J. Guldi ua: The History Manifesto 2016-2-070 Guldi, Jo - H-Soz-Kult

J. Guldi u.a.: The History Manifesto
Guldi, Jo; Armitage, David: The History Manifesto. Cambridge: Cambridge University Press
2014. ISBN: 978-1107432437; X, 165 S.
Rezensiert von: Stefan Jordan, Historische
Kommission bei der Bayerischen Akademie
der Wissenschaften München
Parallel zur Volltextveröffentlichung im Internet1 erscheint Jo Guldis und David Armitages „The History Manifesto“ auch in Buchform. Der Titel verwundert zunächst, gehören
doch Manifeste nicht zu den für Historiographen üblichen literarischen Genres, sondern
sind in erster Linie ideologische oder politische Absichtserklärungen. Gleichwohl ist er
gut gewählt, denn der Band versteht sich als
politische Kampfschrift für Historiker. Sein,
wohl als halb-ironische Anspielung zu verstehender, Schlusssatz lautet: „Historians of the
world, unite! There is a world to win – before it’s too late.“ (S. 125) Der Appell, den
die beiden US-amerikanischen Autoren an ihre Zunftkollegen aus der Geschichtswissenschaft richten, hat ein klar umrissenes Ziel: „It
may be little wonder, then, that we have a crisis of global governance, that we are all at the
mercy of unregulated financial markets, and
that anthropocenic climate change threatens
our political stability and the survival of species. To put these challenges in perspective,
and to combat the short-termism of our time,
we urgently need the wide-angle, long-range
views only historians can provide.“ (S. 125)
Die Welt ist in Gefahr, und nur Historiker
können sie retten, dies ist die Kernaussage des
Bands.
Guldi und Armitage diagnostizieren unserer Gegenwart eine schwere Krise in den drei
Bereichen „Global Governance“ – verstanden
als ein weltweit funktionierendes politisches
Lenkungssystem –, in den Auswirkungen des
von Menschen beeinflussten Klimawandels
und in globaler sozialer Ungleichheit infolge aus der Kontrolle geratener Finanzmärkte.
Zudem steckten auch die Geschichtswissenschaft und die Humanities in einer Krise, von
der die Einleitung des Bands ihren Ausgang
nimmt. Anstatt auf Fakten zu bauen, würde zu sehr auf Theorien und Modelle Wert
gelegt. Besonders gravierend sei der „shorttermism“ der Wissenschaft, also die Begren-
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zung auf Datenbestände einzelner Archive
und auf Zeithorizonte von unter 50 Jahren,
die sich nach den Bedürfnissen und Zyklen
der Wirtschaft orientierten. Die disziplinenübergreifende Erforschung langer Zeiträume,
die für die „alte Universität“ kennzeichnend
gewesen sei, sei ebenso vom Kurzzeitdenken
abgelöst worden, wie in der Geschichtswissenschaft seit den 1970er-Jahren die Untersuchung der „longue durée“ durch mikrohistorische Ansätze. „For two generations, between 1975 and 2005, they [the historians, SJ]
conducted most of their studies on biological time-spans of between five and fifty years,
approximating the length of a mature human life.“ (S. 7) Aus diesem Grund hätten die
Historiker ihre Funktion als Entwickler politischer Zukunftsperspektiven an Laien („unaccredited writers“, S. 8) und Vertreter der
Sozialwissenschaften, vor allem Ökonomen,
sowie Evolutionsbiologen und andere Naturwissenschaftler abgetreten.
Um diesen Verlust der Deutungskompetenz deutlich zu machen, widmen sich die
Autoren in ihrem ersten Kapitel den Leistungen des „long-term thinking“, insbesondere des Braudelschen Ansatzes und Arbeiten von Historikern wie R. H. Tawney, Sidney und Beatrice Webb sowie Eric Hobsbawm, das eng an „policy-making“ und öffentliche Debatten über die Zukunft angebunden gewesen sei (S. 20–25). „The institutions
of international development looked to history to supply a roadmap to freedom, independence, economic growth, and reciprocal peacemaking between the nations of the
world.“ (S. 27) Die „long-term thinker“ seien
damit der „klassischen Mission der Geschichte“ als magistra vitae gefolgt.
Das zweite Kapitel behandelt das Aufkommen des „short-termism“ seit Ende der
1960er-Jahre. Die Generation der „68er“ habe
bedingt durch Änderungen auf dem Arbeitsmarkt und zunehmende Materialfülle verstärkt auf kurze Untersuchungszeiträume gesetzt, das neue Ideal wissenschaftlicher Arbeit
sei die Fokussierung auf begrenzte Orte und
Räume geworden. „By the 1980s, modernisation theory, Marxism, ‚theories of long-term
economic development and cultural lag, the
1 <http://historymanifesto.cambridge.org/>
(20.04.2016).
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inexorabilities of the business cycle and the
historians’ longue durée’, had all been replaced by a foreshortened sense of time focused on one brief moment: the here and now
of the immediate present.“ (S. 53) Unterstützt
worden sei diese Entwicklung durch die verschiedenen „turns“ und den Postmodernismus, so dass die ‚wirklich wichtigen Ziele’ –
Erderwärmung, Klassengegensätze und Kapitalismuskritik – aus dem Blick geraten seien. In den Zeiten der Neuen Kulturgeschichte
hätten „neo-liberal economists“ die ehemalige Deutungshoheit der Historiker übernommen (S. 60).
Das dritte Kapitel unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit des „long-term thinking“ für Klimawandel, „International Governance“ und globale soziale Ungleichheit, ohne dabei grundsätzlich neue Argumente zu
liefern. Dabei werden Politologen und Politikberater wie Samuel Huntington und Francis Fukuyama scharf attackiert, und es wird
ein sehr einseitiges Bild von Ökonomen als
neo-liberalen, die Dominanz des Westens fordernden, fundamentalistischen und zu reduktionistischen Theorien neigenden apokalyptischen Predigern ohne langfristige Perspektive entworfen. Die Konsequenz: „a moral crisis“ (S. 83f.).
Der Weg aus dieser moralischen und politischen Krise könne nur von Historikern gefunden werden, allerdings nicht in einer einfachen Rückbesinnung auf die ‚gute alte Tradition’ der longue durée, sondern durch den
Einbezug der Digital Humanities, wovon das
letzte Kapitel „Big questions, big data“ handelt. Die Materialfülle, über die Historiker
heute verfügten, biete die Chance, die großen
Fragen anzugehen, wenn das Material seriell und unter Zuhilfenahme von „new tools“
und Systemen wie „Paper Machines“ ausgewertet werde. „Historians should be at the
forefront of devising new methodologies for
surveying social change on the aggregate level. [. . . ] The era of fundamentalism about the
past and its meaning is over – whether that
fundamentalism preaches climate apocalypse, hunter-gatherer genes, or predestined capitalism for the few.“ (S. 111f.) Dabei skizzieren die Autoren ein erstaunlich naives Bild
der Digital Humanities. Denn diese erscheinen nicht als Oberbegriff für Recherche- und
Darstellungshilfsmittel, die für konkrete Einzelfragen benutzt werden können, sondern
als ein Art Black Box, in die Daten hineingeschüttet werden, um dann, nach Drücken des
roten Auswertungsknopfs, zu wissenschaftlichen Ergebnissen zu gerinnen. Das Bild des
Historikers im Zeichen der so beschriebenen
Digital Humanities mutiert vom Intellektuellen zum Anwender. „Historians may become tool-builders and tool-reviewers as well as
tool-consumers and tool-teachers.“ (S. 114)
„The History Manifesto“ ist ein gleich
in mehrfacher Hinsicht ärgerliches Buch.
Zunächst einmal enerviert es den Leser
durch seine unglaublich argumentationsarme Mantra-artige Wiederholung der wenigen apriorischen Sätze über die Aufgaben
des Historikers und die zeitgeistige Krise des
„short-termism“. Was die Autoren in rund
130 Seiten entfalten, wäre auch auf 30 Seiten
zu sagen gewesen. Dann stören die krassen
Klischees: Ökonomen sind neo-liberale Fundamentalisten, Evolutionsbiologen und andere Naturwissenschaftler sind Darwinisten,
Historiker dagegen sind kritische, universal
geeignete Alleskönner. Warum überhaupt ist
es die Aufgabe des Historikers, sich um Klimawandel, „Global Governance“ und globale
soziale Ungleichheit zu kümmern? Für Guldi und Armitage sind diese Ziele einfach gesetzt, ihre Begründung unterbleibt ebenso wie
nicht thematisiert wird, warum etwa ein Historiker eher geeignet sein soll, die Erderwärmung zu untersuchen, als ein Klimaforscher
oder warum Historiker die Entwicklung der
Finanzmärkte besser darstellen können sollen als Wirtschaftswissenschaftler. Schließlich
enttäuscht der Band völlig durch sein Bild
der Digital Humanities, die als Allheilmittel gegen alle Krisen beschrieben werden. Sie
fungieren in Guldis und Armitages Pamphlet
als Mittel, mit denen das Heilsversprechen
des „History Manifesto“ – ‚Historiker vereint
euch, denn mit eurer Hilfe ist die Welt zu retten’ – eingelöst werden soll. Das „Manifesto“ überrascht den Leser nur an einer Stelle:
Vor Beginn des Texts sowohl bei der Internetals auch bei der Printversion sind kurze Lobeshymnen auf diesen Band von führenden
amerikanischen und englischen Historikern,
unter anderem Thomas Piketty, Daniel Woolf
und Craig Calhoun, zu finden. Entweder ha-
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J. Guldi u.a.: The History Manifesto
ben diese Rezensenten das Buch nicht gelesen, oder sie haben ein für Leser des europäischen Kulturraums unfassbares, ähnlich naives und von Klischees geprägtes Politikverständnis wie die Verfasser.
HistLit 2016-2-070 / Stefan Jordan über Guldi,
Jo; Armitage, David: The History Manifesto.
Cambridge 2014, in: H-Soz-Kult 29.04.2016.
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