressionen. Die Steigerungen kommen in der Wellenbewegung des Wassers, und das gregorianische „Dies irae“, das Rachmaninow so sehr liebte und so morbid oft zitierte, ist als Subtext auch hier immer im Spiel. Das 20-minütige Stück muss ich Ihnen nun bis auf etwa ein Viertel verkürzen; in unserer Aufnahme dirigiert Fritz Reiner das Chicago Symphony Orchestra. MUSIK: RACHMANINOW, DIE TOTENINSEL, TRACK 8 (20:00; ACHTUNG! BITTE BEI CA. 5:36 UNTER TEXT AUSBLENDEN!; CA. 5:39) SERGEJ RACHMANINOW, Die Toteninsel; Chicago Symphony Orchestra, Fritz Reiner; RCA/BMG 09026 61250 2 (LC 0316) Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“, auralisiert einmal von Sergej Rachmaninow, 1909 in Dresden. Übrigens ein Werk, das dem großen Zauderer und Grübler offenbar in einem Wurf gelang: „Alle Stimmen (kamen) zugleich, nicht ein Stück hier, ein Stück da. Alles. Das Ganze entsteht … Wann es kam, wie es begann … wie kann ich es sagen. Es entstand in mir, wurde gehütet und niedergeschrieben.“ Auch das ein Stück Philosophie der kreativen Arbeitswelt. Das Chicago Symphony Orchestra spielte, der Dirigent war Fritz Reiner. Bei Max Reger klingt „Die Toteninsel“ - erwartungsgemäß? - ganz anders: Sie lebt noch mehr, die tote Insel. Kein abgründiges misterioso hier, kein Eiland, das weniger von Zy- als von Depressen bewachsen scheint. Reger bemüht sich zwar ebenfalls um fahle Klänge, aber seine Leichen sind eher pausbäckig und stehen noch gut im Saft. Auch können sie sich noch gegen ihr Schicksal aufbäumen, wie gelegentliche Klangeruptionen suggerieren. Richard Wagner kommt in den Sinn, aber für den Meister von „Siegfrieds Tod und Trauermarsch“ ist Regers Programmmusik immer noch zu lebensprall. Dafür ist der „Accordarbeiter“ diesmal mit knapp über acht Minuten beinahe ein Gehetzter – gegen Rachmaninows 20 Minuten. Dem Herzog Georg zwei schrieb sein GMD damals: „In der Toteninsel wechselt öde, trostloseste Verzweiflung mit rasenden Schmerzensausbrüchen – am Schluss dann eine große Verklärung; merkwürdig, dass gerade die schauerliche Musik auf das Publikum solch großen Eindruck 5 machte ...“ Nun, das ist jedenfalls neu: Den Tod-und-Verklärungs-Aspekt findet man in Rachmaninows „Toteninsel“ nicht; dort endet die letzte Bootsfahrt zu trostleer-endgültig. Hören wir Max Regers Version jetzt vom ConcertgebouwOrchester Amsterdam, der Dirigent ist Neeme Järvi. MUSIK: REGER, DIE TOTENINSEL, TRACK 3 (8:22) REGER, Die Toteninsel; Concertgebouw-Orchester Amsterdam, Neeme Järvi; Chandos 8794 (KEIN LC!) Max Regers „Toteninsel“ aus den „Vier Tondichtungen nach A. Böcklin“, mit dem Concertgebouw-Orchester unter Neeme Järvi. Einmal, ein einziges Mal verließ Reger sein inzwischen untrüglicher Instinkt für orchestrale Wirkungen. Die „duftigsten Gestalten“, die er in den MozartVariationen selber aus dem Siciliano-Thema „herausblühen“ sah, hätten nicht unbedingt nach dieser etwas pompösen Doppelfuge zum Schluss verlangt. Ein nicht sonderlich spektakulärer, aber sehr kluger Dirigent wie Hans SchmidtIsserstedt hörte hier immer „den Auftritt des Trompeters von Säckingen“, und der war vor allem eines: laut. Natürlich kann ein gewiefter Kontrapunktiker wie Reger kaum anders, als mit einer Schlussfuge das musikalische Material und die eigenen Künste zu „sieghaftem“ Ausklang zu bündeln; da aber die Gestimmtheit der Mozart-Variationen schon so deutlich sich unterschied von Regers früheren Veränderungs-Apotheosen – warum sollte er nicht auch eine andere Art von Schluss finden? Anders als bei den Beethoven-Variationen komponierte Reger hier zuerst für Orchester, dann stellte er eine Fassung für Klavier zu vier Händen her. Und hier wie dort ist das Original – bei Beethoven sind es zwei Klaviere – vorzuziehen. Nur wird bei Mozart das Trompetengeschmetter am Schluss der Fuge eben doch erträglicher in der Klavierfassung; sie scheint die Passage zu enthymnen, sie auf sanfte und somit dem Rest des Werkes kompatiblere Art zu versachlichen. MUSIK: REGER, MOZART-VARIATIONEN (KLAVIER ZU 4 HÄNDEN), TRACK 29 (7:34) REGER, Mozart-Variationen (Fuge); Yaara Tal, Andreas Groethuysen; Sony SK 47 671 (LC 6868) Max Reger, die Schlussfuge seiner Mozart-Variationen op. 132a, des Meisters eigene Transkrition für Klavier zu vier Händen, was ein bisschen den Pomp des Schlusses abmildert. Yaara Tal und Andreas Groethuysen spielten. Gerätselt wurde, warum Max Regers letzte Orchesterkomposition ausgerechnet „Eine vaterländische Ouvertüre“ sein musste, sein Opus 140. Die einen nannten es eine „prügelharte deutsche Polyphonie“, die andern die letzte „Zuckung eines 6 alkoholkranken Geistes, der schon beim Militärdienst versagt hat“. Uraufgeführt wurde das Werk am 8. Januar 1915 in Wiesbaden, im nämlichen Konzert wie die Mozart-Variationen, der Komponist selbst dirigierte mit seinem klobigen Stab und den beinahe karikierend überdeutlichen Bewegungen. Keine Frage, dass später die Nazis, die sich in ihrem Rassenwahn um einige der größten Stücke Musik brachten, auf diesen vermeintlich patriotischen Reger-Schinken stürzten, dieses Hexenlied aus Nationalhymne, der heroischen „Wacht am Rhein“, dem schon etwas defätistischeren „Ich hab' mich ergeben“, alles gut verrührt mit dem Choral aus dem Dreißigjährigen Krieg, „Nun danket alle Gott“: Das hielten die Nationalsozialisten für Kriegs-Verherrlichung, wo doch dem ewigen Plattfuß Reger nichts ferner lag als militaristisches Hurra!-Geschrei; er hatte ja noch nicht einmal den sehr merkwürdigen „Aufruf an die Kulturwelt“ mit unterschrieben, worin 93 deutsche Geistesgrößen am 4. Oktober 1914 bekundeten, Krieg sei der Vater aller Dinge und ergo auch Praeceptor deutscher Kultur. Sogar die Widmung „Dem deutschen Heere!“ muss man nicht als musikalische Mobilmachung verstehen, nicht als Glorifizierung des Feldherrnhügels, sondern als compassio fürs Fußvolk, für das millionenfach anonymisierte „Kanonenfutter“. So schrieb er auch in einem Brief an einen Freund: „Was ich unter 'Deutschthum' (…) verstehe, ist natürlich nicht Chauvinismus – ist ganz und gar unpolitisch; der Ausdruck Deutschthum ist für mich da eben nur 'Gattungsbegriff'; wir könnten ebenso sagen 'bachisch'; das heißt, aus Bach'schem Geiste geboren.“ Mit anderen Worten: Was die Anhänger des Werks im Dritten Reich natürlich übersahen (und gewiss auch übersehen mussten): Die Absicht zu Max Regers „Vaterländischer Ouvertüre“, seinem (wie er sagte) Beitrag zum „Weltkrieg deutschen Geistes“, war eigentlich eine zutiefst pazifistische … MUSIK: REGER, EINE VATERLÄNDISCHE OUVERTÜRE, CD 2, TRACK 14 (14:01; ACHTUNG! BITTE AM ENDE – CA. 15-20 SEC FÜR ABSAGE – RECHTZEITIG AUSBLENDEN!) REGER, Eine vaterländische Ouvertüre; Städtisches Orchester Berlin, Robert Heger; Guild 2400/01 (LC 14392)
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