10 MEINUNG & DEBATTE Neuö Zürcör Zäitung Donnerstag, 28. April 2016 FOTO-TABLEAU Zug nach Tschernobyl 4/5 Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl musste die in den 1970er Jahren gebaute Stadt Pripyat, wo die meisten in der Kernanlage Beschäftigten lebten, evakuiert werden. Aber es war klar, dass für die Dekontaminierung und Sicherung der Gefahrenzone wie auch für den Betrieb der intakt gebliebenen Reaktoren noch über Jahrzehnte eine beträchtliche Anzahl von Arbeitskräften vonnöten waren. So errichtete man jenseits des Sicherheitsgürtels eine neue Stadt. «Die Tätigkeit im Kernkraftwerk Tschernobyl wird dort von Generation zu Generation weitergereicht», beobachtete der japanische Fotograf Kazuma Obara. «Und die Arbeiter der zweiten und dritten Generation fahren noch immer auf derselben Zugstrecke zur Arbeit. Da sich in der Sicherheitszone seit dem Unglück praktisch nichts mehr verändert hat, sehen sie heute die gleiche Landschaft wie ihre Eltern vor dreissig Jahren.» KAZUMA OBARA / KEYSTONE Abstimmung vom 5. Juni Das Grundeinkommen – die AHV der Zukunft Gastkommentar von OSWALD SIGG Die Initiative für ein Grundeinkommen enthält eigentlich nur die Frage, ob alle Menschen in der Schweiz Anspruch auf ein würdiges Leben haben sollen. Das mag in einem Land, wo die Bundesverfassung in Artikel 7 vorschreibt: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen», und in Artikel 41 den Bestand an sozialen Zielen abschliessend aufzählt, als überflüssig gelten. Jedoch existiert unser Sozialstaat hauptsächlich auf dem Papier. Der Absatz 4 von Artikel 41 BV weist deutlich darauf hin: «Aus den Sozialzielen können keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden.» Es sind denn auch die Kantone und ihre Gemeinden, die für in soziale Not geratene Einwohnerinnen und Einwohner zuständig wären. Die Verfassung des Kantons Bern zum Beispiel regelt in Artikel 27: «Jede Person hat bei Notlagen Anspruch auf ein Obdach, auf die für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Mittel und auf grundlegende medizinische Versorgung.» Die Zürcher Verfassung begnügt sich damit: «Die Sozialziele der Bundesverfassung sind auch Sozialziele des Kantons und der Gemeinden.» Mit der Realität hat dies alles ohnehin wenig gemein. Seit die grösste Partei im Land, die SVP, vor gut 15 Jahren die Deutungshoheit in der Sozialpolitik übernommen hat, werden sämtliche der sozialen Hilfe Bedürftigen wie IV-Rentnerinnen und -Rentner, Flüchtlinge, Asylsuchende und Arbeitslose als Schmarotzer, faule Kerle und Simulanten bezeichnet. Die Sozialbehörden selbst bringen den Hilfesuchenden zuerst einmal Misstrauen entgegen. Sie traktieren sie mit Verhören, Fragebogen und Abklärungen. Jene, die dann schliesslich dem Sozialhilferegime unterstellt werden, befinden sich quasi im offenen Strafvollzug. Neuerdings werden sogar in Einbürgerungsgesetzen «Verbrecher und Sozialhilfeempfänger» gleichgestellt. Das alles sind die Gründe, weshalb schätzungsweise über 200 000 in Not geratene Menschen in der Schweiz sich nicht bei den Sozialdiensten melden, um ihr Recht auf öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Somit bleibt die Kriminalisierung der Sozialhilfe eine hocheffiziente Sparübung. Ein Grundeinkommen soll dies ändern. Erst wenn alle eine Rente erhalten, muss sich kein Mensch mehr für die seinige schämen. Mit dem AHV-Gesetz haben wir diesen Zustand für die älteren Menschen 1948 erreicht, als die ersten Renten ausbezahlt wurden. Übrigens ist damals das AHV-Gesetz in Kraft getreten, als in den Nachbarländern die Altersversicherung bereits existierte. So könnte auch das Grundeinkommen als das Sozialwerk der Zukunft kaum ohne Rücksicht auf den europäischen Kontext umgesetzt werden, und es steht ja heute auch in halb Europa zur Diskussion. Die Finanzierung des Grundeinkommens müsste jedoch den Weg der AHV verlassen. Ein Blick in ihre Geschichte zeigt, wie früh der freisinnige Basler Nationalrat Christian Rothenberger (1868–1938) mit einem Vorschlag für eine solidarisch finanzierte Altersversicherung hervortrat. 1920 deponierte er im Bundeshaus eine Volksinitiative zur Einführung der AHV. Zur Finanzierung schlug er einen Fonds vor, der aus den Erträgen der eidgenössischen Kriegsgewinnsteuer geäufnet worden wäre. Als Kriegsgewinn definierte das Gesetz den Betrag, um den der Betriebsertrag des Steuerjahres höher war als das mittlere Ergebnis der beiden Vorkriegsjahre. Somit wurden die beträchtlichen Kriegsgewinne von Industrie, Handel und Gewerbe zwischen 1915 und 1920 mit bis zu 50 Prozent besteuert – mit einem heutigen Ergebnis von 4,471 Milliarden Franken. Doch die bürgerlichen Parteien opponierten dem Vorschlag. Für sie war er antiföderalistisch und sozialistisch. Rothenbergers Initiative wurde 1925 von Volk und Ständen abgelehnt. Das Prinzip einer ansatzweise solidarischen Finanzierung – wer mehr verdient, bezahlt mehr – wurde hingegen für die Finanzarchitektur der AHV in moderatem Ausmass beibehalten. Wir gelangen heute an die Grenzen der Finanzierung unserer Sozialversicherungen. Kürzere Arbeitszeiten, wachsende Lohnarbeitslosigkeit und demografischer Wandel sind die Gründe. Ohnehin erfordert das bedingungslose Grundeinkommen eine fiskalpolitische Kehrtwende. Der Finanzunternehmer Felix Bolliger schlägt mit seiner Mikrosteuer auf dem gesamten, von der Finanzwirtschaft dominierten Zahlungsverkehr eine Ablösung des heutigen, allzu komplexen Steuersystems vor. Im Endausbau wäre die Mikrosteuer so ergiebig, dass damit alle öffentlichen Aufgaben finanziert wären. Das bedingungslose Grundeinkommen ist nach dem Sozialethiker Hans Ruh eine Antwort auf die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit, die ungerecht verteilten Einkommen, die Krise unserer Lebensform und auf die unsichere Zukunft. Während es am 5. Juni in der Abstimmung vorläufig nur darum geht, ob die Richtung stimmt: nämlich die Stärkung der Menschenwürde mitten im Wandel dieser Zeit. Oswald Sigg war Vizekanzler und Bundesratssprecher und gehört zu den Urhebern der Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen». Die neue Normalität zwischen Russland und dem Westen Politisches Powerplay Gastkommentar von NORA MÜLLER Gut zwei Jahre nach der Krim-Annexion durch Moskau sind auch die unerschütterlichsten Optimisten in der Wirklichkeit angekommen: Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen sind weit mehr als nur eine vorübergehende Episode gegenseitiger Verstimmung. Auf beiden Seiten richtet man sich ein in der neuen Normalität, in der es nicht mehr um Partnerschaft, sondern um strategische Konkurrenz geht. Mit Pauken, Trompeten und dröhnenden Kampfjets kehrt Russland auf die grosse Bühne der internationalen Politik zurück – und mit ihm die längst überwunden geglaubte Logik der «great power politics». Geschickt setzt Moskau auf einen Mix aus strategischer Ambiguität, kalkulierter Unberechenbarkeit und gezielten militärischen Provokationen. Dass Putin dabei mit seiner Syrien-Intervention sowohl aussenpolitisch als auch an der heimischen Propagandafront einen Punktsieg errungen hat, wird wohl niemand bestreiten. Dank taktischer Finesse und effizientem Mitteleinsatz ist es ihm gelungen, eine militärische Niederlage des Asad-Regimes vorerst abzuwenden und den Grundstein dafür zu legen, dass – sollte es dazu kommen – Russland sich gemeinsam mit den USA als Garantiemacht eines syrischen Friedensabkommens in Szene setzen kann. Doch die ambitionierte Aussenpolitik des Kremls kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Gebälk der Russischen Föderation vernehmlich knirscht. Die nicht nur dem niedrigen Ölpreis und dem abwärtsrollenden Rubel, sondern auch strukturellen Defiziten geschuldete Wirtschaftsmisere und der innenpolitische Stillstand sind beste Voraussetzungen für einen «perfekten Sturm». Wie lange sich die russische Bevölkerung noch damit zufriedengibt, statt steigender Wachstumsraten siegreiche Kampfpiloten zu bejubeln, bleibt abzuwarten. Fest steht indessen: Russlands aussenpolitische Kraftmeierei ist eher ein Indiz seiner Schwäche als ein Ausweis von besonderer Stärke. Wie also kann es weitergehen zwischen Russland und dem Westen? In Zeiten wie diesen lautet die Devise: realistisch sein und das Schlimmste verhindern, will sagen: das Risiko einer direkten Konfrontation so gering wie möglich halten. Eine «selektive Zusammenarbeit» mit Russland dort, wo sich (aussenpolitische) Interessen überschneiden, vor allem in Syrien und Libyen, mag wünschenswert sein. Doch seien wir ehrlich: Gerade im nordafrikanisch-nahöstlichen Krisenbogen gibt es zwar punktuelle Interessenüberschneidungen zwischen Russland und dem Westen. Grosso modo aber unterscheiden sich Moskaus regionale Ziele deutlich von denen der Europäer und Amerikaner. Im gegenwärtigen Klima scheint die Region zwischen Rabat und Riad eher zu einem Schauplatz strategischer Konkurrenz als zu einem Raum der Zusammenarbeit zu werden. Denn aus Sicht des Kremls bieten Nordafrika und der Nahe Osten die ideale Kulisse, um Russlands Rückkehr als globale Macht zu inszenieren. Dass es darüber hinaus auch in Moskaus Interesse liegt, Terrorismus und Extremismus zu bekämpfen, befreundete Regime zu stützen, Marktanteile für Rüstungs- und andere Exportgüter zu sichern und Einfluss auf die Förderpolitik der Rohstoffproduzenten am Golf zu nehmen, liegt auf der Hand. Doch über allem steht der Anspruch, sich durch gezieltes Engagement in der Mena-Region den Wiederaufstieg als Alpha-Player zu sichern und nebenbei die Schwäche amerikanischer Nahostpolitik auszunutzen. Für seine nahöstlichen Verbündeten erweist sich Moskau dabei als verlässlicher Partner, dem Regime-Stabilität über alles geht und der seine Alliierten in der Region nicht mit lästigen Forderungen in Sachen Menschenrechte und politische Reformen behelligt. Syrien mag als Paradebeispiel dafür dienen, dass die vielbeschworene «selektive Zusammenarbeit» zwar nicht unmöglich (ohne eine russischamerikanische Einigung wäre die – brüchige – Feuerpause zwischen Asad-Regime und Opposition kaum zustande gekommen), aber doch ein äusserst schwieriges Bohren dicker Bretter ist. So herrscht nach wie vor Uneinigkeit darüber, welche der Konfliktparteien es zu bekämpfen und wen es zu unterstützen gilt und wie die Zukunft Syriens nach dem Ende der Kampfhandlungen aussehen sollte. Auch mit Blick auf die Stabilisierung Libyens – des nächsten Brandherds vor Europas Haustür – stehen die Aussichten auf eine russisch-westliche Zusammenarbeit nicht gut. Aus Kreml-Perspektive ist es in erster Linie Aufgabe des Westens, die Scherben seiner misslungenen Militärintervention zusammenzukehren, der Moskau von Anfang an ablehnend gegenüberstand. Sollte sich die russische Führung dennoch zu einem stärkeren Engagement in dem nordafrikanischen Krisenland entschliessen, würde dies als Entgegenkommen an den Westen verpackt – versehen mit dem entsprechenden politischen Preisschild. Fazit? Es gilt realistisch zu sein, wenn es um die Chancen einer «selektiven Zusammenarbeit» geht. Man sollte sich darauf konzentrieren zu verhindern, dass aus strategischer Konkurrenz unversehens direkte Konfrontation wird. Wie gefährlich schnell sich die Eskalationsspirale drehen kann, hat der Abschuss einer russischen Su-24 durch die türkischen Luftstreitkräfte im November 2015 gezeigt. Willkommen in der neuen Normalität zwischen Russland und dem Westen. Nora Müller leitet den Bereich Internationale Politik der Körber-Stiftung.
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