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— Montag, 2. Mai 2016
Alpinismus
First Female Ascents
Nicht jede will Erste sein
In der Kletterszene geistert eine neue Abkürzung herum: FFA – First Female Ascent. Doch ist die erste
Wiederholung einer Route durch eine Frau heute überhaupt noch erwähnenswert?
Dominik Osswald
Zur Sache
Als die Amerikanerin Paige Claassen die
Route The Bleeding, eine 8c im US-Bundesstaat Utah, als erste Frau kletterte,
war das der Beginn einer Kontroverse in
der Kletterszene. Claassen war es nämlich schlicht egal, dass sie die erste Frau
war, die diese Route geschafft hatte. Sie
wollte nicht von einem «FFA» reden. Die
Abkürzung steht für First Female Ascent
und bezeichnet neuerdings die erste
Frauenbegehung einer Route, die zuvor
nur von Männern geklettert worden war
(früher stand FFA für First Free Ascent).
«Manche Frauen finden diese Bezeichnung motivierend. Ich persönlich denke
aber, dass First Female Ascents irrelevant
sind», meinte Claassen.
Das sorgte erst für Verwirrung, lässt
man sich im Alpinismus doch sonst
gerne als Pionier und Pionierin feiern;
besonders, wo je länger, je mehr schon
alles geholt worden ist. Dann entbrannte
eine Grundsatzdiskussion: Ist es erwähnenswert, wenn Frauen zu Männern aufschliessen? Oder ist das schon so selbstverständlich, dass es fast demütigend
ist, es hervorzuheben?
Im Klettern unterstellt man sich
gerne nur den Regeln der Natur. Gesellschaftliche Normen betrachtet man
meistens von dort, wo man sich aufhält:
von oben herab. Steht diese dem Selbstverständnis nach puristischste aller
Sportarten nicht über dem Gesetz, das
überall sonst gilt, wenn die Volleyballnetze der Männer höher hängen, ihre
Skiabfahrten länger und ihre Hanteln
schwerer sind?
«Lieber ins
Unbekannte»
Die deutsche Spitzenkletterin
Ines Papert wünscht sich
mehr Erstbegehungen
durch Frauen.
Interview: Dominik Osswald
Frau Papert, was halten Sie von
der Bezeichnung FFA?
Gleich mal eine Frage zurück: Haben
Sie jemals von einem First Male Ascent
gehört? Ich nicht. Und ich finde, solange man den Geschlechterunterschied nicht konsequent macht,
braucht man damit gar nicht anzufangen. Die Frauen haben in den vergangenen Jahren so stark aufgeschlossen zu
ihren männlichen Kollegen, dass man
hier nicht mehr zwischen den Geschlechtern trennen sollte. Es sind vor
allem die Medien, die FFAs gerne hervorheben. Ich selber weise bei Presseberichten explizit darauf hin, dass ich
das nicht möchte.
Sie sind eine der wenigen Frauen,
die Erstbegehungen machen.
Kann es sein, dass andere Frauen
lieber FFAs machen statt «richtiger»
Erstbegehungen?
Erstbegehungen sind schon noch einmal eine spezielle Belastung, da gehört
weit mehr dazu als das Klettern an sich:
die oft komplizierte Anreise mit schwerem Gepäck, das Ausharren in der
Kälte, die Ungewissheit, wie es weitergeht . . . Schon möglich, dass da manche
Frauen finden, der FFA sei leichter verdientes Ansehen. Ich wünsche mir, dass
mehr Frauen sich ins Unbekannte wagen. Da sind wir definitiv noch weit hinter den Männern.
Lynn Hills dünne Finger
Entgegen anderen Sportarten findet im
Klettern eine Konvergenz der Geschlechter statt. Betritt man heute einen Klettergarten, so findet man keine Route, an
der sich nicht gleichermassen Männer
wie Frauen versuchen.
Zunächst war es zwar üblich, dass
Männer den Sport vorantrieben und
grundsätzlich ein höheres Niveau hatten
als Frauen. Diese Ordnung wurde aber
bald gestört. Anfangs konnte man noch
ignorieren, wenn Frauen plötzlich hochkamen, wo sie nicht hochkommen sollten. Als die junge Lynn Hill einst eine
schwierige Kletterstelle schaffte, weil sie
sich an einem winzigen Quarzkristall
halten konnte, wurde das von ihren
männlichen Kollegen, die sich am Kristall nicht halten konnten und auch sonst
keine Lösung fanden, zur Kenntnis genommen – ohne grosse Euphorie. Doch
irgendwann half alles Wegsehen nicht
mehr. Lynn Hill wurde fester Bestandteil
der Kletterwilden an den Granitwänden
des Yosemite-Nationalparks.
Als sie 1994 schliesslich als erster
Mensch überhaupt die berühmte Nose
am El Capitan frei klettern konnte – was
zahlreiche Männer zuvor schon versucht, aber nicht geschafft hatten –,
schien sich der Gender-Gap im Klettern
definitiv zu schliessen. Doch schon wurden Männerstimmen laut, die behaupteten, Hills Begehung sei eben nur möglich gewesen, weil sie als Frau besonders dünne Finger habe. Dadurch habe
sie das Great Roof, einen äusserst
schwierig kletterbaren Riss unter einem
Überhang, besser meistern können als
ein Mann. Lynn Hill kümmerten diese
Kommentare wenig. Sie sagte auch,
dass es ihr egal gewesen sei, die erste
Frau zu sein, die die Nose frei kletterte.
Was aber zählte: dass sie der erste
Mensch überhaupt war, dem das gelang.
Inzwischen wurde die Nose auch von
Männern geklettert – mit maskulinen
Fingern. Und im Fall von Tommy Caldwell gar mit nur neun davon: Er verlor
den linken Zeigefinger an der Kreissäge.
Das zeigt: Das Klettern einer Route erfordert immer individuelle Lösungen.
Das egalisiert die Geschlechter. Längst
hängen höhere Schwierigkeiten nicht
mehr von nur einem Faktor ab, wie zum
Die Frauen haben längst zu den Männern aufgeschlossen: Nina Caprez in ihrem Projekt La Reina Mora (9a). Foto: Aurora Photos, Keystone
Beispiel der Kraft. Längst sind die stärksten Sportkletterer nicht mehr jene mit
dem muskulösesten Körperbau. Rekorde werden dann geknackt, wenn die
spezifischen Tücken einer Route dem
Talent eines Kletterers entsprechen – so,
wie es beim Tschechen Adam Ondra der
Fall war, als er mit Change (9b+) die derzeit härteste Route der Welt schaffte.
Change entspricht nach Ondras eigenen
Angaben ganz einfach seinem Kletterstil: schwierige Bouldersektionen eingebettet in einen Ausdauerhammer, der
nie leichter als 8b ist.
Der höchste von Männern erreichte
Grad im Sportklettern ist heute 9b+, jener von Frauen 9a+. Und es ist klar, dass
die Konvergenz anhalten wird. Eine
Frau, die den Grad 9a+ geschafft hat,
ist Ashima Shiraishi, eine erst 15-jährige New Yorkerin japanischer Abstammung. Angesichts ihres zarten Alters
fragt sich die Kletterwelt: Was wird
Ashima noch an den Fels zaubern?
Was resultiert, wenn sie sich bald ihr
massgeschneidertes Projekt vornimmt?
Die erste 9c? Vielleicht gar noch vor
einem Mann?
Bei Sponsoren beliebt
Die FFA-Kontroverse entbrannte, weil
Paige Claassens Gleichgültigkeit nicht
von allen Kletterinnen geteilt wird. Allen
voran US-Kletterin Sasha DiGiulian findet das Herausheben von FFAs wichtig,
denn «sie zeigen den Fortschritt der
Frauen im Klettern». DiGiulian wiederholte denn auch bereits zahlreiche
Routen als erste Frau und verschaffte
sich damit eine Identität beim Publikum
– und bei Sponsoren. Man soll deshalb
ihr Weibeln für die Wichtigkeit dieser
Nomenklatur nicht als allzu selbstlos
missverstehen.
Dass DiGiulian den Begriff vor allem
in eigener Sache nützlich findet und ihn
nach eigenem Gusto auszulegen vermag,
wurde letzten Sommer an der Eigernordwand deutlich. Nachdem sie die
Route Magic Mushroom im rechten
Wandteil geklettert war, sahen amerikanische Medien darin die erste Frauen­
begehung der Eigernordwand, was natürlich Unsinn ist. Die klassische Heckmaier-Route, die anders als Magic Mush­
room auf dem Gipfel endet, wurde
schon 1964 von der Münchnerin Daisy
Voog durchstiegen. Überhaupt: DiGiu­
lians Begehung von Magic Mushroom als
FFA zu bezeichnen, schadet der Glaubwürdigkeit des Begriffs wohl eher. Die
Route ist mit 20 Seillängen bis 7c+ zwar
durchaus beachtlich. Doch dieses
Niveau beherrschen zahlreiche Frauen.
Dass die Route «noch zu holen» war, ist
also dem Zufall geschuldet, dass sie
noch von keiner anderen Frau ernsthaft
versucht wurde. Man beachte Nina Caprez (eine Gegnerin des FFA-Begriffs):
Ihre Mehrseillängenprojekte liegen im
Bereich 8a bis 8c+.
Für die einen ist der Stempel FFA
eine folgerichtige und notwendige Erwähnung. Die anderen finden, er markiere eine Differenz, wo keine sei, und
sei ausserdem zu unklar definiert. Zählt
eine Begehung als FFA, wenn sie zuvor
noch nie von einer Frau versucht wurde?
«Keine Notwendigkeit»
Die deutsche Spitzenkletterin Ines Papert sagt: «Ich habe grosses Interesse an
Erstbegehungen, habe mit Likhu Chuli 1
auch schon einen Gipfel als erster
Mensch überhaupt bestiegen. Aber ich
sehe keine Notwendigkeit, mich da als
Frau hervorzuheben.» Und Nina Caprez,
die derzeit stärkste Schweizer Kletterin,
findet, es gebe nur einen Unterschied:
jenen zwischen Erstbegehern und Wiederholern, «denn die wissen, dass die
Route kletterbar ist».
Ihr gelang letzten Sommer zusammen
mit der Österreicherin Babsi Zangerl
«Die Unendliche Geschichte», eine rund
400 Meter hohe alpine Mehrseillängenroute mit Schwierigkeiten bis 8b+ in den
glatten Kalkwänden des Rätikons. 1991
vom Österreicher Beat Kammerlander
erstbegangen, sah sie erst eine einzige
Wiederholung durch den Italiener Pietro
del Prà, ehe letzten Sommer die beiden
Frauen reüssierten. Keine von beiden
hängt den FFA an die grosse Glocke. Die
Abkürzung geniesst derzeit mehrheitlich
den Ruf von Marketingmittel bis Trostpreis. Die progressiven Kletterinnen
scheren sich jedenfalls nicht darum.
Bilder Aymara-Frauen
in den Anden Boliviens
www.globus.derbund.ch
Gibt es je nach Route Vor- und
Nachteile für Frauen respektive
für Männer?
Klettern ist sehr spezifisch. Klar gibt es
hin und wieder mal einen kräftigen, langen Zug, bei dem Frauen tendenziell
mehr Mühe haben. Ich selber habe auch
die eine oder andere Route offen, bei
der ich einfach nicht weiterkomme, obschon sie nicht utopisch schwer bewertet ist. Solche körperlichen Limiten können sich schon bemerkbar machen. Andererseits sind Frauen in eher technischen Routen, wo Körperkontrolle,
Stehtechnik und Bewegungsfähigkeit
gefragt sind, gleich stark, manchmal sogar stärker.
Die Amerikanerin Ashima Shiraishi
hat mit 13 Jahren als erste Frau den
Grad 9a+ geschafft. Heute ist sie 15.
Was darf man von ihr in Zukunft
erwarten?
Sie ist unglaublich. Wenn der stärkste
kletternde Mensch je einmal eine Frau
sein sollte, dann wahrscheinlich sie. Sie
ist zwar noch sehr jung, aber doch schon
in einem Stadium, in dem sie aus eigener
Überzeugung klettert. Bei jungen Talenten ist es ja leider oft so, dass sie von
übermotivierten Eltern zu sehr gepusht
werden und sich dann vom Sport
­abwenden.
Ines Papert
Die 42-jährige Deutsche macht immer
wieder mit spektakulären Begehungen
auf sich aufmerksam.
Zuletzt an der äusserst schwierigen
Ostwand des Torre
Central in Patagonien.