Allegras Geduld - Reittherapie Würzburg

Allegras Geduld
Foto: Stefan Bausewein
Mit Menschen spricht der geistig behinderte Jonas nur wenige Worte. Doch mit seiner vierbeinigen Freundin Allegra findet er eine gemeinsame Sprache. Die Ruhe und Freundlichkeit des Pferdes geben ihm Halt
Jonas Winter springt aus dem Auto, eilt schnurstracks in Richtung Stallungen und Reitplatz. Mit dem Arm gestikulierend zeigt er auf eine Pferdebox. Jonas hat eine geistige Behinderung, spricht nur einige wenige Worte. Seit eineinhalb Jahren kommt er alle zwei Wochen zum heilpädagogischen Reiten auf den idyllisch gelegenen Pferdehof in
Rieden bei Würzburg.
Allegra, 17-jährig, ein Kaltblut-Mix, wartet bereits. Gedankenverloren blickt sie vor sich hin, ist aber sofort hellwach,
als Jonas sie begrüßt. Das Pferd hat etwas Mütterliches, ist gelassen und ruhig. Eigenschaften, die zugeschnitten
sind auf die Ängste, Bedürfnisse und Fähigkeiten des schlaksigen Jungen. Allegra wird für das heilpädagogische
Reiten fertiggemacht: Bürsten, Striegeln, Hufeauskratzen und Satteln stehen auf dem Programm. „Der Beziehungsaufbau zum Pferd ist das A und O“, erklärt Uschi Ferstl, Sozialpädagogin und ausgebildete Reittherapeutin.
Urvertrauen gewinnen, den Körper wahrnehmen, die Feinmotorik verbessern, Rücksichtnahme üben, Konzentration
schulen, eine Sache zu Ende bringen, das sind die therapeutischen Ziele für den Zwölfjährigen. “Ich begleite und unterstütze Jonas, damit er diese Ziele erreicht“, erklärt Ferstl. Sie möchte „das Fehlende“ vermitteln, weniger an den
Fehlern herumdoktern.
Die Oberpfälzerin weiß: „Therapiepferde sind einfühlsam, rücksichtsvoll, bleiben zum Beispiel stehen, wenn sie spüren, dass der Reiter von ihrem Rü-cken herunterzufallen droht. Und: Pferde reagieren nicht menschlich. Sie rächen
sich nicht, sie strafen auch nicht. Für verhaltensoriginelle Kinder ist diese Erfahrung besonders wichtig. So erfahren
sie, dass ihr abweichendes Verhalten nicht unbedingt und überall ablehnende Reaktionen hervorruft.“
Jonas jauchzt. Prinzengleich sitzt der Wirbelwind auf Allegra. Bolzengerade. Und los geht’s, querfeldein. Die Reitpädagogin führt das Pferd. Wie Winnetou zeigt er mit ausgestrecktem Arm auf dies und das. Dahin, dorthin will er.
„Wenn du willst, dass Allegra vorwärtsgeht, musst du in die Hände klatschen“, sagt Ferstl. Jonas klatscht – und
schon springt das Pferd über das zirka 30 Zentimeter hohe Balkenhindernis. Er lacht, spricht in Geheimsprache – mit
sich, dem Pferd, der Welt.
Weiter geht’s im Parcours: Jonas füttert Allegra mit frischen Haselnussblättern, lässt sie aus einem Planschbe-cken
Wasser trinken, streicht dem Pferd mit einem Igelball über den Rücken. Ein rotes Herz-Kissen bringt er sicher zum
vereinbarten Ziel. Zwischendurch streut die Reittherapeutin spezielle Übungen ein – auch solche zur Schulung der
Motorik. Jonas soll sich rückwärts auf den Pferderücken legen. Es gelingt. Zum ersten Mal. „Das hast du sehr gut gemacht.“
Sie gibt Jonas bei den Übungen möglichst viel Freiraum. Im Mittelpunkt steht Allegra – die Beziehung zu ihr, ihre heilenden Bewegungen. Alles geschieht spielerisch, ohne Krampf. Jonas – so scheint es – hat auf dem Pferderücken
ein Stück Urvertrauen, Wärme und Trost gefunden. Uschi Ferstl bestätigt: „Jonas hat eindeutig an Vertrauen gewonnen, er ist jetzt weniger ängstlich, traut sich auch mal was zu, das Fahrige ist zu einem großen Teil gewichen.“
Im Fluge ist die Therapiestunde rum. Absteigen. Helm ab. Absatteln. Zum Abschied reicht er Allegra zwei Karotten.
Ihr Lieblingsmenü. Jonas strahlt. Zwei, die sich gefunden haben.
Von Xaver Schorno
Der Text ist in der Dezemberausgabe der stadtgottes, dem Magazin der Steyler Missionare, erschienen. Mehr Infos
unter www.stadtgottes.de