SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Max Reger, der Falstaff der Musik
Teil 4
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
Redaktion:
Donnerstag, 12. Mai 2016
(Wiederholung von 2014)
9.05 – 10.00 Uhr
Bettina Winkler
Bitte beachten Sie:
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SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker
Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 4
… mit Thomas Rübenacker. Heute: Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 4.
MUSIK: JINGLE
Wer die ersten drei Musikstunden dieser Woche gehört hat, könnte den Eindruck
gewinnen, Max Reger sei ein zwar lebenslustiger und schaffensfroher, aber
letztlich erfolgloser Komponist gewesen, den heute keiner mehr kennen müsste –
und jener Hörer könnte sich wundern, weshalb über eine solche Fußnote der
Musikgeschichte der doch gewaltige Aufwand einer ganzen
Musikstundenwoche gemacht würde. Nun, so ist es natürlich nicht. Max Reger
war eine der faszinierendsten, schwerst greifbaren Künstlerpersönlichkeiten auf
der Schwelle vom 19. ins 20. Jahrhundert, ein genialer Komponist, der schon zu
seinen Lebzeiten größte Erfolge hatte – der andere, schaffensfrohe, aber letztlich
erfolglose Tonsetzer, das wäre in jenen Tagen vielleicht Carl Frühling, den heute
sogar die wichtigen Nachschlagewerke nicht mehr kennen. Bei Reger wuchs der
Ruhm noch, auch wenn er, wie es der Titel einer Publikation über ihn formuliert,
„Zwischen allen Stühlen“ saß. Bequem ist Reger auch heute noch nicht, sieht man
einmal von den „Mozart-Variationen“ ab. Skandale produzierten damals viele;
Maurice Ravel hielt man seines „Boléros“ wegen für einen „Verrückten“,
Strawinsky wegen „Le sacre du printemps“, und Richard Strauss wurde wegen
des Einakters „Salome“ in einer Kritik ernsthaft „Volkszersetzung“ vorgeworfen.
Heute sind das allesamt: Klassiker. Bei Max Reger ist das nicht so einfach. Er
widersetzt sich auch heute noch, nun bald 100 Jahre nach seinem Todestag, der
Vereinnahmung als „Klassiker“, er bleibt auch heute noch vielfach fremd und
„zwischen den Stühlen“. Der Erfolg damals kam quasi über Nacht, er war ein
sogenannter „Durchbruch“ - und er hatte auch noch mit einem genialen Geiger
zu tun, der wie geboren war für Regers komplexe Musiksprache: der DeutschFranzose Henri Marteau.
MUSIK: REGER, VIOLINSONATE C-DUR, TRACK 1 (13:20)
MAX REGER, Violinsonate C-dur; Ulf Wallin, Roland Pöntinen; cpo 999 857-2 (LC
8492)
Max Reger, der Kopfsatz der Violinsonate C-dur op. 72, ein Allegro con spirito,
gespielt von Ulf Wallin und Roland Pöntinen. Dieses Werk, das Reger mit dem
kongenialen Geiger Henri Marteau in München uraufführte, war so etwas wie sein
„Durchbruch“ als Komponist. Allerdings nicht in München – sondern in Frankfurt.
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Schreibt Susanne Popp: „Warum erboste sich Reger derart über die 'Münchner
Clique', dass er, allem guten Zureden Mottls zum Trotz, bald seine Stellung an der
Akademie der Tonkunst aufgab, die seine Einbindung in die Musikszene hätte
befördern können? Vermutlich waren es die auswärtigen Erfolge, die ihn zu
Hause so hellhörig und dünnhäutig machten. Der Wendepunkt zur Popularität
lässt sich genau terminieren: Beim Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen
Musikvereins hatte er mit dem bekannten Geiger Henri Marteau Ende Mai 1904 in
Frankfurt seine Violinsonate C-dur op. 72 vorgetragen, in der er mit berühmtberüchtigten Motiven über die Tonbuchstaben es-c-h-a-f-e und a-f-f-e“ (mithin:
Schafe und Affe) „und der vieldeutigen Widmung 'An viele' die Kritiker attackiert.
Die Sonate ist das aufregendste, aber auch skandalöseste Werk des Musikfests,
das ihn zum enfant terrible der deutschen Kammermusik befördert und den
Auftakt für eine Doppelexistenz als Komponist und reisender Interpret gibt;
angetrieben von der inneren Unruhe, sein Werk durchsetzen zu müssen, wird er
von nun an kaum ein Engagement ablehnen und auf kräfteraubende Touren
durch die Konzertsäle Deutschlands und bald auch der Nachbarländer gehen.“
Übrigens wird die Sonate in der kommenden Saison mit ähnlichem Erfolg in Berlin
aufgeführt, danach noch in Genf und Lausanne – Regers erste Auslandskonzerte.
Danach geht es Schlag auf Schlag. Nach den Bach-Variationen für Klavier zu
zwei Händen, die ich Ihnen bereits am Dienstag vorstellte, entstehen in der
Sommerfrische des Starnberger Sees, bei einem befreundeten Künstlerehepaar,
die Beethoven-Variationen für zwei Klaviere op. 86, ein weiterer großer Erfolg für
Max Reger, den er 146-mal in seinen Konzerten aufs Programm setzt. Während er
in den Bach-Variationen das Vermögen des einen Instruments schier zu sprengen
schien, erreicht er nun orchestrale Klangwirkung auf ganz „natürliche“,
ungezwungene Weise, die neuen Variationen besitzen alle Qualitäten der alten,
darüberhinaus aber unforcierte Linienführung, transparenten Kontrapunkt und ein
non plus ultra an sensibler Klangmischung. Aus dem Kleinsten – nämlich einer
Klavier-Bagatelle Beethovens, der Nr. 11 aus Opus 119 – entwickelt sich das
Größte, die abschließende Fuge, in der sich die verschiedenen Charaktere der
Variationen noch einmal auf engstem Raume bündeln. Eine Fülle penibler
Vortragsbezeichnungen gibt die Form vor, die beiden Interpreten sollten
idealerweise bravouröse Tastenlöwen sein, die zugleich aber höchst wach und
sensibel auf die Veränderungen der Gestimmtheit reagieren müssen. Daher
wurde das Werk, obwohl stets erfolgreich, nicht so oft gespielt, da sich selten zwei
überragende Solisten finden, die sich gemeinsam dazu niedersetzen, ohne dass
der Blick auf den eigenen Ruhm den Sinn für uneitles Duettieren trübte. Übrigens
ging der Komponist hier den umgekehrten Weg wie bei den Mozart-Variationen,
die er nach der Orchesterfassung für zwei Klaviere bearbeitete; von den
Beethoven-Variationen reichte er die Orchesterfassung nach, die dem
zweiklavierigen Original jedoch, bei aller Raffinesse, deutlich unterlegen ist. Hören
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wir zunächst die originale Beethoven-Bagatelle, gespielt von Ronald Brautigam
auf dem Fortepiano.
MUSIK: BEETHOVEN, BAGATELLE OP. 119/11, TRACK 26 (1:17)
BEETHOVEN, Bagatelle op. 119/11; Ronald Brautigam; BIS-SACD-1882
Das Thema von Max Regers Beethoven-Variationen: die Bagatelle op. 119/11,
hier gespielt von Ronald Brautigam auf einem Fortepiano, das Paul McNulty
einem Instrument von Conrad Graf aus der Beethovenzeit nachbaute. - Hört man
dieses bescheidene, eher nachdenkliche kleine Stück Musik, kann man nur
staunen, was für zum Teil geradezu dämonische Wirkungen Max Reger daraus
herausliest – mitunter ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle, das auch ein
scheinbar so unschuldiges Werk als Komprimat aufzeigt, als Substrat vieler
verschiedener Gestalten, die es nur zu wecken gilt. Ansonsten eignet sich das
Stück mit seiner dialogischen Melodiebildung natürlich ganz exzellent zur
Transkription für zwei Klaviere. Aber hier habe ich wieder das bereits bekannte
Problem: Ich kann in einer 55-Minuten-Sendung kein Stück spielen, das über eine
halbe Stunde lang ist. Und da wir das Thema bereits im Original hörten, springe
ich jetzt gleich zur Schlussfuge der Reger'schen Variationen, unter Aussparung der
variativen Entwicklung dazwischen. Es spielen András Schiff und Peter Serkin, und
dem Moderator blutet das Herz …
MUSIK: REGER, BEETHOVEN-VARIATIONEN (FUGE), CD 1, TRACK 15 (5:48)
REGER, Beethoven-Variationen (Fuge); András Schiff, Peter Serkin; ECM 1676/77
(LC 02516)
Die Schlussfuge von Max Regers Beethoven-Variationen für zwei Klaviere, gespielt
von András Schiff und Peter Serkin.
Als die „Münchner Clique“ der Kollegen und Kritiker dem Komponisten
zunehmend als Haufen von Philistern erscheint, also kulturfremden Banausen, und
als er immer größere Erfolge im „deutschen Ausland“ feiert, aber eben auch im
tatsächlichen Ausland – zeichnet sich bald ab, dass eine „Luftveränderung“
angesagt wäre. Die Chance dazu bietet sich ausgerechnet, als Reger
konzertierend im badischen Karlsruhe weilt: ein Ruf nach Leipzig, in glänzender
Doppelfunktion an der Universität und am Konservatorium, und noch dazu in
einer Stadt, die ihm bereits höchste Anerkennung gezollt hatte. Schon 1904 hatte
Reger seiner Frau nach einem Leipziger Konzert geschrieben: „Man ist hier toll auf
Reger!“ - eine durchaus realistische Einschätzung, wie der Kritiker der „Leipziger
Zeitung“, Arthur Smolian, bildkräftig bestätigt. Nachdem er schwärmte, Reger
und Strauss seien die spannendsten und wirkmächtigsten Komponisten seiner Zeit,
malt er verbal ein Bild zwischen Caspar David Friedrich und Couch-Kitsch: „Auf
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seinem aus starken Formenplanken der Bach-Beethoven-Brahmsschen Kunst
gezimmerten Wikingerschiffe“ steuere
Reger „immer weiter in das unbegrenzte Tönemeer hinaus, (er führe die Musik)
durch brausende chromatische Gischt (und) entfesselte Klangmomente“ zur
glücklichen Landung: „Heller Jubel umbrauste den Komponisten (…), und
allerseits schied man wohl mit dem lebhaften Wunsche, den tollkühnen und doch
so wegsicheren Ozeanfahrer Max Reger bald wieder einmal in unserer alten
'Seestadt' an Land gehen zu hören.“ Das ist natürlich von beträchtlicher Komik;
wenn ich mir den „tollkühnen Ozeanfahrer“ Reger auf einem echten Kahn
vorstelle, sehe ich ihn noch verzweifelter über die Reling reihern als den PräHolländer-Richard-Wagner auf seiner Überfahrt nach England …
Nun aber begann Regers Verleger Henri Hinrichsen, der Besitzer des C. F. PetersVerlags, sich zu sorgen, dass sein Zugpferd eventuell auf zu vielen Hochzeiten
tanze und ihm nicht genügend „Stoff“ liefern würde, den er verkaufen könnte.
Der Gedanke war nicht unbegründet: Die akademische Doppelbelastung
zusammen mit den häufigen Konzertreisen führte dazu, wie der Komponist einem
Freunde schreibt, dass er im Konzertwinter 1906/7 „keine Note zu Papier
gebracht“ hätte, lediglich auf Zugfahrten Kompositionspläne ausgeheckt. Dabei
konnte Hinrichsen noch froh sein: Wäre Reger kein Katholik gewesen, sondern
Protestant, hätte man ihm auch noch das Organistenamt an der Pauluskirche
aufgehalst – und der Rege, der in seiner Arbeit so Unermüdliche hätte auch das
nicht abgelehnt. Trotzdem fühlte sich der Herr Verleger zu einer Verzweiflungstat
hingerissen: Er überwies Reger eine „Ehrengabe“ von 10.000 Mark, das war mehr
als das Dreifache seines Jahresgehalts am Konservatorium, mit der
ausdrücklichen Maßgabe, die Konzerttätigkeit vom 1. April 1907 bis zum 31. März
1908 so einzuschränken, dass er genügend Zeit zum Komponieren fände. Und so
geschah's: Außer den Hiller-Variationen, von denen ich schon sprach, entstand in
dieser Zeit zum Beispiel das folgende der „Eisenbahnprojekte“.
MUSIK: REGER, VIOLINKONZERT, TRACK 3 (26:51; ACHTUNG! BITTE BEI CA. 6:54
UNTER TEXT CA. 5-7 SEC LANG RAUSGEHEN!; CA. 7:00)
REGER, Violinkonzert A-dur; Kolja Lessing, Göttinger Symphonie-Orchester,
Christoph-Mathias Mueller; telos music 097 (LC 02966)
Das Violinkonzert A-dur op. 101, der Kopfsatz, ein Allegro moderato: ein einziger
Satz, der allein beinahe eine halbe Stunde dauert! Kolja Lessing spielte den
Solopart, das Göttinger Symphonie-Orchester spielte die von dem Geiger Adolf
Busch leicht gestraffte Orchesterfassung, der Dirigent war Christoph-Mathias
Mueller.
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In jenen Tagen sammelt Max Reger (zu seiner höchsten Genugtuung) auch alle
möglichen akademischen Ehren ein: Er ist jetzt endgültig Mitglied der
„gehobenen“ Gesellschaft, verkehrt auf Augenhöhe mit Kommerzienräten und
Universitätsprofessoren. Das erinnert mich an diesen schönen, altmodischen Satz
von Eugen Segnitz, dass in Regers Elternhaus „sogar Frau Sorge (…) zuweilen wohl
im Vorübergehen durchs Fenster lugen (mochte).“ Jetzt, in Leipzig, wäre das gar
nicht mehr möglich gewesen: In den hochherrschaftlichen Wohnungen lagen
selbst die Parterrefenster so hoch, dass „Frau Sorge“ sich auf die Zehenspitzen
hätte stellen können – und trotzdem nicht in die gute Stube blicken … 1910
verlieh die Medizinische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin Max Reger den Titel Dr. med. honoris causa, Anlass für die (wenigen)
Spötter, die ihm noch geblieben waren, das angeblich „Kranke“ in seiner Musik
zu erwähnen; so sei z. B. das Klavierquartett d-moll eine „Vertonung“ der
Krankenakten von Nervenpatienten, die „Dr. med.“ Max Reger schonungslos aus
den Schatten der Anstalt ins Licht der Weltöffentlichkeit zerrte. Ja, es ist
erstaunlich, aber immer noch schlägt dem Komponisten mitunter blanker Hass
entgegen. Allerdings nicht von den Magnifizenzen. Auch die Philosophische
Fakultät der Universität Jena will anlässlich des 350-jährigen Universitätsjubiläums
nicht abseits stehen: Sie ehrt den berühmten Mann – und damit letztlich: sich
selbst – mit dem Titel Dr. phil. honoris causa. Und Reger dankt mit Komposition
und Widmung eines weiteren monumentalen Werkes, des 100. Psalms für Chor,
Orchester und Orgel op. 106, dessen ersten Teil der Reger-Freund Fritz Stein denn
auch glanzvoll zur Uraufführung bringt. Wieder würde die halbe Stunde Spielzeit
unsere Sendung sprengen, deshalb hören wir jetzt eben, so weit wir kommen …
MUSIK: REGER, 100. PSALM, 29:15 – BITTE CA. 20 SEC VOR ENDE DER SENDUNG
AUSBLENDEN!
REGER, 100. Psalm f. Chor, Orchester u. Orgel; Chor und SO des NDR, Hans
Schmidt-Isserstädt; 570 9206