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SÜDWESTRUNDFUNK
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
nachfolgend bieten wir Ihnen eine Meldung an.
Claudia Roth (Grüne), Vizepräsidentin des Bundestages,
gab heute, 13.05.16, dem Südwestrundfunk ein Interview
zum Thema: „Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten:
Dafür UND dagegen?“
Das „SWR2 Tagesgespräch“ führte Marie Gediehn.
Mit freundlichen Grüßen
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Datum:
13.05.2016
Grüne zu sicheren Herkunftsstaaten: Versuch, Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen
Baden-Baden: Im Streit um die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten hat die
Grünen-Politikerin Claudia Roth die geschlossene Ablehnung ihrer Partei heute im Bundestag
angekündigt. Roth, sagte im Südwestrundfunk (SWR), mit Blick auf die noch anstehende
Abstimmung über das Gesetz im Bundesrat, es werde nicht funktionieren, von einer
unglaubwürdigen Haltung der Grünen zu sprechen. Auch im grün-schwarzen Koalitionsvertrag
von Baden-Württemberg stehe eindeutig, dass es nur eine Erweiterung geben könne, wenn es
verfassungsrechtliche, hohe Voraussetzungen gebe. Ministerpräsident Kretschmann habe
immer gesagt, die verfassungsrechtliche Kompatibilität wolle er erst überprüfen.
Es stimme nicht, dass es bei fairen Verfahren und der Prüfung des Einzelfalls bleibe. Die
Verfahren würden deutlich beschleunigt. Es gebe massive Beschränkungen von
Verfahrensrechten, von Rechtsschutz und von sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Und
genau das widerspreche auch den gesetzlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts oder
vor allem des Europäischen Gerichtshofs und der europäischen Verfassungsrichtlinie. Die
besage, es dürfe kein Verbot von Flüchtlingen wegen ihrer Herkunft geben. Roth sagte, man
könne nicht sagen, „Flüchtling aus Algerien ist weniger Wert als Flüchtling aus Eritrea“.
Wortlaut des Live-Gesprächs:
Gediehn: Grüne Zustimmung im Bundesrat zu einer länger werdenden Liste sicherer
Herkunftsstaaten - es wäre das dritte Mal im Juni. Aber so oder so angesichts der ersten
beiden Male: Wie glaubwürdig ist denn da heute Vormittag die Kritik aus Ihrer Fraktion im
Bundestag?
Roth: Sehr glaubwürdig, weil ob und was der Bundesrat macht, ist überhaupt noch nicht
entschieden. Heute ist es auf jeden Fall so, dass im Bundestag die Grüne Fraktion geschlossen
gegen den Versuch, das Grundrecht auf Asyl weiter auszuhöhlen, stimmen wird. Es gibt keine
Stimme für die Ausweitung dieses von mir grundsätzlich in Frage gestellten Prinzips der
sicheren Herkunftsländer. Denn Algerien, Marokko und Tunesien erfüllen aus meiner Sicht nicht
die verfassungsrechtlichen und die unionsrechtlichen Voraussetzungen, die eine Ausweitung
möglich machen würde.
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)
Gediehn: Sie haben das Stichwort „verfassungsrechtlich“ gebracht. Sollte dieses Gesetz
kommen, werden Sie denn dagegen vorgehen?
Roth: Ja, erst mal wollen wir versuchen, dass es verhindert wird. Denn was sagt unsere
Verfassung: Unsere Verfassung sagt, dass es nicht sein kann, dass Menschen in einem Land
verfolgt werden, auch eine spezifische Gruppe verfolgt werden. Sondern, es wird verlangt, dass
es landesweit Sicherheit gibt vor politischer Verfolgung für alle Personen und für alle
Bevölkerungsgruppen. Ich nehme ich mal eine Gruppe, die nun in allen drei Ländern massiv
diskriminiert, verfolgt, gedemütigt wird, das sind die Schwulen, Lesben, Transgender. Da kann
es natürlich auch nicht sein, dass man dann sagt, ja dann müsst ihr eben im Verborgenen eure
sexuelle Identität leben. Sondern es muss möglich sein, dass ein Mensch frei und offen leben
kann, ohne dass er dadurch eingeschränkt wird oder Konsequenzen zu fürchten hat.
Gediehn: Das ist natürlich weltweit leider nicht der Fall, in sehr, sehr, sehr vielen
Ländern. Die Regierung sagt, es bleibt auch in diesen, jetzt möglicherweise neuen,
sicheren Herkunftsstaaten bei Menschen die zu uns kommen und so etwas angeben, bei
fairen Verfahren, bei der Prüfung des Einzelfalls.
Roth: Das stimmt nicht. Die Verfahren werden deutlich beschleunigt. Es gibt massive
Beschränkungen von Verfahrensrechten, von Rechtsschutz und von sozialen und
wirtschaftlichen Rechten. Und genau das widerspricht auch den gesetzlichen Vorgaben oder
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts oder vor allem des Europäischen Gerichtshofs
und der europäischen Verfassungsrichtlinie, die nämlich sagt, es darf kein Verbot geben von
Flüchtlingen, wegen ihrer Herkunft. Also man kann jetzt nicht sagen: „Flüchtling aus Algerien ist
weniger Wert als Flüchtling aus Eritrea“. Deswegen finde ich auch sehr, sehr richtig, dass
Winfried Kretschmann immer gesagt hat, für ihn ist die Voraussetzung für eine Zustimmung, die
verfassungsrechtliche Kompatibilität und die will er erst mal überprüfen und wir auch.
Gediehn: Schauen wir auf das Bundesland von Winfried Kretschmann. Seit Januar
durchlaufen Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten in Baden-Württemberg schon ein
spezielles Verfahren. Binnen 48 Stunden sollen sie registriert, untersucht, vom
Bundesamt für Migration befragt werden. Sie bleiben auch in den Erstaufnahmestellen
des Landes, getrennt von anderen Flüchtlingen. Das ist Realität, aber ist das noch Grün?
Roth: Was richtig ist, ist, dass man versucht, die Verfahren zu beschleunigen. Es ist nämlich
wirklich schrecklich, wenn Menschen Wochen, monatelang ein Damoklesschwert über sich
haben. Aber es wird auf keinen Fall praktiziert à la sicherer Herkunftsstaaten.
Gediehn: Wir haben auch hier schon jetzt die Unterscheidung nach Herkunftsgruppen
und Ländern, wie auch immer man das Konstrukt nennen mag.
Roth: Die haben wir in ganz Deutschland, dass man sagt, Menschen aus Syrien, aus dem Irak,
aus Eritrea haben eine höhere Wahrscheinlichkeit der Anerkennung. Andere Geflüchtete habe
eine geringere, das heißt, es soll insgesamt beschleunigt werden, aber es heißt nicht, dass man
ihre Verfahrensrechte, ihren Rechtschutz und ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte
einschränkt. Deswegen bin ich sehr kritisch insgesamt, was den Versuch der Entrechtung von
Flüchtlingen angeht. Aber was nicht funktioniert ist, das man jetzt sozusagen sagt, es gibt eine
unglaubwürdige Haltung von Seiten der Grünen, denn auch im grün-schwarzen
Koalitionsvertrag Baden-Württemberg steht eindeutig drin, dass es nur eine Erweiterung geben
kann, wenn es verfassungsrechtliche, hohe Voraussetzungen dafür gibt. Und die sind noch
nicht vorgelegt worden, da warten wir drauf. Die Bundesregierung hat diese Voraussetzungen
uns nicht vorgelegt, das Auswärtige Amt muss deutlich sagen, wie es die Lage in den drei
Ländern einschätzt, im Maghreb. Ich glaube, man kann nicht davon sprechen, dass Gruppen
wie Journalisten, wie Blogger, wie Menschenrechtler, vor allem übrigens auch wie Frauen,
sicher seien.
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)
Gediehn: Trotzdem noch einmal nachgefragt: Sie erkennen an, dass man bei Menschen,
denen man helfen will, priorisieren darf nach Hilfsbedürftigkeit?
Roth: Ich erkenne nicht an, dass man unterscheidet. Und ich glaube, dass sich das auch
schlecht auswirkt, weil es innerhalb der Geflüchteten tatsächlich zu Spannungen kommt. Die
sagen: Warum? Ich komm aus Afghanistan, ich hab doch auch Gründe. Aber das war sicher
geschuldet, den Maßnahmen als sehr viele Menschen zu uns gekommen sind. Heute soll ja im
Bundestag eine Ausweitung eines Instruments passieren, dass von Staatsseite aus ein Land
als sicher erklärt, was mit der individuellen Rechtsgebung durch das Grundrecht auf Asyl aus
meiner Sicht nichts mehr zu tun hat. Wie kann ein Staat erklären, aus innenpolitischem
Interesse, ein Land ist sicher und nicht in den Vordergrund stellen die Frage, ob jeder Einzelne,
jede einzelne Person für sich individuell tatsächlich sicher ist.
- Ende Wortlaut -
Der SWR ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD)