Manuskript downloaden

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Max Reger, der Falstaff der Musik
Teil 3
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
Mittwoch, 11. Mai 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
(Wiederholung von 2014)
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Mitschnitte auf CD
von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst
in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2
2
SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker
Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 3
… mit Thomas Rübenacker. Heute: Max Reger, der Falstaff der Musik. Teil 3.
MUSIK: JINGLE
Zu Beginn will ich Ihnen heute erst noch einmal den eher leichtgewichtigen Reger
vorstellen, sozusagen – wie er selber immer ulkte – Rex Mager statt Max Reger,
nämlich den Liedkomponisten. Allerdings wäre es völlig falsch, nun etwas wie
eine „schlichte Weise“ zu erwarten: Modulatorisch ist das immer noch höchst
avanciert, lediglich, wie man so sagt, etwas „eingängiger“. Es handelt sich um
die Nr. 22 in Opus 76, „Des Kindes Gebet“, eines der vom Komponisten nicht nur
mit Klavierbegleitung, sondern auch mit Orchester gesetzten Lieder. Anni Frind
singt es, über die Jürgen Schaarwächter vom Karlsruher Max-Reger-Institut
schreibt: „Frind zog sich von allen Auftritten zurück, als der Krieg ausbrach, um
nicht mit den Nazis kollaborieren zu müssen. Heutzutage ist sie nahezu völlig
vergessen, aber trotz ihrer geringen Zahl von Platteneinspielungen stand sie
einmal im Ruf einer der höchstgeschätzten lyrischen Soprane im Deutschland der
1920-er und 30-er Jahre.“
MUSIK: REGER, DES KINDES GEBET, CD 1, TRACK 13 (2:29)
(Absage)
Im Oktober 1896, als 23-Jähriger, tritt Max Reger seinen Militärdienst in Wiesbaden
an, als „Einjährig Freiwilliger“ im 80. Infanterie-Regiment. Das ist, je nach
Perspektive, eine Katastrophe oder eine Farce, etwas wie die Kinoklamotten der
50-er Jahre, „Schütze Bumm muss in den Knast“ oder „Piefke, der Schrecken der
Kompanie“. Er hatte ja bereits kleine künstlerische Erfolge gehabt, und der
Stumpfsinn beim Kommiss ödet ihn so an, dass er eigentlich nur zum Küchendienst
verwendbar ist: Für alles andere ist er entweder zu betrunken oder zu tapsig;
beim Dienst an der Waffe fürchten einige sogar, der Schütze Reger könnte
versehentlich auf die eigenen Leute schießen … Aber die Militärzeit ist ohnehin
nur der Auftakt zu einer größeren Lebenskrise, die Depressionen bleiben, der
Alkoholismus nimmt zu, die Schulden tun es ebenfalls. Wenig später holt ihn seine
Schwester Emma ins Elternhaus nach Weiden zurück: Sie befürchtet sonst seinen
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Aber die „Große Krise“
wird zum bestimmenden Faktor seiner Selbstfindung, sie hilft, seine Ästhetik zu
definieren – frei nach dem alten Motto: „Was mich nicht umbringt, macht mich
3
stärker.“ In dieser Zeit komponiert Reger sein Opus 27, eine Phantasie über den
Bach-Choral „Ein' feste Burg ist unser Gott“, womit schon Mendelssohn seine
„Reformations“-Symphonie glorios beschloss. Das Stück ist knapp 14 Minuten
lang, aber ich möchte es Ihnen ganz vorspielen: Damit Sie hören, was ein 25Jähriger, der in einer tiefen Depression gefangen ist und obendrein körperlich
hochlabil, auf seinem Lieblingsinstrument, der Orgel, noch alles in Bewegung
setzen kann.
MUSIK: REGER, CHORALPHANTASIE „EIN FESTE BURG IST UNSER GOTT“, CD 2, TRACK
1 (13:40)
Reger pur: eine seiner stärksten Choralphantasien, über „Ein' feste Burg ist unser
Gott“ op. 27, abgetrotzt dem Jahr seiner größten Krise, 1898, da war er 25 Jahre
alt. Bernhard Buttmann spielte auf der Max-Reger-Orgel von St. Michael in
Weiden in der Oberpfalz – mithin auf einem Instrument, an dem rund 100 Jahre
zuvor noch Reger selber gesessen hatte.
Die Folgen der großen Krise, ausgelöst von Nichtverstandenwerden, ungeliebter
Brotarbeit, drögem Klavierunterricht, Schuldenmachen, Krankheit und
wachsendem Alkoholismus, beschreibt Susanne Popp, die Direktorin des
Karlsruher Max-Reger-Instituts, wie folgt: „(Er) ist (…) an der Krise gewachsen. Die
Selbstgewissheit, es als Komponist zu Großem zu bringen, ist ungebrochen, ja,
vielleicht als Trotzreaktion auf die Zweifel seiner nächsten Umgebung, sogar
gestärkt. Zu sicher ist ihm das Geschenk seines Talents, zu stark spürt er die
Verpflichtung, dieses auch zu nutzen. Bewusst ist ihm auch, dass nur er allein es
schaffen wird, dass er ohne Hilfe 'den eigenen Weg' gehen muss. So tritt er uns als
gestärkter Mensch entgegen, der allerdings ohne diese Vorgeschichte, ohne
Verletzungen und Krisenzeiten, nicht so geworden wäre, wie er sich um 1900
zeigt: feinfühlig und polterig zugleich, bärbeißig und selbstironisch, selbstbewusst
und bestätigungssüchtig, umtriebig und ruhebedürftig, ein Mensch, der
eigensinnig Abstand zu allem hält, was dem Verdacht des Gewohnten oder gar
Gewöhnlichen ausgesetzt ist. Nach Überwinden der Versagensängste ist er zum
wilhelminischen Leistungsethiker geworden, der von sich das Funktionieren einer
Maschine verlangt; Komponieren und Musikmachen wird ihm zur Existenz, er
kennt kein Abschalten, keinen Urlaub und wird sich als Interpret und Komponist in
Personalunion früh verbrauchen.“ Nun, dabei fällt mir wieder Regers
selbstironische Berufsbezeichnung „Accordarbeiter“ ein: Die bekommt vor
diesem Hintergrund einen bitteren Nachgeschmack …
Immerhin hat der Komponist, der von seinen beiden höchst konservativen Lehrern
Lindner und Riemann als „Neoklassiker“ aufgebaut wurde, dem nach Bach und
Beethoven eigentlich nur noch Brahms geheuer sein dürfte, inzwischen auch
4
seine wahre Ästhetik gefunden, sie passt zur Polystilistik der Jahrhundertwende.
An Ferruccio Busoni schreibt Reger: „Ich nehme das Gute, wie es eben kommt.
Und ist mir jede Parteilichkeit – Brahms contra Wagner – im Grunde höchst
zuwider.“ In einem anderen Brief, diesmal an den Herzog Georg II. von SachsenMeiningen, bekräftigt er diese Haltung noch im Jahre 1912: „Ich, der ich mitten
im Leben stehe, als Selbstschaffender mit beitrage zur weiteren Entwicklung
unserer deutschen Musik, nehme eben das Große wo es ist u. blüht, ob es nun
von Brahms oder Bruckner oder Wagner oder Strauß ist.“ Das bedeutet aber
keineswegs: Epigonentum, sondern: Verbundenheit. In einer Zeit des nie vorher
und nie nachher wieder so reichen musikalischen Pluralismus' ist es eher ein SichEinreihen, eher ein Zeichen von Demut.
MUSIK: REGER, SERENADE, TRACK 2 (12:59; ACHTUNG! BITTE BEI 4:23 RASCH
AUSBLENDEN (ZÄSUR)!; CA. 4:24)
Was Max Reger nicht zum „Neoklassiker“ prädestinierte, zu dem ihn seine beiden
Lehrer erziehen wollten, war weniger seine völlige Unlust zur Oper als vielmehr die
Berührungsängste mit der Symphonik. Es gibt in seinem Oeuvre nur
abgebrochene Versuche wie die zwei Kopfsätze zu einer D-dur-Symphonie (von
1890 beziehungsweise 1902), oder aber die wahre Absicht versteckt sich – ähnlich
wie beim frühen Brahms – hinter verniedlichenden Titeln wie Serenade oder
Sinfonietta. Die Sinfonietta von 1904, fast fünfzig Minuten lang und
überinstrumentiert, stieß bei der Premiere in Essen (unter Felix Mottl) und dann,
1905, in München auf unverständige Ohren; die Kritiker unterstellten, Reger sei
eben ein Orgel-, aber kein Orchesterkomponist, geschweige denn ein
Symphoniker. Dabei hatte er seinen kompletten Erstling für Orchester einem
Freund, dem Organisten Karl Straube, so angekündigt: „Die Ideen von diesem
Werk strömen mir nur so von selbst zu; es wird urfidel, sehr witzig.“ Die Serenade Gdur op. 95, deren Anfang Sie gerade hörten, war dann eine Reaktion auf die
Kontroverse: symphonisch im Anspruch, aber nicht im Titel; andererseits eine
Komposition für Orchester vom Raffiniertesten, auch Stringendesten; immer noch
sprudelnd von Einfällen, aber transparenter jetzt, ökonomischer in den Mitteln.
Diesmal schreibt Reger an Georg Dohrn: „... ein höchst unschuldiges Ding, das so
klar ist, dass es selbst dem dümmsten Kerl sofort eingehen muss.“ Hören wir uns
noch den Schluss des sehr lebhaften ersten Satzes an, eines Allegro molto,
übrigens in einer historischen Aufnahme aus dem Jahr 1943, mit den Berliner
Philharmonikern unter dem größten Champion des Werkes, Eugen Jochum.
MUSIK: REGER, SERENADE, TRACK 2 (DER REST: AB 4:26 BIS ENDE; CA. 8:33)
Letztlich war klar, dass Reger die tiefe Depression nicht im Elternhaus würde
überwinden können; es war vielmehr ein Ort zum „Überwintern“, zum Sammeln
5
der Kräfte, zur Vorbereitung. Eine Karriere würde er von hier aus nicht starten
können – dazu bedurfte es einer Großstadt, Berlin, Hamburg oder Köln. Oder, da
nächstliegend und bereits vertraut: München. Im September 1901 zieht er dort in
die Wörthstraße, allerdings nicht allein: Seine Eltern und Schwester Emma ziehen
mit, um auch weiterhin „ein Auge auf ihn zu haben“. Er importiert also,
sozusagen, den Überwachungsverein „Elternhaus“. Das drückt aufs Gemüt. Umso
erfreulicher, dass Elsa von Bercken, der er Klavierunterricht erteilt und die sein
jahrelanges Werben um sie immer abgeschmettert hatte, ihm nun, im Jahr 1902,
doch noch das Jawort gibt. Zwar ist sie eine geschiedene Protestantin, was den
Katholiken Reger automatisch exkommuniziert (eines von beidem hätte schon
gereicht), aber hier bekommt er erstmals die Chance, seinen eigenen Hausstand
aufzumachen. Er muss nur seinen Alkoholkonsum einschränken – was ihm
zumindest anfangs auch gelingt. Die Ehe funktioniert; zwar bleibt sie kinderlos,
aber später, in Leipzig, adoptiert man zwei Töchter. Und nach Regers frühem Tod
verwaltet Elsa seinen Nachruhm beispielhaft, nicht wie die sprichwörtlichen
Komponistenwitwen, die allen Nachgeborenen nur das Leben schwer machen.
Elsa Reger ruft eine Stiftung ins Leben und fördert auch mit segnender Hand –
und bisweilen harter Münze – die diversen Reger-Institute, auch das in Karlsruhe.
Eine bessere Nachlassverwalterin hätte sich der Komponist gar nicht wünschen
können.
Aber einfach ist es zuerst einmal nicht, in München: zu sperrig ist die Figur Reger,
zu komplex sein Werk. Richard Strauss, der bereits Arrivierte, hilft zwar, zum Beispiel
mit der Suche nach Verlegern, und wird dafür mit gleich zwei Widmungen für
Orgelwerke bedacht. Aber das bringt noch nicht den Erfolg. Regers Ambitionen
überladen seine Stücke des öftern, und sein Stil ist kein einheitlicher, mühelos
wiedererkennbarer – wie etwa der von Richard Strauss oder von Claude Debussy.
Genau seine Aufgeschlossenheit für alles Neue wird Reger jetzt zum Verhängnis;
wie im Leben will er auch in der Kunst zu viel „in sich hinein“ fressen, das führt zu
Verwirrungen und irritierter Distanz. Carl Krebs, der Kritiker der Berliner
Tageszeitung „Der Tag“, bringt es auf den Punkt: „Wenn mir ein neues Stück von
Reger bevorsteht, kriege ich immer etwas Herzklopfen, denn man weiß nie, was
da kommen wird (…); bald schreibt er unschuldsvoll wie ein zulpendes Kind, bald
wieder so, dass man meint, die Ausführenden seien irrsinnig geworden oder
gingen darauf aus, sich gegenseitig Possen zu spielen.“
Sein Ehrgeiz, in der Kammermusik jeden Spieler gleichberechtigt zu beschäftigen,
keinem eine Atempause zu gönnen, sondern alles möglichst komplex im Fluss zu
halten und die Entwicklung in allen Stimmen voranzutreiben (zweifellos ein Erbe
der dominant kontrapunktischen Erziehung) – macht das Geschehen oft opak,
nicht mehr nachvollziehbar oder, wie ein Kritiker sagte: „Man stelle sich ein Blatt
Papiers vor, vollgekritzelt mit zahlreichen Linien, wobei sich erst bei näherer
6
Draufschau die Physiognomie einer Person herausschält.“ Das Klavierquintett cmoll op. 64 ist ein Beispiel für diese „Überfrachtung“. Das eigentlich gut
eingespielte Hösl-Quartett, das die Münchner Uraufführung geben sollte, hatte
schon bei den Proben beträchtliche Probleme mit der komplexen Struktur, und so
ist es nicht verwunderlich, dass die Premiere selbst zu Regers erstem satten
Skandal wurde. Hinterher sprachen einige Spitzzüngige sogar von des
Komponisten „Strafkammermusik“ …
MUSIK: REGER, KLAVIERQUARTETT C-MOLL OP. 64 , NR. 3: LENTO (7:07)
Max Regers erster großer Skandal: Das Klavierquintett c-moll op. 64, uraufgeführt
am 1. Mai 1903 vom Hösl-Quartett, mit dem Komponisten selbst am Klavier.
Hinterher sprechen spitze Zungen von Regers „Strafkammermusik“ … In unserer
Aufnahme des langsamen Satzes, Lento addolorato e con gran affetto, spielten
Karl Engel und das Benthien-Quartett.