Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1

Máire Brüning
Wie ein Siegel auf dein Herz
Teil 1
Das Buch
Aus Liebe unterstützt der Medicus Nael die Grafentochter Roana bei der
Suche nach ihrem verschollenen Oheim. Als Roana ihm jedoch gesteht,
dass sie sich heimlich mit seinem Halbbruder Rafael vermählt hat, bricht
für Nael eine Welt zusammen. Absichtlich bringt er sich in tödliche
Gefahr. Im letzten Moment wird er von einer geheimnisvollen Fremden
gerettet. Gewiss, sie niemals wiederzusehen, raubt er ihr einen Kuss, der
ihm fortan nicht mehr aus dem Kopf geht. Ein Unwetter zwingt Nael
und seine Begleiter, auf der Burg Rocca d´Aquila Schutz zu suchen.
Verblüfft erkennt der Medikus in der Burgherrin seine geheimnisvolle
Retterin. Um gierige Feinde abzuwehren, braucht die junge Witwe
dringend einen Mann, der bereit ist, für eine Weile in die Rolle des
Burgherrn zu schlüpfen. Zum Unverständnis aller Betroffenen weigert
Nael sich jedoch, diese Aufgabe zu übernehmen. Denn der Medicus ist
nicht, was er zu sein scheint. Die Schatten seiner Vergangenheit drohen
jeden zu vernichten, der sich mit ihm einlässt…
Die Autorin
Máire Brüning, geboren 1966 wuchs in einer Region auf, die reich an
Zeugnissen staufischer Baukunst ist. Dadurch begeisterte sie sich schon
als Kind für alte Ruinen, Sagen und Ritterrüstungen; ihre Leidenschaft
für Geschichte und das Mittelalter führte sie schließlich zum historischen
Roman. Nach einigen Wanderjahren als Floristin quer durch Deutschland lebt uns arbeitet Máire Brüning in der Nähe von Frankfurt. Eine
gelungene Verbindung zwischen Beruf und Leidenschaft gipfelte 2003
im Gewinn des Cadeaux-Wettbewerbs.
Von Máire Brüning sind bereits erschienen:
Roana
Tage der Trauer ( Sequel 1 zu Roana)
Teil 1
Máire Brüning
Impressum
Texte:
© Copyright by Máire Brüning
Umschlag:
© Copyright by Viktoria Petkau,
www.gedankengruen.de
Verlag:
SK
[In den Wingerten 19]
63683 Ortenberg
[email protected]
Druck:
epubli ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7418-0652-0
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
IN MEMORIAM
Ferdinand Brüning
Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt,
der ist nicht tot, der ist nur fern;
tot ist nur, wer vergessen wird.
(Immanuel Kant / Lucius Annaeus Seneca)
Alain de
Vitry,
Viviana
franz. Ritter
Madulain
Ravena
Lucca
Rafael
Roana
= verheiratet
Nael
Die Bewohner von Rocca d´Aquila
Ravena, Burgherrin
Bruno, Baron von Rocca d´Aquila, Ravenas
verstorbener Gemahl
Madlaina, Zofe und Freundin der Burgherrin
Tarun, Alessa, Desideria, Waisenkinder
Dinêl, Falknergehilfe
Cesare, Diener
Jelscha, Köchin
Die Reisegruppe
Nael, Medikus
Rafael, sein Halbbruder
Roana, Rafaels Gemahlin
Peire, Sänger, Rafaels Diener
Sonstige Personen
Alaric von Staleberc, Ritter
Ash´ abah, der Geist
Arel, Medicus
Rollo, sein Diener
3
4
Improbe amor, quid non mortalia pectora cogis
d
r verlor langsam den Verstand. Ja, das musste
es sein. Wie sonst ließ sich erklären, dass es
ständig dieses quälende was - wäre - wenn im
Kopf hatte. Das ertrug er nicht länger. Wie so oft in
den letzten Wochen wünschte er sich, ihr nie begegnet zu sein.
Allein der Duft ihrer Haut schoss ihm wie ein
Aphrodisiakum ins Hirn und wenn er gar den Fehler
beging, an den Kuss zu denken, verschlug es ihm im
wahrsten Sinne des Wortes den Atem …
Wobei dieser Kuss schon vier Wochen zurücklag.
Vier endlose Wochen, in denen er das Gefühl gehabt
hatte, über loses Geröll zu laufen, das ihn unaufhaltsam auf einen Abgrund zu trug. Sie wollte ihn nicht.
Nicht das Nael normalerweise Schwierigkeiten mit
Frauen hatte. Im Gegenteil. Frauen mochten ihn.
Wo immer er auftauchte, mangelte es ihm nicht an
weiblicher Gesellschaft. Aber er musste sich ausgerechnet in Roana von Morra verlieben, die einzige
Frau, die absolut nichts von ihm wissen wollte. Zu
einer anderen Zeit hätte er vielleicht über die absurde Situation lachen können – aber im Augenblick
fühlte er sich einfach nur miserabel.
5
Aus zusammengekniffenen Augen spähte er in
seinen Weinkrug. Beinahe leer.
Na wunderbar. Selbst sein Körper betrog ihn. Bei
der Menge an Wein, die er an diesem Abend schon
getrunken hatte, hätte er längst in einem Stadium
seliger Bewusstlosigkeit sein müssen. Wie die
meisten seiner Versuche, Roana aus seinem Gedächtnis zu löschen, war auch dieser gescheitert.
Aber unbelehrbarer Dummkopf, der er war, würde
er trotzdem nicht aufhören, den Wein des Herrn von
Segeste in sich hineinzuschütten. Vielleicht gelang es
ja schierer Erschöpfung, ihn für eine Weile Vergessen finden zu lassen.
Nael hob den Weinkrug, um sich seinen Becher zu
füllen, aber nach einem Blick auf den mageren Rest
befand er, dass sich der Aufwand nicht lohnte.
Stattdessen setzte er den Krug an und nahm einen
tiefen Schluck.
Er saß auf einer Steinmauer, hoch oben auf dem
Wehrgang der Burg Segeste. Mit dem Rücken lehnte
er gegen die raue Wand des Turmes, den rechten
Fuß auf die gegenüberliegende Zinne gestützt,
während sein linkes Bein über die Brüstung hing und
von der Nacht verschluckt zu werden schien. Er ließ
seinen Blick über die mondbeschienene Landschaft
schweifen, die Felder und Weinberge, welche die
Burg Segeste umgaben. Wie lange saß er jetzt schon
hier?
Wie üblich hatte sein Versuch zu vergessen kurz
nach Sonnenuntergang begonnen. Bier, Wein – jedes
Gift war ihm recht, wenn es nur dazu geeignet war,
sein Denkvermögen auszuschalten. Kämpfen war
6
ebenfalls nützlich, falls jemand dumm genug war,
ihm in die Quere zu kommen. Ihn störten die Verletzungen nicht besonders, die er sich dabei einhandelte, aber sein Halbbruder Rafael geriet jedes
Mal ziemlich aus der Fassung, wenn er zerschlagen
und blutig in sein Quartier zurückkehrte.
Mit einem gleichgültigen Blick musterte Nael seine
Hände, die sich kreuzenden roten Linien auf seinen
Handrücken. Erinnerungen an eine wüste Schlägerei,
in die er vor zwei Tagen verwickelt worden war.
Einige der Striemen begannen zu verschorfen,
andere dagegen waren noch so roh, dass sie bei der
geringsten Bewegung erneut anfingen zu bluten.
Messer, Scherben eines zerbrochenen Bechers - er
wusste nicht einmal, was genau die Schnitte verursacht hatte. Er spürte weder Bedauern noch das
Bedürfnis, die Wunden zu versorgen – all dies hätte
Nael der Arzt fühlen sollen - aber Nael den Mann
ließen die Verletzungen völlig kalt.
Und er war darüber nicht einmal sehr erschrocken.
Alles, was er spürte, war eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine mit Hilflosigkeit gepaarte Wut,
die durch die mitleidigen Blicke seines Bruders noch
geschürt wurde. Das Trinken, das Kämpfen - Rafael
hatte es als das erkannt, was es war: ein billiger Trick,
um ihn von dem großen schwarzen Loch in seinem
Herzen abzulenken. Nael stieß ein grimmiges
Schnauben aus. Unglücklicherweise hatte das Loch
die Form von Roana und nichts anderes als Roana
passte dort hinein. Er war sich so sicher gewesen,
dass sie ihn, Nael, seinem wilden und gefährlichen
7
Halbbruder Rafael vorziehen würde. Himmel, größer
hätte sein Irrtum gar nicht sein können!
Für Roana hatte er sich selbst Daumenschrauben
angelegt, war zurückhaltend gewesen und geduldig,
während er sie mit allem Respekt umworben hatte,
der einer Edeldame zustand. Vielleicht hätte er ihr
besser erzählen sollen, dass auf seinen Kopf ein Preis
ausgesetzt war. Dass er eine schwangere Frau getötet
hatte. Eine Frau, die er niemals hätte anrühren
dürfen, weil er für Fälle wie den ihren gar nicht ausgebildet war. Aber er war jung gewesen und von sich
selbst eingenommen, stolz auf sein an der Universität von Salerno erworbenes Wissen.
Bevor er die Lektion des Scheiterns gelernt hatte.
Er sah immer noch den entsetzten Blick der Frau, als
sie begriff, dass es mit ihr zu Ende ging. Er sah es an
jedem neuen Morgen, in welchem Bett und in
welchem Zustand er auch erwachte. Und jedes Mal
hatte er das Gefühl, ein wenig schneller Richtung
Abgrund zu rutschen, wenn er über die bisher größte
Dummheit seines Lebens nachdachte. Die eine, die
ihn als Person definierte.
Wie ein Spinnennetz klebte seine Vergangenheit an
ihm und je mehr er sich wehrte, umso tiefer verstrickte er sich in dem zähen Gespinst aus Reue,
Selbstzweifeln, Scham und Resignation.
Wenn er wenigstens in der Lage gewesen wäre,
seinen Bruder zu hassen …Seinen Bruder Rafael,
dem es scheinbar mühelos gelungen war, seine Vergangenheit abzustreifen, wie eine zu eng gewordene
Haut. Aber er hatte ja auch Roana. Ihre Liebe.
8
Er dagegen … Wer wollte sich schon mit einem
Niemand wie ihm einlassen, einem namenlosen
Medicus, dem alles durch die Finger geronnen war,
was er jemals besessen hatte?
Er rutschte in gefährlichem Tempo auf den Abgrund zu. Und wenn er erst einmal am Rand angekommen war, würde er fallen und fallen, unaufhaltsam wie ein Stein, den ganzen Weg in die Tiefe,
ohne jede Hoffnung jemals wieder nach oben zu
kommen …
Er hob den Krug an den Mund und nahm erneut
einen tiefen Schluck. Wann zum Teufel würde sein
Körper endlich nachgeben?
Beim Abstellen stieß er gegen den Becher, der umkippte und über den Rand der Brüstung rollte. Nael
beugte sich mit dem Oberkörper über die Zinnen
hinaus und sah dem fallenden Gefäß hinterher. Und
schon waren sie wieder in seinem Kopf, diese
dunklen Gedanken, die von Mal zu Mal verführerischer wirkten. Es wäre so leicht, einfach die
Brüstung loszulassen, sich in die dunkle, lockende
Tiefe zu stürzen. Drei, vier Herzschläge nur und alles
wäre vorbei - Neid, Schmerz, Leere, für immer
vorbei …
»Nael? Allmächtiger! Was machst du da?«
Langsam richtete er sich auf und wandte den Kopf
zu der Sprecherin um. Roana. Ausgerechnet sie.
Ausgerechnet jetzt. Aber wer sonst käme auf den
Gedanken, ihn in seiner selbst gewählten Einsamkeit
zu stören?
»Sieht so aus, als ob ich hier säße.«
»Bist du noch bei Trost?«, fragte Roana un9
gehalten. »Einen gefährlicheren Platz konntest du
wohl nicht finden, um dich zu betrinken, wie? Du
musst doch wissen, dass du spätestens um Mitternacht nicht mehr Herr deiner Sinne bist! Was, wenn
du in deiner Trunkenheit den Halt verlierst?«
Nael schwieg.
»Oh. Ich verstehe. Du legst es bewusst darauf an,
nicht wahr?«
»Vielleicht.« War er wirklich bereit gewesen, sich in
die Tiefe zu stürzen? Er dachte einen kurzen
Moment nach, bevor er die Frage unbeantwortet
beiseiteschob.
Sie zog scharf den Atem ein. »Ich hasse es, wenn
du das tust.«
Ihr Ton rüttelte Nael aus seiner Versunkenheit auf.
»Wie bitte? Was tue ich denn?«
»Du schacherst mit dem Teufel um deine Seele«,
sagte Roana mit schwerer Betonung. »Bitte, bitte, tu
das nicht. Es macht mich wirklich nervös.«
Ein angespanntes Schweigen folgte. Schließlich
war es Roana, die einen leisen Seufzer ausstieß.
»Warum sitzt du allein hier oben?«
»Weil es ziemlich schwierig ist, sich in einer Halle
voller Menschen in Ruhe zu betrinken.«
Roana runzelte die Stirn. »Sag mir Nael, weiß
Rafael eigentlich, wie viel du trinkst?«
»Keiner weiß das. Noch nicht einmal ich.«
Er griff erneut nach dem Weinkrug und nahm
einen Schluck.
Zu seiner Überraschung kam sie näher und
streckte ihm die Hand entgegen. »Bitte komm von
der Mauer weg, Nael. Tu mir wenigstens diesen Ge10
fallen. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich
wüsste, dass du nicht gerade neben einem Abgrund
sitzt, um dich zu betrinken.«
Nael musterte ihren in ein einfaches Gewand gehüllten Körper. Das Licht aus dem Turmgemach
hinter ihr ließ ihre Rundungen deutlich hervortreten,
und das kurze, blonde Haar ringelte sich in sanften
Wellen um ihr Gesicht. Sie sah wie eine Göttin aus,
wie sie dort stand. Ein atemberaubender Engel, der
erschienen war, seine verlorene Seele zu retten.
Und er wollte sie verschlingen wie ein halb verhungerter Wolf. Sie in seine Arme schließen und das
quälende Brennen in seinem Körper lindern. Aber
das konnte er nicht.
Reiß dich zusammen. Behalte deine Gefühle unter
Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.
Sie kam noch näher und wollte nach seinem Arm
greifen, doch Nael stieß ihre Hand weg. »Lass das
…«, murmelte er.
Nein, er durfte sie nicht berühren. Nicht einmal
ihre Hand. Sonst tat er am Ende noch etwas so Unpassendes, wie sie an sich zu reißen und zu küssen.
»Hast du dir extra die Mühe gemacht auf den
Turm zu steigen, nur um mir einen Vortrag zu
halten?«, fragte er unfreundlich.
»Nein«, erwiderte sie zögernd und ließ ihre Hand
sinken. »Tatsächlich bin ich aus einem ganz anderen
Grund gekommen. Ich habe dir etwas zu sagen. Ich
dachte, es sei besser … wenn du es von mir selbst
hörst.«
»Verschwinde. Lass mich.« Er drehte den Kopf zur
Seite.
11
Roana verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich
denke nicht daran, mich vertreiben zu lassen, bevor
ich gesagt habe, was zu sagen ist.«
Naels Kopf schwang zurück, seine Augen
funkelten Roana böse an. »Verschwinde Herrin, geh
hinunter in die Halle, dort gibt es besseren Zeitvertreib für eine Dame wie dich!«
Roana sah ihn wortlos an. In den Weinbergen
raschelten die Blätter im nächtlichen Wind.
»Rafael und ich haben in Morra geheiratet.«
Nael saß auf der Mauer, wie versteinert. Mit
hängenden Mundwinkeln. Zu keinem Gedanken
fähig.
»Nael?« Roanas Stimme klang vorsichtig. »Du verschüttest deinen Wein.«
Nael zuckte erschrocken zusammen und richtete
den Krug auf. Er konnte nicht atmen. Er schluckte.
Seine Kehle war ausgetrocknet wie Wüstensand.
Roana. Hatte. Rafael. Geheiratet. Das war das
Ende all seiner Hoffnungen.
Abrupt sprang er auf und drängte sich an ihr
vorbei. Er hastete die Treppe hinunter, durch den
Hof in den Stall. Warf seinem Pferd die Zügel über
den Kopf und den Sattel auf den Rücken. Obwohl er
wusste, dass es riskant war, ließ er sich ein Seitentor
öffnen, schwang sich auf seinen Hengst und
preschte davon. Er brauchte das Tempo und er
brauchte die Nacht. Vielleicht brauchte er ja auch
das Risiko. Er hatte sich nie viele Gedanken um
Frauen gemacht, hatte nie die Notwendigkeit gesehen, sich an eine Einzige zu binden. Ein Heim,
Familie, Kinder. Einen Ort, wo er wirklich hin12
gehörte. Er hatte geglaubt, dass es sich auch gut
ohne diese Dinge leben ließ.
Bis er Roana begegnet war, der Frau mit den
Mondscheinaugen und dem geheimnisvollen
Lächeln. Die Frau seines Lebens. Die Einzige. Die
nun Rafael gehörte.
Er ließ seinen Hengst über Steinmauern springen
und über Felder galoppieren, wo die Nachtluft süß
und kühl war. Das Mondlicht tauchte die Burg
Segeste in einen silbernen Schimmer und in einigen
Fenstern glühten Kerzen. Vielleicht war eines dieser
Fenster das von Rafael und Roana. Vielleicht teilten
sie sich einen späten Imbiss und gingen dann zu
Bett, um sich stundenlang zu lieben. Bei diesem
Gedanken wuchs ein Druck in ihm heran, der ihn zu
zerreißen drohte.
Roana …
Einst hatte er seine Träume zu ihren Füssen ausgebreitet. Sie war darüber hinweggeschritten, als
seien es nur lästige Kiesel und nun lagen seine
Träume in Scherben.
Mit einem wilden Knurren spornte er seinen
Hengst an und ließ ihn galoppieren, weg von der
Burg, weg von Roana und der steten Versuchung,
die sie darstellte.
q
Gegen Morgen hielt Nael an einem von Berghängen
umgebenen See, nur wenige Minuten von Segeste
entfernt und ließ seinen müden Hengst trinken. Ein
feiner Nieselregen fiel. Während das Tier sein Maul
13
in den See tauchte, starrte er auf das Wasser hinaus.
Wie ein großer grauer Teppich lag es vor ihm, mit
unzähligen kleinen Wellen, die sich ihm entgegen
kräuselten, eine nach der anderen. Der Duft vermodernder Pflanzen schlug ihm entgegen. Er sog
den Geruch tief in seine Lungen, bis er seinen
ganzen Körper ausfüllte und nichts mehr existierte
außer dem süßlichen Hauch des Todes.
Und die Wellen flüsterten, leise, verlockend, beharrlich, komm … tanz mit uns ...
Schon mehrmals während der Nacht hatte er sich
allen Ernstes gefragt, ob es in ihm noch irgendetwas
gab, was im Inferno seines Schmerzes nicht verbrannt war. Ein Teil seiner Seele war zu hartem,
gefühllosem Narbengewebe geworden und er wusste
noch nicht, wie groß dieser Teil war, und ob er sich
jemals wieder regenerieren würde. Er ging einen
Schritt näher an das Wasser heran. Es rollte ans Ufer
und hinterließ eine feucht schimmernde Oberfläche,
die einladend vor ihm lag.
Du willst mich aufnehmen, dachte er. Du willst
mich und meinen Schmerz aufnehmen. Meinen
Schmerz, die Trauer, mein Leben, willst du begraben
in deinen dunklen Tiefen. So sei es.
Ein feiner Schweißfilm bedeckte seinen Oberkörper und biss auf seiner Haut, wie ein ganzes Volk
wilder Ameisen, aber er zwang sich, das zu
ignorieren. Während die warme Brise mit seinen
Haaren spielte, machte er einen Schritt nach vorne
und die nasse feuchte Erde saugte schmatzend an
seine Stiefeln. Die Wellen kamen angetanzt, sanft
schmeichelnd und begruben seine Füße bis zu den
14
Knöcheln unter sich. Er sah ihnen zu, sah, wie sie
einander abwechselten, wie sie sich daran machten
seine Beine zu erobern. Seine Füße waren im Uferschlick versunken, verschwunden, wie auch er bald
ganz und gar verschwunden sein würde, für immer.
Sein Hengst hatte begonnen die spärlichen Grashalme am Ufer auszurupfen und einen Moment lang
bedauerte er das Tier zurücklassen zu müssen. Der
Rappe würde irgendwann nach Segeste zurücklaufen
und vielleicht würde sich sein Bruder fragen, was
ihm wohl zugestoßen war. Vielleicht würde ihn aber
auch niemand vermissen. Er horchte in sich hinein
und versuchte zu ergründen, ob ihm das etwas ausmachte. Das tat es nicht. Solche Dinge hatten längst
keine Bedeutung mehr für ihn.
Die Kühle des Wassers stieg seine Beine hinauf,
umfing ihn wie tröstende Hände. Er riss den Blick
von seinem Pferd los und schritt den Wellen entgegen.
Wasser schenke mir deinen Frieden.
Es leckte an seinen Beinen. Er schauderte ein
wenig unter der kalten Berührung, gleichzeitig hätte
ihn nichts auf der Welt bewegen können, die Kühle
zu verlassen. Sie legte sich wie ein Nebel auf sein
Gemüt und dämpfte die Gedanken.
Ein sanfter Wind raschelte im Schilf, wisperte ein
Lebewohl – sieh her, wie einfach es ist! Hab keine
Angst!
Das erste blassrosa-farbene Licht des neuen
Morgens erschien am Horizont, legte sich auf das
Wasser, überzog es mit kristallenem Glanz. Doch
gleich darauf zogen dämmergraue Wolken heran und
15
nahmen dem Morgen, dem Himmel, dem Wasser die
Farbe. Er machte noch ein paar Schritte vorwärts.
Das Wasser schmeichelte die Schenkel entlang,
kitzelte ihn spielerisch, während alles, was unter der
Wasseroberfläche verschwunden war, nicht mehr zu
ihm zu gehören schien. Das Wasser lockte ihn, zog
ihn tiefer und tiefer in den See, ergriff von ihm Besitz, forderte eine letzte und endgültige Entscheidung, die er tief in seinem Herzen längst getroffen hatte. Vielleicht spürte er deshalb die Kälte
nicht, die schon an seinem Bauch angekommen war
und seine Djelaba vom Saum bis zum Halsausschnitt
durchdrungen hatte. Wellen zupften, stupsten,
leckten von vorne, von hinten, von den Seiten,
tippten ihn an die Brust, gegen den Rücken, und
trugen seine Arme über das Wasser wie zwei
Korken, so sehr der Stoff auch zog.
q
Leiser Regen rieselte aus dem blassgrauen Himmel,
als Ravena von Rocca d’Aquila bei Tagesanbruch mit
dem Falken auf der Faust am westlichen Ufer des
Sees von Segeste entlangritt. Der Falke war der frisch
abgetragene Beizvogel ihrer Freundin und Ravena
hatte versprochen, während ihres Besuches mit dem
unerfahrenen Tier zu arbeiten. Der See war reich an
Niederwild und Ravena hatte die Hoffnung einige
Enten aufzustöbern, an denen ihr Vogel seine Fähigkeiten erproben konnte. Der geliehene Stöberhund
tänzelte um ihr Pferd, griff dann aber mit langen
16
Sprüngen aus und verschwand im Schilf. Aber statt
der erhofften Enten erhob sich ein Reiher aus dem
Rohrwald des Ufers.
Ravena zögerte einen Moment. Ein Reiher war
eine ungleich anspruchsvollere Aufgabe für den
jungen Falken, als die vorgesehene Ente. Unruhig
trat der Falke auf ihrem Arm hin und her, er hatte
die Beute erspäht. Ravena nahm durch den Handschuh das Beben der Fänge wahr, löste rasch die
Fessel vom kleinen Finger und warf mit kühnem
Ruck den Vogel in die Luft.
Aufmerksam folgte sie mit den Augen dem rasch
steigenden Falken und seinem Gegner. Inzwischen
hatte es aufgehört zu nieseln und hinter den Regenwolken zeigte sich ein Streifen blasses Rosa am
Horizont.
Höher und höher klommen die Vögel in den
Himmel hinauf, wurden zu kaum mehr erkennbaren
dunklen Punkten vor dem Grau der Wolken.
Endlich war der Reiher überflogen und der Falke
setzte zum ersten Stoß an. Beinahe wäre er ihm
allerdings zum Verhängnis geworden, denn der
Reiher streckte den spitzen Schnabel in die Luft und
wies mit dieser Waffe auch noch zwei weitere Angriffe ab. Aber dann gelang es dem Falken seine
Fänge in den Rücken des Reihers zu schlagen und
die Vögel wirbelten zu Boden.
»Jesus Maria!«, entfuhr es Ravena.
Ein Milan hatte inzwischen ihren Vogel angegriffen und versuchte ihm die Beute abzujagen.
Die Raubvögel schossen Richtung See davon und
stürzten dort im Kampf wie Steine zu Boden.
17
Sofort trieb Ravena ihr Pferd an. Der Reiher war
vergessen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es ihr in
den Ohren rauschte. Die wilden Flügelschläge der
beiden Vögel waren schon von Weitem zu hören. Sie
galoppierte am Ufer des Sees entlang, um eine
Biegung – und riss so heftig an den Zügeln, dass ihr
Pferd schlitternd und rutschend zum Stehen kam.
Im Wasser, schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, erblickte sie einen Mann, der sich unablässig
auf die tiefste Stelle des Sees zu bewegte. Heilige
Jungfrau Maria, warum tat er das? Wusste er nicht,
wie gefährlich das war? Der Seeboden senkte sich
zur Mitte hin abrupt zu unergründlicher Tiefe ab.
Nachdem einige Unfälle passiert waren, hatten die
Dorfbewohner am Ufer einen Pfahl eingeschlagen,
um den Beginn des gefährlichen Bereiches zu
markieren. In der ewigen Dämmerung unter Wasser
hausten Seeungeheuer, die ihre Opfer unbarmherzig
in die Tiefe zogen. Keines ihrer Opfer war jemals
wieder aufgetaucht. So zumindest hatte es ihr die
Freundin erzählt. Ravena glaubte zwar nicht an die
Seeungeheuer, aber vielleicht gab es Strudel, die ja
kaum weniger gefährlich waren. Ravena winkte und
schrie dem Mann eine Warnung zu, ohne jedoch eine
Reaktion hervorzurufen. Der Mann bewegte sich
unbeirrt weiter. Inzwischen ging ihm das Wasser
schon beinahe bis zur Brust.
Irritiert trieb Ravena ihr Pferd an und ritt zu einer
Stelle am Ufer, die frei von Schilf und anderem Bewuchs war. Von da hatte sie zum ersten Mal einen
klaren Blick auf die Gesichtszüge des Mannes. Das
schwarze Haar fiel ihm bis auf den Rücken. Er hatte
18
ein schmales, ovales Gesicht, das in seiner Jugend
fast mädchenhaft hübsch gewesen sein musste und
dem die Zeit und die Reife eine herbe maskuline
Schönheit verliehen hatten, die durch die kühn geschwungenen Augenbrauen und den sinnlichen
Mund noch betont wurde.
Ihr ganzer Körper spannte sich an, wie eine
Bogensehne vor dem Schuss und sie konnte sich
nicht bewegen. Konnte nicht atmen. Konnte nicht
denken.
Der Mann mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre
zählen. Schlank und dennoch kräftig und muskulös
gebaut besaß er eine solche Ähnlichkeit mit ihrem
Stiefvater Lucca, dass sie in diesem einen Moment
vollkommen davon überzeugt war, ihren als Kind
verschollenen Halbbruder Rafael vor sich zu haben.
Und dann kam der Zorn über dass, was er tat, eine
eiskalte Wut, die das wild lodernde Gefühl der Panik
in ihr betäubte. Zorn machte es ihr möglich zu
atmen, sich zu bewegen, zu denken. Sie schlug ihrem
Pferd die Fersen in die Flanken und jagte es in den
See.
»Bleib stehen, Rafael! Nicht weiter!«
Sie trieb ihr Pferd unbarmherzig an. Um sie herum
schäumte das Wasser. Der Körper des Pferdes
schlug Wellen, die ringförmig davon strebten.
»Zurück, um Himmels willen! Zurück!«
Der Mann reagierte immer noch nicht. Er bewegte
sich zwar langsamer, aber nicht weil er stehen
bleiben wollte. Seine Gewänder waren inzwischen
nur einfach zu schwer, der Widerstand des Wassers
zu groß, um schneller voranzukommen.
19
Ravenas Wallach strauchelte und ihr Bein
schrammte an einem unter Wasser liegenden Felsen
entlang, ohne dass sie den Schmerz fühlte. Ihr
ganzes Sein war auf die Entfernung zwischen ihr und
dem Mann konzentriert, den sie für ihren Bruder
hielt. Irgendwo in ihrem Kopf zählte sie die Schritte
bis zum Abgrund, zählte, wie viele davon Rafael
noch vor sich hatte, zählte, wie viele ihrem Pferd
noch blieben, bevor es selbst den Boden unter den
Hufen verlor.
Zu große Entfernung.
Zu wenig Zeit.
Ravena schrie nicht noch einmal, selbst als sie sah,
dass der Mann vor ihr ins Straucheln geriet. Sie trieb
ihren Wallach härter an, als sie es je bei einem Pferd
getan hatte, und das Tier arbeitete sich tapfer durch
das Wasser.
q
Es dauerte verdammt lange. Mit den Gedanken bei
Roana und seinen Erinnerungen versuchte Nael
hinüberzugleiten in eine andere Welt, wo der Tod
schon darauf wartete, eine kalte, dunkle Decke über
ihn zu werfen. Sanft lockte er: Komm näher, komm
an meine Brust und wärme dich.
Aus halb offenen Augen sah er ihn in den blaugrünen Tiefen den Willkommensreigen tanzen und
er fühlte, dass ein Teil seines Körpers schon nicht
mehr ihm gehörte. Im nächsten Moment jedoch
schoss ein Wassergeist auf dem Rücken eines See20
ungeheuers aus den Fluten empor, es spritzte und
platschte um ihn herum, sein Gesicht wurde nass,
Wasser rann ihm in den Mund, er spuckte,
schlickiges Wasser auf der Zunge, am Gaumen.
Halb benommen schüttelte er sich die Haare aus
dem Gesicht und sah genauer hin. Der Wassergeist
war eine Frau. Sie saß im Sattel eines Pferdes, das
wie eine Festung vor ihm aufragte und ihm den Weg
ins tiefere Wasser versperrte. Die Reiterin lenkte ihr
Tier geschickt vorwärts, zwang ihn rückwärts zu
gehen und als er einmal in Bewegung war, trieb sie
ihn in schnellem Tempo auf das Ufer zu. Seine Füße
fanden keinen Halt auf dem rutschigen Untergrund,
er stolperte und schlug der Länge nach hin, schluckte
Wasser und Schlick. Im nächsten Moment wurde
sein Kopf an den Haaren aus dem Wasser gerissen
und ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen
Nacken. Keuchend und prustend rang er nach Luft.
Die Frau zerrte unbarmherzig an seinen Haaren
und deutete mit ihrer freien Hand zum Ufer,
während aus ihrem Mund Fetzen einer singenden
Sprache kamen, Bruchstücke von Drohungen, Verwünschungen, was auch immer, er verstand kein
Wort. Er rappelte sich mühsam hoch, taumelte
vorwärts. Ein paar Schritte noch über den nassen
Boden, weg vom Wasser, weit weg, dann knickten
ihm die Beine ein und er sank auf die Knie,
keuchend vor Anstrengung.
»Was soll--«
Das war alles, was Nael herausbrachte, weil das
Wasser ihm die Atemluft abschnitt. Sein Körper
wurde von einem heftigen Husten geschüttelt, er
21
würgte und spuckte Wasser. Die ganze Welt schien
sich vor seinen Augen zu drehen, er musste erneut
würgen, sein ganzer Leib schmerzte, doch war es
nichts als grüne Galle, was er ins Gras speien konnte.
Wilde Flüche murmelnd, wischte er sich über das
Gesicht -, mischte Blut mit Wasser – und stutzte.
Die Frau, die ihn aus dem Wasser getrieben hatte,
stand neben ihrem Pferd und schaute unverwandt in
seine Richtung, klare, blaugrüne Augen, die bis in
seine Seele zu blicken schienen. Wassertropfen
hingen an ihren dunklen Wimpern und glänzten wie
Kristalle im Morgenlicht. Strähnen ihres ebenholzfarbenen Haares hatten sich aus ihrer Haube befreit
und klebten feucht an ihren Wangen.
Wieder fuhr er sich über das Gesicht. Er versuchte, sich aufzurichten, aber durch die schnelle
Bewegung rutschte der Boden unter ihm weg und er
fiel seitwärts ins Gras. Langsam rollte er herum auf
den Rücken, starrte verwirrt zu ihr auf. Ihre Augen
waren halb geöffnet und sie sah auf beinahe unheimliche Weise durch ihn hindurch. Ein Succubus?
Aber er träumte doch nicht, oder?
Auf jeden Fall hatte sie ein Gespür für dramatische
Auftritte. Absicht oder nicht, es war äußerst
wirkungsvoll, wie sie da stand mit der aufgehenden
Sonne im Rücken, umgeben von einer Aureole aus
Feuer und Gold. Der nasse Rock ihres schlichten
Gewandes formte ihre schlanke Taille und die fraulich geschwungenen Hüften nach und klebte an
ihren langen Beinen.
Reiß dich zusammen. Behalte deine verdammten Triebe
unter Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.
22
Die endlosen strengen Vorträge seiner Lehrer, all
die Regeln, die sie ihm eingebläut hatten, wirbelten
durch seinen Kopf und füllten sein Gehirn mit
einem chaotischen Durcheinander murmelnder
Stimmen.
Er vor allen anderen wusste doch, was es hieß, mit
den Folgen einer Dummheit zu leben.
Aber für die Selbstkontrolle eines Mannes gab es
einfach Grenzen. Ein Blick aus diesen großen, blaugrünen Augen - und er verwandelte sich in einen
unzivilisierten Wilden, der die Frau über seine
Schulter werfen und in eine Höhle verschleppen
wollte.
Roana war eine Schönheit. Diese Frau jedoch war
umwerfend, auf eine besondere, ihr allein eigene Art.
Sie besaß eine Ausstrahlung, die königlich war. Stolz.
Würdevoll. Sie ließ sich nichts vormachen. Und
schon gar nicht wie ein Besitz behandeln.
»Nour«, murmelte er. »Malekah.«
Aber dann schloss er die Augen. Sein Leben war
ein Scherbenhaufen.
Durch und durch. Egal wie sehr er sich auch etwas
vormachte, das Wissen umkreiste ihn wie ein Geier,
der nur auf die Gelegenheit wartete, ihm die Augen
auszupicken und sich an seinem Fleisch gütlich zu
tun.
Und so fing es an. Das schleifende, knirschende
Geräusch mit dem Naels Füße begannen, haltlos
über das Geröll Richtung Abgrund zu gleiten. Nur
noch kurze Zeit um das Licht zu sehen– na und?
»Mach die Augen auf!«
23
Nur undeutlich drang die Stimme zu ihm vor.
Doch um keinen Preis wollte er die Lider heben,
irgendetwas an diesem Körper verändern, der auf
dem schmalen Grat zwischen Tod und Leben
schwebte»Bei der Jungfrau Maria, du bist ja betrunken!«
Zwei Hände packten seine Schultern und
schüttelten ihn erbarmungslos. Nael blinzelte. Ein
flammend roter Himmel wankte über ihm und
stürzte mit der nächsten brutalen Bewegung auf ihn
zu. Winselnd kniff er die Augen zusammen.
»Mann, hörst du mich?« Leichte Schläge trafen
seine Wangen. Mit einer Bewegung, für die ihn sein
Kopf prompt mit Schmerzen strafte, versuchte er,
sich auf die Seite zu drehen, weg, lass mich in
Frieden»Du Holzkopf. Mach sofort die Augen auf!«
Diesmal schlug sie härter zu, dass ihm die Wangen
brannten. Gequält öffnete er die Augen, blickte in
das verärgerte Gesicht der Frau.
»Du bist wirklich betrunken.« Fassungslos beugte
sie sich über ihm. »Und ich dachte …«
»Was?«, knurrte er. »Was dachtest du?«
»Nicht wichtig«, murmelte sie. »Nicht mehr
wichtig.«
q
Ravena hockte stocksteif da, einen dicken Kloß im
Hals. Der Mann war nicht Rafael.
Wieder einmal habe ich mir Hoffnung gemacht,
wo es keine Hoffnung mehr gibt, dachte sie, ohne
etwas dabei zu empfinden.
24
Die Zeit hatte jede Spur von dem Jungen, an den
sie sich erinnerte verwischt. Es gab ihn nicht mehr.
Aus. Vorbei. Die langen Wochen ihrer Gefangenschaft, Angst, Schmerz und was immer sie füreinander gewesen waren – Einbildung. Wunschdenken.
Hier hast du nun die Strafe für deine Tagträumerei,
Ravena. Du musst dich mit einem betrunkenen Fremden
herumschlagen und der Falke deiner Freundin ist vermutlich
inzwischen tot.
Sie war von der Taille an abwärts nass bis auf die
Haut. Selbst in ihren Stiefeln stand das Wasser, hatte
sich in den Schuhspitzen gesammelt und lief vorne
wieder heraus. Und der Fremde funkelte sie an wie
ein Wolf, der nur auf den Augenblick wartete, in
dem seine Beute in ihrer Aufmerksamkeit nachließ,
um sich auf sie zu stürzen.
Ravena ließ sich davon jedoch nicht beirren. Sie
zog sich den schweren Falknerhandschuh von der
Hand, legte ihn neben sich ins Gras und beugte sich
über ihn. Über dem linken Auge hatte er einen mit
Erde verschmierten Riss, der noch immer leicht
blutete.
»Halt still«, befahl sie streng. »Ich will mir deine
Wunde ansehen.«
Er versuchte den Kopf wegzudrehen, aber mit
zwei Fingern ihrer Linken packte sie sein Kinn und
zwang ihn, ihr ins Gesicht zu schauen.
Ravena war sich hinsichtlich seiner Augenfarbe so
sicher gewesen, dass sie jetzt, da sie ihn so nahe vor
sich hatte, überrascht zusammenzuckte.
25
Seine Augen waren nicht schwarz, wie sie gedacht
hatte, sondern dunkelbraun. Doch dann fiel ein
Sonnenstrahl auf sein Gesicht und sie erkannte, dass
diese Augen keinesfalls dunkel waren, sondern ihr
Braun so hell und warm leuchtete wie goldener
Honig. Obwohl sie wusste, dass sie diese Enthüllung
lediglich einem Lichtspiel verdankte, kam er ihr vor
wie ein Hexenmeister, der einfache Erde in kostbare
Edelsteine verwandeln konnte.
Ungeduldig befreite er sich aus ihrem Griff.
»Verschwinde, Weib.«
»Oh, nein. Die Wunde ist voller Schmutz. Sie muss
gesäubert werden, damit sie besser heilt. Und deine
Hände bluten ebenfalls.«
»Ich sage dir, lass mich in Ruhe.«
»Nicht bevor deine Wunden versorgt sind.«
Schneller als sie es ihm zugetraut hatte rollte er
sich herum, stützte sich auf Hände und Knie, dann
auf Zehen und Ballen. Bevor er sich jedoch aufrichten konnte, gab Ravena ihm einen kräftigen Stoß
und er landete erneut im Gras.
Wie eine Natter fuhr er herum und sprang auf.
Seine Augen waren fast schwarz vor Wut und
Ravena hatte das Gefühl, von zwei Dolchen aufgespießt zu werden.
»Mach das nicht noch einmal, Weib«, sagte er mit
gefährlich ruhiger Stimme. »Ich bin keiner von den
zahmen Rittern, die sich nach Belieben an die
Kandare nehmen lassen. Diesen Irrglauben haben
schon ganz andere Leute teuer bezahlt.« Verächtlich
spuckte er auf den Boden. »Hochmut ist eine
tadelnswerte Eigenschaft, Madonna, aber du neigst
26
offensichtlich noch obendrein dazu, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen.
Du hast meine Pläne empfindlich gestört. Dafür
schuldest du mir einen angemessenen Ausgleich.«
Ravena blieb der Mund offen stehen. Das war die
gemeinste Rede, die sie je gehört hatte! Schockiert
starrte sie ihn an. Sie hatte seine Pläne gestört? Das
konnte er doch nicht ernst meinen? Sie hatte ihn
davor bewahrt, im See zu ertrinken, daran gab es
keinen Zweifel. Vielleicht war er sich der Gefahr
nicht bewusst gewesen, der See verbarg seine
Geheimnisse unter einer trügerisch ruhigen Oberfläche – aber für gewöhnlich ging man nicht voll
bekleidet ins Wasser, um zu baden oder zu
schwimmen. Nein, hinter all dem steckte mehr, als er
zugeben wollte. Ravena konnte sich des Verdachtes
nicht erwehren, dass er versucht hatte, seinem Leben
ein Ende zu setzen und sie gerade noch rechtzeitig
gekommen war, um das zu verhindern. Sie
schauderte. Sobald sie ins Haus ihrer Freundin
zurückgekehrt war, würde sie die Stadtkirche aufsuchen und um Gottes Beistand für seine Seele
bitten. Immerhin war der Mann im Begriff gewesen
eine schwere Sünde zu begehen …
»Ich schulde dir nichts«, sagte sie kopfschüttelnd,
»eher umgekehrt, würde ich sagen ...«
»So, würdest du das?«
Ravena bemühte sich, kühl und gelassen weiterzusprechen. »Du bist fremd hier. Sicher weißt du nicht,
dass es in dem See gefährliche Strudel gibt und du
nahe daran warst, in die Tiefe gezogen zu werden.
27
Ich an deiner Stelle würde Gott auf Knien für meine
Rettung danken …«
Der Blick aus seinen Augen ließ sie bis ins Mark
erschaudern. »Du solltest besser den Mund halten,
wenn es um Dinge geht, von denen du nichts verstehst, Frau. Durch deine Einmischung hast du mich
zur schlimmsten aller möglichen Strafen verdammt.
Und dafür wirst du bezahlen.«
Ehe Ravena überhaupt bemerkt hatte, dass er sich
bewegte, hatte er sie schon bei den Armen gepackt
und an sich gezogen. Seine Augen funkelten wütend.
Dann küsste er sie mitten auf den Mund, langsam
und genüsslich, forderte sie geradezu heraus sich zu
wehren.
Verblüfft spürte Ravena, dass eine Vielzahl verschiedener Empfindungen sie überschwemmte. Sie
sog seinen Geruch ein, einen prickelnden männlichen Duft, der untrennbar mit dem Aroma eines
sommerlichen Regenschauers verbunden zu sein
schien, und fühlte seinen harten Griff, den Druck
seines Oberkörpers gegen ihre Brüste und die heiße,
lockende Berührung seiner Lippen. Das Schlimmste
war jedoch, dass es ihr auf einmal so vorkam, als
würden sie sich nackt in den Armen liegen, so als ob
sich Leder, Seide und Leinen bei seiner Berührung in
Luft aufgelöst hätten. Eine sengende Hitze breitete
sich in ihr aus, bis sie meinte, ihr ganzer Körper
würde in Flammen stehen. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und sie öffnete unwillkürlich
leicht die Lippen. Nicht gewillt, diesen Betrug ihres
eigenen Körpers zu dulden, zwang sich Ravena mit
aller Kraft, das lodernde Verlangen zu unterdrücken
28
und sich in seinen Armen stocksteif zu machen.
Genauso gut hätte er nun eine Statue aus Eis in den
Armen halten können. Ihre Kälte schien seine Glut
zu löschen, denn er gab sie plötzlich frei, trat einen
Schritt zurück und sah sie mit seinen dunklen Augen
einen Moment durchdringend an. In seinem Gesicht
zeigte sich ein seltsamer Schmerz, der gemischt war
mit Sehnsucht. Dann bedachte er sie mit einem derart verächtlichen Lächeln, dass sie dem Drang, ihm
in sein Gesicht zu schlagen, kaum widerstehen
konnte. Dass es sich dabei um eine typisch weibliche
Trotzreaktion handelte, steigerte ihre Wut nur noch.
Ihn wieder in den See zu stoßen wäre eine weit
effektivere Maßnahme, dachte sie böse.
Offenbar stand ihr dieser Wunsch und die überschäumende Wut im Gesicht geschrieben, denn sein
hässliches Lächeln wurde noch eine Spur breiter.
Dann beachtete er sie nicht mehr, sondern pfiff nach
seinem Rappen, der bereitwillig angetrabt kam.
Ravena nahm sich mit aller Kraft zusammen. So
demütigend es auch sein mochte, letztendlich war es
doch nicht mehr als ein Kuss gewesen. Trotzdem
hatte noch nie zuvor ein Kuss sie je so aufgewühlt
wie dieser. Bei der Erinnerung daran erschauerte sie.
Plötzlich schienen ihre Lippen, ihre Brüste, jeder Teil
ihres Körpers, den er berührt hatte, Hitze auszustrahlen. Der Aufruhr in ihrem Inneren verstärkte
ihren Ärger noch, und ein neuerlicher Schauer überlief sie. Verachtung war alles, was ich dir gegeben
habe, dachte sie. Alles andere hast du dir gestohlen.
»Feigling«, zischte sie ihm hinterher, fühlte sich
aber trotzdem nicht besser.
29
Er hatte sie gehört und drehte sich um. Sein Blick
gab ihr zu verstehen, dass sie, sollte sie ihm noch
einmal begegnen, nicht nur mit einem Kuss davonkommen würde. Sie blickte hochmütig zurück und
verließ sich dabei ganz auf die eisige Kraft ihres
Willens. Der Mann zuckte fast gleichgültig die
Achseln, obwohl das Feuer in seinen Augen unvermindert heiß loderte. Dann drehte er sich mit einer
raschen Bewegung um, zog sich auf den Rücken
seines Pferdes und im nächsten Moment war er mit
den Schatten des umliegenden Waldes verschmolzen.
Ravena blickte ihm ungläubig nach, völlig verdutzt,
wie schnell er verschwunden war. Nicht ein einziges
gutes Wort hatte er für sie übrig gehabt. Nun, dann
war es eben so. Warum sollte sie sich wegen eines
undankbaren Fremden grämen?
Aber noch während sie nach dem Hund pfiff und
ihr Pferd bestieg, wurde ihr klar, dass sich die Erinnerung an seinem Kuss nicht so leicht aus ihrem
Gedächtnis vertreiben lassen würde.
30
Utinam scires ut semper tui memor sum
d
hr beide macht heute aber wirklich einen
schrecklichen Lärm«, sagte Madlaina, während
sie einen Faden um ein weiteres, sorgfältig
zurechtgestutztes Thymiansträußchen schlang und
verknotete. Ravena griff nach einem Korb und half
ihrer Kammerfrau, die fertig gebündelten, würzig
duftenden Sträußchen hineinzupacken.
Tarun, der Älteste von Ravenas Findelkindern saß
bei ihnen und zupfte Scharpie. Jetzt jedoch blickte er
von seiner Arbeit auf und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Warum beschwert sie sich, schien sein Blick zu
sagen. Wir haben doch gar nichts miteinander gesprochen.
Ravena lächelte flüchtig. »Genau das stört unsere
gute Madlaina ja so sehr. Wir beide sind ihr zu
schweigsam. Sie unterhält sich eben gerne bei der
Arbeit.«
Für dieses Ansinnen hatte Tarun nur ein Achselzucken übrig. Mit seinen Händen malte er eine kurze
Folge von Zeichen in die Luft, Worte ändern nichts,
bevor seine braunen Finger fortfuhren, mit schnellen
31
Bewegungen Scharpie zu zupften und zu akkuraten
kleinen Knäueln zusammenzurollen.
Wie schwarzer Siegellack schimmerte sein Haar im
schwachen Sonnenlicht. Sein fein geschnittenes Gesicht lag im Schatten, doch Ravena sah, wie er die
Lippen bewegte, während er sich nach einer lautlosen Melodie wiegte. Wenn es mir nur gelingen
würde, herauszufinden, warum er nicht spricht,
dachte sie mit einem Anflug von Wehmut. Ich weiß
doch, dass er es kann.
Als sie ihn vor beinahe einem Jahr verletzt in den
Bergen gefunden hatte, war er von hohem Fieber
geschüttelt worden. Drei Tage und drei Nächte hatte
sie erbittert gegen das Fieber gekämpft, hatte Stunde
um Stunde an seinem Lager gewacht, seinen Körper
mit Lavendelwasser abgerieben, während er in
seinem Delirium ständig unverständliche Dinge vor
sich hin gemurmelt hatte. Daher wusste sie, dass er
nicht stumm war. Aber so sehr sie ihn auch ermunterte und lockte – seit er genesen war, drang
nicht ein einziger Laut über seine Lippen.
Die beiden Frauen und der Junge saßen in der
Kräuterkammer der Burg Rocca d’Aquila, einem
hellen Turmzimmer, das von den Burgleuten ehrfürchtig nur die Apotheke der Baronin genannt
wurde, und bereiteten die Kräuterernte des Morgens
zum Trocknen vor.
Der Raum – trocken, gut belüftet und ausgestattet
mit Läden, die genau passten – enthielt ein hohes
Regal an der Wand, das fast überquoll vor Töpfen
und tönernen Amphoren, Keramiktiegeln und
32
Beutelchen mit Kräutern und orientalischen Heilmitteln, Pergamentröllchen.
Von dem betäubenden Duft wurde den meisten
Besuchern erst einmal schwindelig, deshalb brachte
Ravena außer Madlaina und Tarun auch selten
jemand mit hierher. Neben dem Regal stapelten sich
in einer geöffneten Truhe Bücher und Folianten,
Ravenas mühsam zusammengetragenes Arsenal des
Wissens. In der Ecke stand ein Lesepult, auf dem ein
dicker Foliant aufgeschlagen lag. Es gab außerdem
zwei Arbeitstische, Mörser und Stößel, Kohlepfannen und Trockengestelle. Der Zimmermann
von Rocca d´Aquila hatte weitere Gestelle angefertigt, die von der Decke hingen sowie einen
kleinen Schemel, damit sie sie erreichen konnte.
Kräuter und Blumen hingen in Büscheln herab.
Wenn Ravena nicht mit den Falken oder ihrer
ständig wachsenden Schar von Waisenkindern beschäftigt war, verbrachte sie sehr viel Zeit hier oben,
um Heiltränke und Salben herzustellen. Ravena
liebte ihre Kräuterkammer. Ein spezielles Regal in
der Ecke des Raumes war mit einem schweren Vorhang versehen, damit die empfindlichen Pflanzen
vor dem schwachen Sonnenlicht geschützt waren,
das durch die Fenster drang.
Sie ging zu dem Lesepult in der Ecke und trug die
neu gesammelten Kräuter in ihre Bestandsliste ein,
bevor sie sie mit Madlainas Hilfe zu den anderen an
die Gestelle hängte.
»Das sollte eine Weile reichen«, meinte sie zufrieden. »Morgen beginnen wir mit der Herstellung
der Salbe gegen raue Hände. Stell dir nur vor,
33
Madlaina, allein Jaccopo hat zehn Tiegel für den
Markt in Trento bestellt. Mit dem Erlös daraus
können wir endlich die Schafe ersetzen, die wir an
die Wölfe verloren haben. Isabeau braucht schon
lange neue Schuhe, die Köchin möchte eine neue
Pfanne und Pfeffer haben wir auch nicht mehr viel
in der Vorratskammer …«
Madlaina schüttelte den Kopf. »Sag mir eins,
Ravena. Wann hast du zum letzten Mal etwas
Hübsches für dich gekauft? Vor einem Jahrhundert?
Oder ist es gar noch länger her?«
»Ich habe alles, was ich mir wünsche.«
Grimmig wanderte Madlainas Blick über Ravenas
Gesicht. »Warum nehme ich dir das jetzt nicht ab,
meine Liebe?«
Ravena hielt in ihrer Arbeit inne. »Ja, warum
eigentlich nicht?«
»Seit du von diesem Besuch bei deiner Freundin
zurück bist, bedrückt dich etwas. Das kann ich
sehen. Du stehst stundenlang am Fenster und
träumst vor dich hin, wenn du denkst, dass keiner es
sieht. Schweigsam bist du geworden. Man möchte
fast glauben, dass du mit dem Jungen darum wetteiferst, wer am längsten ohne Worte auskommt. Sag
mir also nicht, dass du glücklich bist.«
Tarun hob erneut den Blick und sah erst Madlaina
und dann seine Pflegemutter an. Ravena lächelte ihm
zu. Darauf legte er die Hand an sein Herz und neigte
nur ernst den Kopf.
»Siehst du«, sagte Madlaina, »selbst der Junge teilt
meine Meinung.«
34
Mit zitternden Beinen stieg Ravena von ihrem
Schemel und ließ sich darauf sinken. Nach fünf
Tagen Einerlei auf der Burg erschien ihr der Morgen
am See inzwischen seltsam unwirklich. Nur, dass sie
vor diesem Tag ein Leben geführt hatte, in dem ihr
nicht zwei goldbraune Augen den Schlaf raubten
oder der Gedanke an einen Kuss Schauder über
ihren Rücken jagen ließ.
Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen,
aber Madlaina kannte sie einfach zu gut. Verlegen
biss Ravena sich auf die Lippen. »Ich fürchte, ich
habe mich ziemlich dumm benommen, Madda. Aber
ich habe noch nie einen Mann getroffen, der Rafael
so ähnlich sah, wie dieser Fremde, dem ich in
Segeste begegnet bin. Ich war so sicher er wäre es,
deshalb habe ich … ach verwünscht!«
»Ich glaube, du erzählst mir besser die ganze
Geschichte.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erwiderte
Ravena und berichtete in knappen Worten, was sich
am See zugetragen hatte.
Unwillig schüttelte Madlaina den Kopf. »Vierzehn
Jahre, Ravena! Wie kannst du da noch Hoffnung
haben, deinen Bruder zu finden? Selbst wenn er
noch lebt - du könntest auf der Straße an ihm
vorbeigehen, ohne ihn zu erkennen.«
»Oh, bitte Madlaina, sag so etwas nicht! Ich würde
es doch fühlen, wenn Rafael nicht mehr am Leben
wäre, ich …«
Vor Aufregung verschluckte sie sich, hustete,
krächzte: »Bitte sag es nicht, bitte …«, und spürte
35
Taruns Finger, die sich tröstend über ihre Hand
legten.
Madlaina sah sie von der Seite an. »Trotzdem – in
diesen See zu reiten war dumm und gefährlich. Was
soll den aus den Kindern werden, wenn dir etwas
zustößt?«
»Mir ist aber nichts zugestoßen«, erwiderte Ravena
unwirsch. »Ich konnte die Ähnlichkeit dieses Mannes
mit Lucca unmöglich ignorieren. Mein ganzes restliches Leben lang hätte ich mir Vorwürfe gemacht,
wenn ich es nicht versucht hätte … ich …«
»Ähnlichkeit mit Lucca?«, unterbrach Madlaina
entrüstet. »Mit diesem Bastard, der sich nicht gescheut hat, seine eigenen Kinder in die Sklaverei zu
verkaufen?«
Ravena kämpfte tapfer gegen den dicken Kloß, der
plötzlich in ihrem Hals saß. »Lass es gut sein, Madda.
Bitte. Rafaels äußerliche Ähnlichkeit mit seinem
Erzeuger ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe.
Verstehst du? Und dieser Mann sah Lucca so unglaublich ähnlich, dass ich wirklich dachte, er …«
Ihre Stimme wurde immer leiser und selbst für ihre
Ohren zitterte sie ganz eigenartig. »Als ich dann
seine Augen sah … sie waren braun und nicht silbergrau … da wusste ich, dass wieder einmal alles umsonst gewesen war. Aber die Enttäuschung schmerzt
jedes Mal mehr …«
»Du solltest daran denken, dich wieder zu verheiraten.« Madlaina wischte sich die Hände an ihrer
Schürze ab und sah ihre Freundin eindringlich an.
»Du brauchst einen Mann, der dein Bett warmhält.
36
Dann würdest du nicht so oft an deinen Bruder
denken. Das kommt nur daher, weil du einsam bist.«
»Das bin ich nicht!«, platzte Ravena heraus und
hieb mit der Faust auf die Arbeitsplatte. Wie konnte
Madlaina nur immer von einer neuen Heirat reden,
wo sie doch genau wusste, dass es weit und breit
keinen Mann gab, der ihr die gleichen Freiheiten
einräumen würde, wie der verstorbene Baron Bruno?
Da glitt Tarun von seinem Sitz, kniete vor ihrem
Schemel nieder, nahm ihre Hand und drückte einen
Kuss darauf. In seinen Augen standen Tränen.
»Wie kann ich einsam sein, wenn ich einen Jungen
wie Tarun habe?«, flüsterte Ravena erstickt. »Ich
muss aufhören mit diesen Fantastereien. Aber ich
hatte nach meiner Flucht aus dem Kloster ein gutes
Leben. Messer Antonio hat mich aufgenommen und
behandelt wie eine eigene Tochter. Der Haushalt
eines Gewürzhändlers war der beste Ort, den ich mir
wünschen konnte, um dort aufzuwachsen. Stell dir
nur vor, ohne Messer Antonio hätte ich einen
Medico wie Meister Arel nie kennengelernt …« Sie
hielt inne. »Im Kloster hat Rafael mich beschützt. Er
hat oftmals die doppelte Bestrafung ertragen, damit
Lucca mich in Ruhe lässt, hat mich getröstet, wenn
ich vor Furcht nicht schlafen konnte, sein Brot mit
mir geteilt, obwohl es dann für ihn selber kaum
genug war. Fast schäme ich mich, soviel Glück gehabt zu haben. Weißt du Madda, die Trennung wäre
so viel leichter zu ertragen, wenn ich nur sicher sein
könnte, dass sich jemand seiner angenommen hat, so
wie es Messer Antonio und Bruno bei mir getan
haben.«
37
Versonnen starrte sie vor sich hin und strich über
Taruns schwarzen Schopf. »Ich vermiss ihn wirklich
sehr«, sagte sie dann und seufzte. »Aber mit jedem
Monat, der vergeht, schwindet die Wahrscheinlichkeit dahin, dass ich etwas über ihn herausfinde. Das
weiß ich. Trotzdem kann ich nicht aufhören zu
hoffen.« Sie ergriff Taruns Hände und half ihm beim
Aufstehen. »Wo bleibt eigentlich Dinêl?«, fragte sie
plötzlich.
Im gleichen Moment schlugen die Jagdhunde in
ihrem Zwinger an. Leute liefen über den Hof, das
Tor wurde aufgezogen. Ravena eilte zu der Fensteröffnung und stieß den Laden auf.
»Madda – Tarun, schaut, Dinêl kommt zurück!
Jeden Moment muss er in den Hof reiten. Lasst uns
hinuntergehen und hören, welche Nachrichten er
mitbringt!«
Madlaina ließ ihr Kräuterbündel sinken, klopfte
sich ein paar Blätter aus der Schürze und eilte hinter
Tarun und der Burgherrin die ausgetretenen Holzstufen in den Hof hinunter.
Vor dem Tor erklang Hufgetrappel. Falknergehilfe
Dinêl war endlich zurück. Er lenkte sein stämmiges
Gebirgspony bis in die Mitte des Hofes und stieg
steifbeinig aus dem Sattel.
Ravena war auf der Treppe stehen geblieben mit
Tarun zu ihrer Rechten und Madda auf ihrer linken
Seite. Dinêl kam auf sie zu und verneigte sich vor
seiner Herrin. »Sei gegrüßt, Herrin! Ich bringe
schlechte Nachrichten von der Straße nach Trento.
Das Donnergrollen, das wir vernommen haben, war
eine Mure, welche die Hauptstraße unpassierbar
38
gemacht hat. Die Verwüstungen sind schlimm. Es
kann Wochen dauern, bis alles wieder frei ist.«
»Bist du sicher?«, unterbrach ihn Ravena. In ihrem
Bauch begann es zu kribbeln. Eine versperrte
Hauptstraße hieß, dass viele Reisende den Weg
durch ihr Tal nehmen würden. Reisende unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung, die auf der Burg
verköstigt und beherbergt werden mussten und
denen während ihres Aufenthaltes Dinge zu Ohren
kommen konnten, die sich besser nicht herumsprachen. Jeder Ritter ohne Land, jeder habgierige
Baron, der erfuhr, dass eine unverheiratete Frau über
Grundbesitz verfügte, würde sie sofort belagern und
versuchen ihre Burg einzunehmen, und sie selbst zur
Ehe zu zwingen. Was wiederum viele Menschen das
Leben kosten und dem Land einen enormen
Schaden zufügen würde.
Ravena stieß einen Seufzer aus, bevor sie sich zusammenriss und Dinêl in die Küche schickte, um
sich bei Jelscha der Köchin, seine wohlverdiente
Mahlzeit abzuholen. Zwar war Rocca d´Aquila aufgrund seiner Lage auf einem leicht nach Süden abfallenden Plateau hoch über der Straße schwer einzunehmen. Wer die Burg angriff, musste ständig
nach oben kämpfen. Ihr Nachteil war jedoch die
geringe Größe der Burganlage; sie konnte nicht
genug Bewaffnete beherbergen, um einer ernsthaften
Belagerung dauerhaft standzuhalten.
Tarun warf seiner Pflegemutter einen besorgten
Blick zu. Was sollen wir tun?, fragten seine Hände.
»Niemand darf erfahren, dass Rocca d´Aquila ohne
männlichen Schutz ist«, sagte Madlaina unvermittelt.
39
»Das würde sämtliche Glücksritter und Taugenichtse
der Gegend auf den Plan rufen. Mag auch die
Jahreszeit für eine Belagerung nicht die Richtige sein
–wir könnten doch niemand davon abhalten, im
Frühjahr mit einem Heer wiederzukommen.
Vielleicht solltest du Ruppert fragen, ob er noch
einmal bereit wäre den Burgherrn zu mimen – zumindest wenn wir Gäste haben.«
»Ich … ich weiß nicht recht«, sagte Ravena. »Beim
letzten Mal habe ich schon Blut und Wasser geschwitzt, dass der Schwindel nicht auffliegt. Ich
glaube, so eine Angst möchte ich nicht noch einmal
aushalten müssen.«
Madlaina sah sie nachdenklich an, bevor sie sich
wegdrehte. Ravena spürte, wie sie nach Worten
suchte.
Doch Ravenna kam ihr zuvor. »Wie auch immer
ich es drehe und wende – es läuft darauf hinaus, dass
ich wieder heiraten muss, um uns alle zu schützen.
Das ist es doch, was du denkst, nicht wahr?«
»Ravena – du entscheidest.«
Ganz still stand Ravena da, starrte weiter auf ihre
verschränkten Finger. Krieg. Belagerung, Feuer,
schreiende Menschen, weinende Kinder, einsamer
Tod auf den Mauern einer eroberten Burg. Ein neuer
Ehemann oder Krieg. »Ich werde an Meister Arel
schreiben und ihn fragen, ob er bereit ist, für eine
Weile die Stellung eines Barons einzunehmen.«
»Wie du meinst. Er sollte sich aber schnell entscheiden. Bevor die ersten Reisenden hier auftauchen.«
40
Madlainas Stimme klang hart. »Wenn erst einmal
Gerüchte über unseren Mangel an männlichem
Schutz im Umlauf sind, kann auch dein Meister Arel
nichts mehr ausrichten.«
»Da hast du wohl recht. Ich werde den Brief gleich
schreiben. Tarun, sei so nett und sieh nach Alessa
und Desi. Ihre Schreibstunde fällt heute aus.« Damit
machte Ravena auf dem Absatz kehrt und eilte in
den Turm zurück.
q
Im Lager roch es nach Rauch und gebratenem
Speck, doch die verlockenden Düfte weckten kein
Hungergefühl in Nael, der langsam vom Feuer zu
den Pferden schlenderte, dankbar, dass Rafaels
Freund und Diener Peire nicht auf ihn achtete,
sondern seine ganze Aufmerksamkeit der Zubereitung ihres Abendessens widmete.
Sie waren allein im Lager. Rafael und Roana waren
vor einer Weile gemeinsam zwischen den Fichten
verschwunden und Nael war sich sicher, dass sie
nicht so bald wieder auftauchen würden.
Obwohl es ihm gelungen war, den Neid, der beständig mit scharfen Zähnen an ihm nagte, erfolgreich zu verbergen, war es doch eine Erleichterung,
einmal nicht den misstrauischen Blicken seines
Bruders ausgesetzt zu sein. Doppelt misstrauisch,
seit er nach dem unglückseligen Zwischenfall am See
nass bis auf die Haut nach Segeste zurückgekehrt
und noch im Hof seinem Bruder in die Arme ge41
laufen war. Und Rafaels Argwohn schien auch auf
Roana überzugreifen. Sie sah ihn oft an, als rechne
sie jeden Moment damit, er könne aus dem Mund
schäumend und mit zuckenden Gliedern dem Wahnsinn verfallen. Sie vermied es sorgfältig, mit ihm
allein zu sein. Als ob er es wagen würde, sich ihr in
unlautererer Absicht zu nähern!
Nie könnte er …
Nael schüttelte den Kopf. Was war er doch für ein
armseliger Lügner. Gerade einmal vier Wochen war
es her, dass er Roana mit einem Kuss völlig überrumpelt hatte, kaum dass Rafael einmal nicht in
Reichweite gewesen war. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber das war wohl mehr ihrer Überraschung
zuzuschreiben, als dem tatsächlichen Wunsch ihn zu
küssen.
Halt suchend lehnte er sich an sein Pferd. In
seinem Kopf begann es zu rauschen. Er hatte es
doch gewusst, die ganze Zeit hatte er es gewusst.
Roana war nicht für ihn bestimmt. Ihre Wege
mussten sich trennen. Der Himmel helfe ihm, beinahe verfluchte er den Tag, an dem er beschlossen
hatte, sie bei der Suche nach ihrem verschwundenen
Oheim zu unterstützen. Von Sizilien aus war er ihr
bis zu diesem unglückseligen Ort irgendwo in den
Alpen gefolgt, ohne etwas zu erreichen. Im Gegenteil. Roana hatte unmissverständlich zum Ausdruck
gebracht, für wen ihr Herz schlug, indem sie sich mit
Rafael vermählt hatte. Anstand und Ehre geboten,
dass er seine Niederlage akzeptierte und ruhig seiner
Wege ging.
42
Nael stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Wohin
sollte einer wie er schon gehen? Er war ein Geächteter. Ein ruheloser Flüchtling, für den es keinen
Platz gab, keinen Ort, an dem er sich niederlassen
konnte. Und seltsamerweise gefiel ihm auch der
Gedanke nicht, sich von seinem Bruder trennen zu
müssen. Irgendwie hatte er sich an Rafaels Gegenwart gewöhnt. Auch wenn er die meiste Zeit das
dringende Bedürfnis verspürte ihm den Hals umzudrehen.
Nael griff in seine Satteltasche und förderte einen
Weinschlauch zutage, der, wie er am Gewicht feststellte, noch fast voll war, und verließ damit das
Lager. Unter den hohen Bäumen herrschte Halbdunkel. Es war so still, dass Nael für das knirschende
Geräusch seiner eigenen Schritte dankbar war. Nur
das Rauschen eines wilden Gebirgsbaches von
irgendwo links drang zu ihm.
Eine Weile wanderte er einfach umher und hoffte,
dass sich die magische Wirkung einstellen würde, die
der Wald für gewöhnlich auf ihn ausübte. Aber er
war zu sehr in seiner rastlosen Unzufriedenheit gefangen, um sich dem ruhigen Rhythmus der Natur
hinzugeben. Eine Viertelmeile vom Lager entfernt
ließ er sich unter einer Fichte nieder. Er lehnte sich
gegen ihren Stamm, trank einen Schluck aus dem
Schlauch und hustete. Der Herr von Segeste mochte
ja ein reicher Mann sein, aber sein Wein war dünn
und sauer wie Essig. Trotzdem nahm er noch einen
Schluck und blickte hoch in die Baumkronen, die
kaum Licht bis auf den Boden durchließen. Nael
43
rutschte unruhig hin und her. Er war von einem
Frieden umgeben, den er nicht zu teilen vermochte.
Es gab Zeiten, da konnte er sich, wenn ihn Sorgen
oder Probleme plagten, vollkommen der leisen
Musik im Wind raschelnder Zweige hingeben und
mit dem Wald eins werden. Heute blieb ihm diese
Fluchtmöglichkeit verwehrt. Trotzdem empfand er
die Umgebung als beruhigend. Er holte tief Atem,
nahm den würzigen Duft der Erde, der Farnblätter
und der wild wachsenden Blumen in sich auf, deren
süßes Aroma sich mit der kühlen, reinigenden Luft
mischte, die von den Schneebergen herüberwehte.
Erinnerungen wie diese hatten ihn verfolgt, als er
sich in quälender Einsamkeit auf der Ruderbank
einer Triere abgemüht hatte; ein Verfolgter unter
ehrbaren Bürgern, die sich freiwillig dazu verdingt
hatten, für die Serenissima zu rudern, während es für
ihn die letzte Fluchtmöglichkeit vor den Folgen
seines schrecklichen Fehlers gewesen war.
Als erfolgreicher Absolvent der Universität von
Salerno hatte er sich am Ziel seiner Wünsche geglaubt. Sein Können und seine Erfolge als Arzt
brachten ihm sowohl Ruhm, als auch Münzen ein.
Frauen, Wein, kostbare Gewänder – nun konnte er
sich endlich leisten, wonach auch immer ihm der
Sinn stand. Die Welt gehörte ihm. Er lebte wie im
Rausch, hatte bald das Gefühl, unbesiegbar zu sein.
Er genoss es, sich mit seinen Freunden dem
Müßiggang hinzugeben und besonders der erfahrene
Lucca war äußerst geschickt darin, sie mit immer
neuen Abenteuern zu unterhalten. Der exotische
Reiz verbotener Früchte schlug ihn in seinen Bann.
44
Unter Luccas Anleitung erforschte er jedes nur
denkbare Laster, verbrachte seine Nächte mit den
verführerischen Schönheiten aus Luccas geheimem
Harem, die ihn immer neue Spielarten der Liebe
lehrten. Er hatte keinerlei moralische Bedenken sich
mit diesen Frauen einzulassen, ja er fragte nicht einmal danach, wo die immer neuen Mädchen herkamen. Doch mit jeder verstreichenden Stunde
spürte er, wie die Bedeutungslosigkeit und Leere
seines Lebens ihn innerlich mehr und mehr aushöhlte. Zuerst verloren der Wein und die Nächte
voller Leidenschaft ihren Reiz und wurden zu bedeutungslosen, sich ständig wiederholenden Ritualen.
Und als die Leere ihn mit der Zeit fast völlig aufgefressen hatte, begann er die Haschischpfeifen zu
lieben, die ihm für eine Zeit lang Vergessen
schenkten. In seinen klaren Momenten wusste er,
dass er irgendwann für alles würde bezahlen müssen,
aber es wollte ihm nicht gelingen, auch nur einer der
angebotenen Verlockungen zu widerstehen. Er lernte
seine Abhängigkeit gleichermaßen zu fürchten und
zu genießen und das war der Moment, in dem Lucca
anfing, kleine Gefälligkeiten von ihm zu fordern.
Eine Salbe hier, ein Medikament da, die Behandlung
eines „Freundes“, nach dessen Namen er besser
nicht fragte, und dergleichen Dinge mehr. Nach und
nach jedoch wurden die Gefälligkeiten immer größer
und Nael ging zum ersten Mal auf, in welchen
Teufelskreis er geraten war. Aber da hatte Lucca
schon die Frau in sein Haus gebracht. Nael war von
dem Gast nicht begeistert, aber Lucca erzählte ihm
eine rührselige Geschichte von einem rachsüchtigen
45
Oheim, der gedroht hatte, die Frau zu töten, weil sie
ohne Ehemann schwanger geworden war. Die einzige Möglichkeit zur Rettung sei die Tötung des
Kindes.
Nael weigerte sich zuerst, aber Lucca wusste
genau, wo seine Achillesferse lag und nutzte sein
Wissen aus, indem er seine Kompetenz als Arzt
infrage stellte. Diese Behauptung konnte Nael unmöglich auf sich sitzen lassen. Er erklärte sich bereit,
den Eingriff durchzuführen, obwohl er nur eine vage
Vorstellung davon hatte, was zu tun war. Sein
Studium hatte ihn nicht auf die Behandlung von
schwangeren Frauen vorbereitet. Schon gar nicht auf
irgendwelche Komplikationen.
Und natürlich hatte es Komplikationen gegeben.
Die Frau war ihm unter den Händen verblutet, ohne
dass ihm auch nur die geringste Möglichkeit geblieben war, etwas dagegen zu unternehmen.
Die Lektion des Scheiterns.
Aber es war noch schlimmer gekommen. Nur
einen Tag später erfuhr er, dass Lucca ihm nicht die
Wahrheit gesagt hatte. Die Frau war sehr wohl verheiratet gewesen, mit einem reichen und einflussreichen Edelmann, der keinerlei Entschuldigungen
gelten lassen würde, was die Entführung und den
Tod seiner Gemahlin betraf. Lucca bot an, die Sache
zu regeln, aber Nael war klar geworden, in welcher
Lage er sich befand und dass er unverzüglich fliehen
musste. Mit der Hilfe seines Stiefvaters gelang es
ihm, als Ruderer auf einer venezianischen Triere
unterzukommen, und so seinem Verfolger zu entgehen.
46
Damit hatte er zwar sein Leben gerettet - aber
gleichzeitig alles verloren, was ihm lieb und teuer
gewesen war. Um seine Familie nicht zu gefährden,
durfte er weder den Namen seiner Mutter, noch den
seines geliebten Stiefvaters benutzen. Er wurde zu
Nael, dem Mann ohne Herkunft. Und diese Wunde
schmerzte, mehr als er es jemals für möglich gehalten hatte.
In der Hoffnung, die unliebsamen Erinnerungen
verscheuchen zu können, nahm Nael noch einen
tiefen Schluck Wein. Mit geschlossenen Augen
lehnte er sich an den Baumstamm, als er plötzlich
hörte, dass sich Schritte näherten. Der langsame
Gang verriet ihm, dass es sich nicht um einen Notfall
handeln konnte, und selbst wenn er den leisen Tritt
nicht sofort erkannt hätte – nur einer würde von sich
aus kommen, um nach ihm zu sehen, obwohl er
offensichtlich allein sein wollte.
Sein Halbbruder Rafael war nicht nur der Einzige,
der sich das Recht herausnahm, ihn zu stören,
sondern er war auch derjenige, der sich immer
wieder um einen Ausgleich zwischen ihnen bemühte.
Wenn es ihm angebracht erschien, würde Rafael
stundenlang bei ihm sitzen, ohne dass ein Wort
zwischen ihnen gewechselt wurde. In den vergangenen Tagen war Nael ihm bewusst aus dem Weg
gegangen. Deshalb würde, so vermutete er, Rafael
ihm heute Abend einiges zu sagen haben.
Er öffnete die Augen und sah den Mann, der sich
ihm gegenüber niederließ, vorwurfsvoll an, dann
griff er nach dem Weinschlauch, nahm noch einen
Schluck, und gab den Schlauch an Rafael weiter.
47
Rafael roch nur einmal an dem Wein, verzog das
Gesicht und legte den Schlauch beiseite.
»Seit wann begnügst du dich mit solchem Essig?
Versuchst du dich, neben deiner Trinkerei jetzt
obendrein noch selbst zu bestrafen?«
Nael grinste. »Würde dir das nicht gefallen?«
»Mir würde gefallen, wenn du dich soweit zurückhalten könntest, dass du wenigstens halbwegs vernünftig bleibst.«
»Nur halbwegs?«
»Schütte noch mehr von diesem Zeug in dich
hinein, und du weißt spätestens um Mitternacht
nicht mehr, was du tust. Ich bin es leid, mich ständig
fragen zu müssen, wohin du verschwindest.«
»Dann tu´s einfach nicht. Es geht dich ohnehin
nichts an.«
»Da irrst du dich, mein lieber Bruder. Es geht mich
durchaus etwas an. Vor allem, da deine Ausflüge
keineswegs so harmlos sind, wie du mich glauben
machen willst. Dieses Mal will ich vorsorgen.«
»Du weißt also schon im Voraus, was ich tun
werde? Interessant. Bist du neuerdings unter die
Wahrsager gegangen?«
»Dazu muss man kein Wahrsager sein, Nael. Trink
nur genug von diesem Gift, dann bist du nicht mehr
zu halten. Weiß der Himmel, was für einen Unfug du
dir dann in den Kopf setzt.«
»Du übertreibst.«
»So? Dann verrate mir doch, wohin du in Segeste
verschwunden bist. Du kommst zurück, nass bis auf
die Haut und mit einem Ausdruck im Gesicht, als
48
hättest du eine Erscheinung gehabt. Würdest du mir
freundlicherweise dafür eine Erklärung liefern?«
Nael spürte plötzlich ein Prickeln auf der Haut.
»Machst du dir wegen meiner nassen Kleider oder
wegen meines Gesichtsausdruckes Sorgen?«
»Wegen beidem, schätze ich«, sagte Rafael.
Nael zuckte mit gespielter Gleichgültigkeit die
Achseln, doch seine Augen wichen dem nachdenklichen Blick seines Bruders aus. »Es hat an dem
Morgen geregnet.«
»Herrgott noch mal, Nael. Wenn du – wenn du
schon glaubst, mich anlügen zu müssen – dann überlege dir wenigstens vorher, was du sagen willst. Ich
weiß nicht, was du tatsächlich getan hast - Himmel,
ich will es auch gar nicht wissen – aber es treibt mich
zur Weißglut, dass du glaubst, mich mit derart offensichtlichen Lügen abspeisen zu können – und behaupte nicht, es wären keine!«
Nael starrte seinen Bruder an, erschrocken über
diesen Ausbruch und die Wut in seiner Stimme.
Und dann nahm Rafael sein Handgelenk und umschloss es mit allen Fingern.
»Sag mir eines Nael –sag mir ins Gesicht, dass du
dich nicht selbst in Gefahr gebracht hast.«
Ungläubig starrte Nael seinen Bruder an und entriss ihm seine Hand. »Was redest du da, Rafael?
Verschwinde, lass mich in Ruhe!«
Rafael packte seine Arme und hielt sie fest. »Hör
mich an! Du lebst jetzt, und du hast nur dieses eine
Leben - es liegt in deiner Hand, was du damit anfängst. Wirf es nicht leichtfertig weg, für einen
Traum, der niemals wahr werden kann! Sei ein ein49
ziges Mal ehrlich zu dir selbst – dann wirst du erkennen, dass es gar nicht Roana ist, nach der du dich
sehnst, sondern jemand ganz anderes …«
Jemand ganz anderes … Nael war es, als würde
sich das Blut in seinen Adern auf einmal in flüssiges
Feuer verwandeln. Mit einem Seufzer entzog er
Rafael seine Arme, lehnte sich zurück und schloss
wieder die Augen. Ungebeten drängte sich das Bild
der Frau vom See in seine Gedanken.
Er wusste, dass ihre mit Wut vermischte Verachtung ihn ebenso angezogen hatte wie ihre Schönheit. Einen Moment lang schien sie ihm alles zu sein
was er je verloren, alles, was man ihm genommen
hatte. Er hatte sich all das zurückholen wollen, hatte
das unstillbare Verlangen verspürt, die kühle Abwehr, die in ihren Augen stand, zu brechen und sie
zu berühren, ihre Seele durch ihren Körper zu erobern. Er erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl
ihres hart gegen den seinen gepressten Körpers,
spürte erneut die seidige Beschaffenheit ihrer
Lippen, die sich unter dem Druck seines Mundes
öffneten. Es war zwar nur der Anflug einer Reaktion
gewesen, aber er hätte schwören können, dass sein
Kuss sie nicht kalt gelassen hatte.
Aber was für eine Rolle spielte das schon? Er
musste aufhören mit diesen Tagträumen. Er konnte
einer Frau kein ehrbares Leben bieten, keinen guten
Namen für die Kinder, die Gott ihr vielleicht
schenken würde. Er war ein Flüchtling, dem man
alles genommen hatte, den Namen, die Ehre, der
nichts mehr hatte außer dem nackten Leben. Und
das war nicht viel wert.
50
Rafael bewegte sich und Nael schlug die Augen
auf.
Nur zu gern hätte er den Wein wiedergehabt, aber
der Teufel sollte ihn holen, wenn er danach griff,
solange sein Bruder ihn beobachtete. Stattdessen
lächelte er verzerrt.
Er erinnerte sich mit quälender Deutlichkeit an
den Tag, an dem er als Flüchtling ins Haus seine
Eltern geschlichen war. Sein Stiefvater hatte ihn
immer gerecht behandelt. Nie hatte er seine eigenen
Söhne vorgezogen, nie ihnen etwas gewährt, was er
nicht auch seinem Stiefsohn gewährt hätte. Aber bei
der Geschichte, die Nael ihm beichtete, musste er
sich schwer zurückhalten, um seinem Schmerz und
seiner Wut nicht freien Lauf zu lassen, obwohl er
kein einziges Wort des Vorwurfs äußerte. Aber Nael
verstand auch so. Dieses Mal würde er noch Hilfe
erhalten – danach war er auf sich allein gestellt. Für
seine Familie würde er aufhören zu existieren.
»Peire wird das Essen fertig haben. Gehen wir«,
sagte Rafael und holte ihn mit seinen Worten in die
Gegenwart zurück.
Nael verspürte immer noch keinen Appetit, wusste
aber, dass er etwas essen musste. Widerwillig stand
er auf und folgte Rafael durch den Wald zu der
Lichtung.
Aber noch bevor sie am Feuer ankamen, wurde
klar, dass etwas nicht stimmte. Peire saß mit
schmerzverzerrtem Gesicht an eine Fichte gelehnt
da, während Roana sich über seine Füße
beugte.Rafael eilte an die Seite seines Freundes.
»Kaum lässt man dich einen Moment aus den
51
Augen, machst du Unfug«, sagte er. »Was ist geschehen?«
»Mein Fuß … bin in ein verdammtes Loch getreten.«
Vorsichtig entfernte Rafael Peires Schuh und Beinling. Der Sänger stöhnte durch zusammengebissene
Zähne.
»Nael, komm her«, sagte Rafael in einem Ton, der
keinen Widerspruch zuließ. Nael schloss die Augen,
ballte die Hand zur Faust und zwang sich, an nichts
zu denken. Die unliebsamen Erinnerungen verschwanden aus seinem Kopf, und als er die Augen
wieder öffnete, fühlte er sich einigermaßen wieder
wie Nael, der Medicus. Er hockte sich neben Peire
auf den Boden und begann mit der Untersuchung.
Obwohl er behutsam vorging, funkelte Peire ihn
böse an und stieß eine Reihe von Flüchen aus.
»Ich muss das Gelenk einrichten«, erklärte er
schließlich. »Ich fürchte, das wird ziemlich schmerzhaft werden.«
Peire antwortete nicht, aber sein Blick schien eine
sehr beredte Sprache zu sprechen, den Nael seufzte
tief, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das
Haar und machte eine müde Geste auf das Lagerfeuer. »Schaffen wir ihn erst einmal hinüber. Sonst
verkühlt er sich noch zusätzlich sein knochiges
Hinterteil.«
»Ich hole deinen Medizinkasten«, sagte Roana und
eilte davon. Nael und Rafael hoben Peire vom
Boden auf und schleppten ihn zum Feuer. Roana
hatte Peires Bettzeug ausgebreitet und die Männer
legten den Sänger darauf.
52
»Willst du etwas gegen die Schmerzen?«, fragte
Nael.
»Nein, verdammt«, knurrte Peire. »Tu einfach, was
du tun musst.«
»Halte ihn fest, Rafael«, befahl der Medicus.
»Wenn er zuckt oder anfängt sich zu bewegen, kann
ich nicht vernünftig arbeiten.«
Rafael kniete sich hinter den Freund und schob
ihm die Hände unter Nacken und Hinterkopf, wie
um ihm zu einer bequemeren Lage zu verhelfen. Im
nächsten Moment jedoch sank Peire leblos in sich
zusammen.
Nael riss den Kopf hoch. »Herrgott noch mal,
Rafael! Bist du wahnsinnig?«
Rafael verzog das Gesicht. »Peire ist manchmal
einfach zu stur, um zu wissen, was gut für ihn ist. Ich
wollte nicht, dass er unnötig Schmerzen aushalten
muss.«
Für einen Moment verlor Nael den Kontakt zu
dem Teil seines Selbst, der des Sprechens mächtig
war. Alles schien unendlich weit weg. Verdammt er
musste sich konzentrieren!
Er beugte sich über Peires Körper und tastete nach
einem Puls. Erleichterung durchflutete ihn, als er das
sanfte Pochen unter seinen Fingerspitzen spürte.
»Den Göttern sei Dank! Er ist nur bewusstlos. Für
einen Moment dachte ich …«
»Ja?« Rafaels Blick haftete scharf und durchdringend auf seinem Gesicht. »Was hast du gedacht?«
Nael verschränkte die Arme vor der Brust und
53
starrte seinen Bruder an. Er konnte spüren, wie der
Zorn purpurrote Flecken in sein Gesicht brannte.
Rafael schüttelte sanft den Kopf. »Nael, Nael.
Wofür hältst du mich? Hast du tatsächlich geglaubt,
ich könnte meinen besten Freund umbringen?«
»Wofür ich dich halte? Für einen Bastard des
Teufels! Kein sterblicher Mensch würde es wagen
solche lebensgefährlichen Methoden anzuwenden!
Eine Winzigkeit zu viel Druck hätte genügt, um ihn
zu töten!«
»Du scheinst ziemlich gut Bescheid zu wissen,
großer Bruder«, erwiderte Rafael sanft. »Was für ein
Unterschied besteht da zwischen dir und mir?«
»Ich bin ausgebildeter Medicus.« Seine Stimme
bebte vor Zorn, ohne dass er es verhindern konnte.
»Du bist keiner.«
»Stimmt«, gab Rafael mit eiserner Gelassenheit
zurück. »Ich bin nur ein ausgebildeter Mörder.
Anscheinend gibt es da wohl einige Gemeinsamkeiten im Lehrplan.«
Naels Gesicht fiel in sich zusammen. Seine Arme
hingen wie Stöcke an seinen Seiten. Er schloss die
Augen und schüttelte den Kopf. »Grundgütiger,
Rafael! Sei froh, dass deine Gemahlin das jetzt nicht
gehört hat.«
»Was nicht gehört hat?«, fragte Roana und stellte
die Medizinkiste neben Peires Lager ab.
»Dein Ehemann redet Unsinn«, murmelte Nael. Er
ließ sich neben Peire auf die Knie sinken und begann
mit geübten Griffen das Gelenk abzutasten. Roana
wollte eine Frage stellen, aber Nael brachte sie mit
einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Er
54
machte sich eine Weile an Peires Fuß zu schaffen
und Roana erschienen seine Bemühungen wie der
unmögliche Versuch, Peires Bein allein durch
Muskelkraft in die Länge zu ziehen.
Endlich stieß er einen erleichterten Seufzer aus
und wischte sich mit einem Zipfel seiner Djelaba den
Schweiß von der Stirn. »Das Wichtigste wäre geschafft«, murmelte er.
Er suchte in seiner Medizinkiste nach einem
Fläschchen Rosenöl, rieb das Gelenk damit ein und
bedeckte es dann mit einem feinen Leintuch, auf das
er ebenfalls einige Tropfen Rosenöl träufelte. Roana
erhielt den Auftrag eine Mischung aus Wasser und
Wein herzustellen, die Nael benutzte, um einige
Leinenstreifen anzufeuchten. Er bandagierte das
verletzte Glied, und da nichts anderes zur Hand war,
mussten zwei von Roanas ledernen Messerscheiden
herhalten, um das Gelenk ruhigzustellen.
»Das ist alles, was ich im Moment tun kann«, erklärte er schließlich. »Wir sollten versuchen, so
schnell wie möglich eine Ansiedlung zu erreichen.
Der Fuß braucht Ruhe, Ruhe und noch einmal
Ruhe.«
In diesem Moment schlug Peire die Augen auf und
versuchte sich aufzurichten.
»Liegenbleiben!«, befahl Rafael.
»Was … was war den los?«, murmelte der Sänger.
»War ich tatsächlich –bewusstlos? Warum?«
»Ich habe nachgeholfen«, sagte Rafael und drückte
ihn sanft auf seine Decke zurück. Nael warf seinem
Bruder einen kurzen giftigen Blick zu, bevor er sich
55
Peire zuwandte. »Willst du jetzt etwas gegen die
Schmerzen?«
»Würde es dich zufriedenstellen, wenn ich ja
sage?«, gab Peire zurück.
»Ich bin kein Anhänger der These, dass Schmerz
eine Strafe Gottes ist, die jeder Mensch gefälligst
klaglos zu ertragen hat.« Nael füllte einen Becher mit
Wein, fügte ein braunes Kügelchen aus seinem
Medizinkasten hinzu und rührte sorgfältig um.
Schließlich reichte er Peire den Becher. Der Sänger
leerte ihn kommentarlos und schlief bald danach ein.
Roana verteilte Brot und Speck. »Wie geht es jetzt
weiter?«, fragte sie zögernd.
Nael musterte sie aufmerksam. Sie war blass um
die Nase und knabberte an ihrem Brot herum wie
eine Maus.
Sie war guter Hoffnung und Nael wusste, dass sie
oft von heftiger Übelkeit geplagt wurde, auch wenn
sie nie ein Wort darüber verlor. Ein paar Tage Ruhe
auf einer Burg würden auch ihr nur gut tun.
»Wir müssen so bald als möglich eine Unterkunft
finden«, sagte Nael. »Peire darf den Fuß auf keinen
Fall belasten. Normalerweise verordne ich Patienten
mit solchen Verletzungen strenge Bettruhe.«
»Na wunderbar«, murmelte Roana. »Und wie soll
das gehen?«
»Wir werden eine Unterkunft finden«, sagte Rafael.
»Lasst uns jetzt aufbrechen.«
Roana löschte das Feuer und verstaute das Gepäck, während die Männer Peire in Roanas Reisesänfte betteten.
56
q
Der dunkel gekleidete Mann starrte konzentriert
zwischen den Stämmen der Bäume hindurch. Kopf
und Gesicht waren hinter einem Tuch verborgen,
das nur die Augen freiließ. Alles, was er sah, war in
Dämmerlicht getaucht: die Reisesänfte, die Pferde –
ja selbst die drei Männer und die Frau.
Der Dunkle beobachtete den Medicus, der sich am
Fuß seines gestürzten Reisegefährten zu schaffen
machte. Auch der zweite Mann beugte sich über den
Gestürzten und redete auf den Medicus ein. Der
Klang trug weit in der Stille, ohne dass die einzelnen
Worte zu verstehen waren. Aber das war nicht von
Bedeutung. Worte waren nicht wichtig.
Der Dunkle hielt einen Bogen in der Hand, doch
die Pfeilspitze zeigte zu Boden, die Sehne war nur
locker gespannt. Die Frau bewegte sich hektisch hin
und her und geriet immer wieder in seine Schussbahn. Normalerweise hätte ihn das nicht aufgehalten.
Doch sein Auftrag war sehr präzise formuliert. Abweichungen wurden nicht geduldet.
Er wartete.
Irgendwo hinter ihm, in den Tiefen des Waldes,
war das Geschrei eines Vogels zu hören, gefolgt von
heftigem Geflatter. Der Dunkle hielt nach Anzeichen dafür Ausschau, dass die Männer etwas gehört hatten, doch sie widmeten sich weiter ihrer
Beschäftigung, während die Frau hin und her eilte,
um herbeizubringen, was einer der Männer mit einer
Geste oder einem knappen Wort verlangte.
57
Er bewegte sich leicht und vollkommen geräuschlos, um sich in eine bessere Schussposition zu
bringen. Plötzlich hob der zweite Mann den Kopf
und starrte mit durchdringendem Blick genau in
seine Richtung, als wisse er um die im Unterholz
verborgene Gefahr.
Der Dunkle verzog die Lippen zu einem grausigen
Lächeln. Das war nicht möglich. Er war ein Schatten,
ein Dämon, den niemand bemerkte, bevor es zu spät
war. Doch da er den Ruf des Mannes kannte, der zu
ihm herüberstarrte, beschloss er, sich zurückzuziehen. Sein Zeitplan ließ ihm genug Raum, den
perfekten Moment abzuwarten. Und dieser Moment
würde kommen.
Bald.
q
Der Platz, an dem sich Peires Unfall zugetragen
hatte, blieb rasch hinter ihnen zurück, als ein
schmaler Waldgürtel sie aufnahm. Auf ihrer Reise
waren sie durch zahlreiche Wälder wie diesen gekommen, und viele davon waren größer und dunkler
gewesen, als diese Ansammlung von Tannen,
dennoch konnte Nael das seltsame Unbehagen nicht
abschütteln, das dieser Ort in ihm auslöste. Da war
etwas an diesem Wald, das ihn irritierte, ohne dass er
genau sagen konnte, was. Er fühlte sich wie ein Wild
im Visier des Jägers. Doch sobald er sich umsah, war
da – nichts. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los,
dass jemand - oder etwas ihnen folgte.
58
Sie waren vielleicht eine Meile weit gekommen, als
der Wald zurückwich und sich zu einem weiten Tal
öffnete. Inmitten blumenübersäter Wiesen lag ein
stiller See, in dem sich die Wolken spiegelten. Die
Luft war ungemein klar und die Sonne brannte heiß
herunter.
Nael zügelte seinen Hengst, stieg aus dem Sattel
und bedeutete Rafael durch Gesten, weiterzureiten.
»Ich will mir nur rasch diese heilkräftigen Pflanzen
hier ansehen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern.«
Roana wollte Einwände erheben, doch Rafael
unterbrach sie mit einem angedeuteten Kopfschütteln. Lass ihn machen.
Roana widersprach nicht, sondern sah den
Medicus nur einen Moment lang ärgerlich an, bevor
sie ihr Pferd antrieb und ihrem Gemahl folgte.
Nael wandte sich dem Wegesrand zu, ging in die
Hocke und begann, die Pflanzen zu untersuchen,
doch es gelang ihm nicht, sich auf seine Aufgabe zu
konzentrieren. Ungewollt folgte sein Blick der Gestalt Roanas, deren kränkliches Aussehen ihm gar
nicht gefiel. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie
in Rafaels Beisein zu fragen, ob sie erneut unter
Bauchkrämpfen litt. Sie würde es leugnen, aber ihm
war nicht entgangen, wie oft sie die Zähne in ihre
Unterlippe grub, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Nael nahm sich fest vor, ihr bei der
nächsten passenden Gelegenheit ernsthaft ins Gewissen zu reden.
q
59
Der Schatten folgte den Reitern mühelos in sicherem
Abstand durch das Tal, da die Spuren, die die
Pferdehufe im Gras hinterließen, sich als gut sichtbarer dunkler Strich abzeichneten. Ein weniger geduldiger Mann hätte vielleicht versucht, in dem
weiten, offenen Tal an den Medicus heranzukommen. Doch das tat er nicht. Er war Ash´abah,
der Geist, und er hatte gelernt, einen Gegner niemals
zu unterschätzen. Seine Ausbildung glich jener, die
auch der jüngere der beiden Männer durchlaufen
hatte. Er kannte die Geschichten, die über Malik al
Maut, den Engel des Todes kursierten. Auch wenn
ihm einiges davon übertrieben erschien, würde er
sich nicht zu einer übereilten Tat verleiten lassen.
Um ganz sicher zu gehen, hielt er ausreichenden
Abstand, damit neugierige Augen ihn vor dem
Hintergrund des blauen Himmels nicht entdecken
konnten. Er hatte Zeit. Und er besaß Geduld und
die nötige Disziplin, um dem Medicus so lange zu
folgen, bis Zeit und Umstände genau dem entsprachen, was sein Auftraggeber verlangte.
q
Sobald Rafael und Roana aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, ließ Nael die Blätter der Heilpflanzen fahren und starrte konzentriert in die
Richtung, aus der sie gekommen waren. Ohne einen
Grund dafür nennen zu können, spürte er, dass
irgendetwas nicht stimmte. Es war ein Gefühl, etwas,
60
das mit Worten nicht zu erklären, aber von einer fast
greifbaren Intensität war.
Nüchtern betrachtet waren seine Ahnungen unmöglich. Bei der klaren Luft und der ungehinderten
Sicht über das Tal hätten sie jeden Verfolger schon
vor Stunden sehen müssen. Doch so sehr er sich
auch bemühte etwas zu entdecken - das Tal hinter
ihm blieb leer.
Ist es das?, dachte er. Der Wahnsinn? Werde ich
verrückt?
Aber eine eindringliche Stimme in seinem Inneren
sagte ihm, dass er nicht verrückt war. Dass es die
Bedrohung wirklich gab und er besser daran tat,
Rafael von seinem Verdacht zu erzählen.
Doch dann schüttelte er über sich selbst den Kopf.
Sein Bruder würde ihn bestenfalls belächeln, wenn er
mit nichts Anderem als vagen Vermutungen aufzuwarten vermochte. Und mehr hatte er ja nicht.
Ahnungen, Gefühle – Hirngespinste? Vielleicht hatte
Rafael recht und er war tatsächlich schon so weit
gesunken, dass sein Verstand ihm Dinge vorgaukelte,
die gar nicht da waren.
Schwerfällig stieg er in den Sattel und drängte sein
Pferd mit sanftem Schenkeldruck herum. Der
Hengst schnaubte, warf nervös den Kopf in den
Nacken und scharrte mit den Vorderhufen im Gras.
Nael blickte unwillkürlich über die Schulter, aber der
Weg hinter ihm war noch immer leer. So abgelenkt
war er von seinen Befürchtungen, dass er zunächst
gar nicht bemerkte, dass der Wind sich gelegt und
einer vollkommenen Stille Platz gemacht hatte. Sein
Hengst jedoch sog erregt die Luft durch die Nüstern
61
und drängte gegen die Zügel. Nael sah sich um und
bemerkte überrascht, dass sich seine Begleiter deutlich weiter entfernt hatten, als er erwartet hätte. Er
würde sich beeilen müssen, um sie einzuholen, bevor
sie vollständig aus seinem Blickfeld verschwanden.
Sein Hengst schien den gleichen Wunsch zu verspüren, denn er fiel beinahe von selbst in einen
schnellen Galopp.
Den ersten konkreten Hinweis darauf, dass etwas
nicht stimmte, entdeckte er, nachdem sein Rappe
vielleicht zwanzig Pferdelängen zurückgelegt hatte.
Seine Begleiter hatten angehalten – oder vielmehr
anhalten müssen, denn die ganze Gruppe steckte
inmitten einer Herde Ziegen fest. Rafael schien sich
mit dem Hirten ob dieser Tatsache heftig zu streiten,
denn beide Männer gestikulierten eifrig und deuteten
immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Der
Anblick war einfach lächerlich.
Trotzdem gelang es Nael nicht, ein Schaudern zu
unterdrücken, während er über die Wiese preschte.
Die Ziegen mochten harmlos sein – oder eine geschickt gestellte Falle.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Roana ungehalten, als er seinen Hengst neben ihr zügelte.
»Rafael wollte schon losreiten, um dich zu holen.«
»Was ist hier los?«, fragte Nael barsch. »Über was
diskutieren die beiden?«
»Rafael sagt, dass ein Unwetter kommt.«
»Jetzt? Hier? Es steht nicht eine einzige Wolke am
Himmel.«
»Das sehe ich selbst«, knurrte Roana.
62
Rafael hatte sein Gespräch beendet und reichte
dem Hirten eine Münze, bevor er sich wieder seinen
Begleitern zuwandte. »Dieser Mann sagt es auch: Es
wird ein Unwetter geben. Wir müssen so schnell
reiten, wie wir können. Ungefähr eine Wegstunde
von hier gibt es eine Burg, wo wir unterkommen
können, bis das Schlimmste vorüber ist.«
»Und die Sänfte?«, fragte Roana.
»Die lassen wir hier zurück.«
Nael starrte seinen Bruder an. Von einem Herzschlag auf den anderen fühlte er sich leer und erschlagen, und absurderweise erfüllte ihn die Tatsache, dass es keine Gefahr gab nicht mit Erleichterung, sondern mit einem Gefühl dumpfer,
schleichender Verzweiflung.
»Komm, hilf mir. Wir müssen Peire auf ein Pferd
setzen«, forderte Rafael ihn auf. Gemeinsam hoben
die Männer Peire in den Sattel, spannten die Tragtiere aus und stellten die Sänfte am Wegesrand ab.
Roana sah ihnen dabei zu. Oder besser: Sie starrte
Rafael an und verschlang ihn mit Blicken, wie eine
hungrige Wölfin. Sein Bruder dagegen starrte in den
Himmel hinauf und nahm die sehnsüchtigen Blicke
seiner Gemahlin nicht einmal wahr.
Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen,
stieg eine kaum zu beherrschende, irrationale Wut in
Nael auf. Er machte einen Schritt auf Rafael zu, hielt
mitten in der Bewegung inne, wandte sich brüsk um
und umrundete sein Pferd. Dort blieb er an den
Sattel gelehnt stehen, ballte die Fäuste und zwang
sich, so lange reglos stehen zu bleiben, bis sie aufgehört hatten, zu zittern.
63
Ende der Leseprobe von:
Wie ein Siegel auf dein Herz Teil 1
Máire Brüning
Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das
komplette Buch können Sie bestellen unter:
http://bit.ly/1XWnjqO