MITTELBADISCHE PRESSE www.bo.de Donnerstag, 12. Mai 2016 ORTENAU Jagd auf die süßen Früchte Die ersten heimischen Erdbeeren, die deutschlandweit geerntet werden, stammen aus der Ortenau. Rund 250 000 Tonnen dieser roten Früchte werden allein in Deutschland jährlich verputzt. Zur Erntezeit kommen Helfer aus Osteuropa und pflücken im Akkord das Obst. Von F lor ence -A n n e K ä l bl e (T ext) L angsam füllt sich Schälchen für Schälchen mit köstlichen Erdbeeren. Die Arbeit als Erntehelferin geht mir nicht so leicht von der Hand wie den erfahrenen Mädels, die jede Saison beim Obsthof Spinner in Oberkirch-Nußbach helfen. Anfang Mai startet mit der Ernte in der Ortenau die Erdbeer-Zeit in Deutschland. Rund sieben Tage vor dem Bodensee und der Region Rhein-Neckar werden die ersten reifen Früchte in den Tunneln in Oberkirch gepflückt. Möglich ist das durch die sogenannte Verfrühung. Hierbei werden die Pflanzen durch den Einsatz der Tunnel, Vlies sowie schwarzer und weißer Folie zum früheren Reifen animiert. »Das ist ganz klar ein Wettbewerbsvorteil unserer Region«, betont Karl-Wendelin Spinner vom gleichnamigen Obsthof. Zur Begrüßung drückt er mir ein dünnes Kissen in die Hand: »Das werden Sie nachher auf dem Wägelchen brauchen.« Pavel, Spinners polnischer Vorarbeiter, reicht mir eine Holzkiste. Darin befinden sich zehn Schälchen. Leer, wohlgemerkt. Zwei weitere Schälchen werden mir gereicht. »Für Marmelade und die schlechten«, sagt Pavel und lässt mich ratlos zurück. Bevor ich weitere Fragen stellen kann, werde ich zum Einsatz gerufen. Während meine heutigen Kolleginnen bereits fleißig im ersten Tunnel auf ihren Wägelchen die Reihen entlangrutschen und Erdbeeren pflücken, führt mich Karl-Wendelin Spinner in einen zweiten Tunnel. »Ich zeige Ihnen mal schnell, wie das geht, und dann dürfen Sie.« Das Wägelchen ist eine »badische Besonderheit«. Da das Pflücken aufs Kreuz geht, sitzen die Erntehelfer auf einem Wagen und fahren mit diesem die Pflanzen-Hügel ab. Bis auf den Sitz besteht der gut einen Meter breite und 1,3 Meter lange Wagen nur aus Stangen. Vor dem Pflücker ist Platz, um die Kiste, Steige genannt, mit den Schälchen abzustellen. Mit den Beinen wird der Pflück-Wagen bewegt – rückwärts. »Das hat den Vorteil, dass der Erntehelfer beide Hände zum Pflücken frei hat«, weiß der erfahrene Obstbauer. M it geübten Handbewegungen streift er die Erdbeerpflanze unter sich auseinander und sucht reife Früchte. »Wenn die Erdbeere nicht ringsherum rot ist, bitte nicht ernten«, ist die erste Lektion des Tages. Ich lerne zudem, dass Erdbeeren unglaublich empfindlich sind und deshalb »fast zärtlich« angefasst werden müssen. »Sonst werden Druckstellen hinterlassen, die erst ein bis zwei Stunden später erkennbar sind.« Die Früchte faulen dann schneller. Faulige Erdbeeren soll ich übrigens aussortieren – »dafür gibt es die Extraschale« – und Erdbeeren, die zwar reif sind, aber nicht so schön aussehen, kommen ins sogenannte »Marmelade-Schälchen«. Schade. Hatte die Hoffnung, dass hier nach dem Motto »die guten ins Töpfchen, die nicht so schönen ins Kröpfchen« verfahren werden darf. Bevor es losgeht, gibt es noch einen letzten Hinweis: »Das Wägelchen wird mit den Füßen bewegt und gelenkt. Die Reihen sind recht eng, also aufpassen und nicht aus Versehen ins nächste Beet fahren.« Bevor Karl-Wendelin Spinner geht, zeigt er mir noch, wie ich das Obst am besten ernte. »Ein verbreiteter Irrtum ist, dass die Beeren mit den Fingernägeln abgeknipst werden«, erzählt er kopfschüttelnd. Richtig sei aber, fährt er fort, die Erdbeere am grünen Stiel und U l r ich M a r x (F otos) zu halten, einen kleinen Bogen mit diesem zu formen und dann mit einer kurzen, schnellen Bewegung die Frucht hochzuziehen und so von der Pflanze zu lösen. »So reißt der Stiel ganz von alleine und Sie haben am Abend immer noch schöne blaue Fingernägel.« Er grinst. Mit einem »Viel Erfolg« verlässt mich der Erdbeer-Bauer. Ich schaue mich um. Tatsächlich bin ich mutterseelenalleine in einem Tunnel voller Erdbeerpflanzen. Ganz vorsichtig streichen meine Hände durch » halte, drehe ich mit der anderen Erdbeere um Erdbeere, und schaue, ob sie reif sind. Meist lachen sie mir rot entgegen und die Rückseite ist noch grün. D ie Hälfte der Reihe ist geschafft. Die Arbeit ist zwar mühsam, aber dank des Wägelchens muss ich nicht die ganze Zeit gebückt stehen, sondern kann mich bequem fortbewegen. Und das ist es letztlich, was bei einem Acht-Stunden-Tag auf dem Feld zählt. Erdbeeren sind unglaublich empfindlich und müssen fast zärtlich angefasst werden, sonst bilden sich Druckstellen. das Grünzeug unter mir. Bloß nichts kaputt machen. Und bloß keine reife Frucht übersehen. Wie von Karl-Wendelin Spinner prophezeit, sind am Anfang des Tunnels kaum reife Früchte zu finden. Meine Schälchen sind leer. A uf einmal sehe ich sie – die erste rundherum reife, rote, saftige Erdbeere. Ganz vorsichtig versuche ich die köstliche Frucht von der Pflanze zu lösen. So einfach wie das beim Chef ausgesehen hat, ist es in Wahrheit gar nicht. Mir fehlt eindeutig die Routine. Geschafft. Freudig platziere ich sie im ersten Schälchen. Motiviert rutsche ich weiter und stelle fest – ich bin auf ein ganzes Nest gestoßen. Vorsichtig ernte ich die Früchte und verteile sie in den verschiedenen Schälchen. Nach und nach bekomme ich den Dreh mit dem Pflücken raus. Während ich mit der einen Hand das Pflanzengrün weg- « Pavel, der Vorarbeiter, läuft meine Reihe ab und kontrolliert die Pflanzen. »Du arbeitest ordentlich«, lobt er mich. Er erklärt, dass gerade bei der Erdbeer-Ernte die Kontrolle der Reihen wichtig sei. »Wenn es richtig losgeht, dann muss alles laufen wie am Schnürchen«, weiß der erfahrene Erntehelfer. Er kommt mittlerweile seit zehn Jahren zu Spinners. Gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder ist die Erdbeer-Ernte in der Ortenau ein wichtiges finanzielles Standbein für ihn. Die Ernte helfer erhalten nämlich den Mindestlohn. Zuhause in Polen ist er auch in der Landwirtschaft tätig. Und das, obwohl er einen Master in Maschinenbau hat. »Bei uns in der Region gibt es keine Arbeit für mich, deshalb unterstütze ich meine Eltern auf ihrem Hof«, erklärt der 29-Jährige. Aus dem Nachbartunnel schallt es aus mehreren Frauenkehlen: »Pavel, Paaaaaveeelllll«. Er muss weiter. Zwei der Damen aus dem anderen Tunnel kommen jetzt zu mir. Routiniert bewegen sie sich mit ihren Wägelchen pflückend auf mich zu. In einer Geschwindigkeit, die meinen Ehrgeiz anstachelt. Eingeholt werden möchte ich nämlich nicht. Und werde es doch. Adriana ist 26 und stammt aus Rumänien. Es ist ihre fünfte Saison auf dem Obsthof Spinner. Warum sie das macht? »Ich liebe Erdbeeren«, erklärt sie und lacht. Auch sie lobt mich: »Fürs erste Mal, gar nicht schlecht.« Am Ende des Tunnels habe ich es tatsächlich geschafft: Meine Steige ist voll. Auf dem Weg zu Pavel, der meine Ware begutachten und wiegen wird, treffe ich Dana. Die 29-Jährige hilft gemeinsam mit ihrem Mann sechs Wochen lang bei der Ernte. Zuhause in Rumänien arbeitet sie als Pflegekraft. »Die Erdbeer-Ernte ist unser Jahresurlaub«, erzählt sie. Seit sieben Jahren kommt sie bereits nach Oberkirch. Missen möchte sie diese Zeit nicht. I ch bin froh – Pavel ist mit meiner Arbeit zufrieden. Einzig, die Früchte soll ich beim nächsten Mal nicht mit dem Grün, sondern mit der roten Spitze nach oben in die Schälchen legen. Für meine Steige mit den fünf Kilo habe ich rund eine Stunde benötigt. Die Mädels schaffen jedoch locker das Doppelte. Pavel muntert mich auf: »Wenn du nächstes Jahr wieder dabei bist, wirst du merken, dass du schneller pflückst.« Nächstes Mal, sage ich mir, und genieße erstmal die Früchte meiner Arbeit. ◼ Am 19. Mai geht es mit der Ortenau-Reportage weiter: Zu Besuch bei Offenburgs Keramik-Papst Rudi Rothenberger. Eine Bildergalerie zu diesem Thema finden Sie unter : w w w.b o.d e | We b co d e: 27767
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