Alois Brei Schaffen wir das? Oft ergeht es den Flüchtlingskindern derzeit so: Es gibt zwar in manchen Bundesländern besondere Willkommens- und Sprachlernklassen, doch es sind viel zu wenige und ihre Kapazitäten reichen vorn und hinten nicht. Da sich die meisten Gymnasien und Realschulen gern für unzuständig erklären, werden die Kinder vor allem von Grund-, Haupt- und Gesamtschulen aufgenommen. Dort teilt man sie altersgemäß einer Klasse zu und die jeweiligen Lehrer und Lehrerinnen sollen es dann richten. Allenfalls die ein oder andere Förderstunde ist verfügbar. Bei hoher Motivation, großem persönlichen Einsatz, überdurchschnittlicher Begabung und elterlicher Unterstützung erreichen einige Kinder auch so erstaunliche Erfolge. Doch die Regel ist das nicht. Da in den Klassen oft noch andere Kinder mit spezifisch herausfordernden Problemlagen unterrichtet werden, sind Lehrkräfte häufig überfordert und viele Flüchtlingskinder bleiben weit unter ihren Möglichkeiten. Das war in früheren Zeiten nicht anders. In den 1990er Jahren zum Beispiel entwickelten sich viele Kinder, die während der Balkankriege zu uns kamen, zu schwierigen Problemfällen mit geringer Motivation und massiven Verhaltensauffälligkeiten. Wenn uns hier nicht entschieden mehr und Neues einfällt, wird die Integration von Flüchtlingskindern nicht gelingen. Die Chancen Dabei könnte die Zuwanderung von jungen Flüchtlingen ein Gewinn sein. Sie kann das demografische Problem in unserem Land deutlich mindern und 1 mithelfen, die Sozialsysteme zukunftsfähig zu machen und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu sichern. Es gibt geringe Geburtenraten in allen europäischen Ländern. Etwa 2,6 Mio. Menschen müssten in Europa jährlich zuwandern, um die Bevölkerungszahl zu halten. Bei gleichbleibender Tendenz werden in Deutschland in wenigen Jahren auf jedes Neugeborene zwei Verstorbene kommen. Nach Baden-Württemberg kamen in den ersten sechs Monaten des Jahres 2015 etwas mehr als 22 000 Flüchtlinge, davon waren 72,7 % Männer und 27,3 % Frauen. Das Durchschnittsalter betrug 23,3 Jahre. Die meisten männlichen und weiblichen Flüchtlinge waren zwischen 18 und 34 Jahre alt. Etwa ein Viertel (25,9 %) war minderjährig. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung Baden-Württembergs betrug 43,2 Jahre und lag damit etwa 20 Jahre höher als bei den Flüchtlingen. Jeder fünfte Baden-Württemberger gehört mittlerweile zur Generation 65+. Das Ziel Damit sich die Situation jedoch sowohl für die Menschen, die zu uns kommen, als auch für die gesamte Gesellschaft positiv entwickelt, dürfen die Flüchtlingskinder nicht zu Schulversagern werden. Oberstes Ziel muss sein, sie in angemessener Zeit zu einem ordentlichen Schulabschluss zu führen und die Voraussetzungen für eine Berufsausbildung und für gesellschaftliche Teilhabe zu schaffen. Die schwierige Ausgangslage Dabei sind besondere pädagogische Herausforderungen zu bewältigen. Viele Kinder, die zu uns kommen, kennen weder die Laute der Sprache noch die 2 Zeichen der Schrift. Sie kommen aus Ländern, in denen das Leben durch Krieg, Bürgerkrieg, Gewalt, Terror, Korruption, Gesetzlosigkeit und religiöse Auseinandersetzungen, durch Armut und mangelnde Ausbildungs- und Berufsperspektiven geprägt ist. Ihre bisherigen Schul- und Lernerfahrungen sind sehr unterschiedlich und mit denen ihrer deutschen Altersgenossen oft nicht vergleichbar. Folgerungen für den Unterricht Das Wichtigste: Diese Kinder müssen in Deutschland "ankommen". Sie haben viel erlebt und müssen vor allem Vertrauen gewinnen, auch zu sich selbst. Sie brauchen persönliche Beziehungen zu Menschen, die ihnen Geborgenheit vermitteln. Sie benötigen am Anfang viele Hilfen bei der Bewältigung des ungewohnten Alltags. Sie brauchen eine Atmosphäre der Akzeptanz. Gerade dies wird in einer Gesellschaft, in denen viele mit offener Ablehnung und Aggression reagieren, sehr schwierig werden. Man kann und sollte diesen Kindern andererseits Anforderungen aber nicht ersparen. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang: Der Schulalltag muss durch einfache, feste Regeln geprägt sein, die unaufgeregt angewandt und im Zweifel auch durchgesetzt werden. Die meisten Kinder müssen zunächst die Laute der Sprache und die Zeichen der Schrift erlernen. Danach sollten sie schnell lesen und schreiben lernen, damit sie ihre sprachlichen Fähigkeiten an Texten entwickeln und sich selbst weiter orientieren können. Im Unterricht mit diesen Kindern braucht es auch angemessene Methoden. Das im Grundschulbereich verbreitete „Lesen durch Schreiben“ wird schnell 3 an seine Grenzen stoßen. Wir müssen die Welt außerhalb der Klassenzimmer zu Orten des Lernens machen, dies im Interesse aller Kinder und in viel größerem Umfang, als es leider üblich geworden ist. Die Kinder müssen nicht nur schnell Deutsch lernen, sondern auch in Mathematik, in den Fremdsprachen und den sachkundlichen Fächern auf den Unterricht der Regelklassen vorbereitet werden. Die Kinder (und ihre Eltern) müssen nicht zuletzt wichtige kulturelle Werte unserer Gesellschaft kennen lernen, sie respektieren und akzeptieren: u. a. Gleichberechtigung der Geschlechter, Respekt vor anderen Meinungen, die Achtung anderer Religionen, demokratische Entscheidungen, gegenseitige Hilfe. Internationale Klassen oder Kleinlerngruppen Die Flüchtlingskinder benötigen nicht nur spezifisches Lernmaterial, sondern auch eine angemessene Organisation ihrer Lernprozesse. Wir sollten und können nicht darauf warten, dass die Probleme von den Schulbehörden gelöst werden. Es braucht nicht neue Erlasse und Vorschriften, sondern vielmehr schnell pragmatische, gute Lösungen vor Ort. Wir brauchen eine Vielfalt von Ideen. Diese Ideen entstehen vor allem in der Praxis. Sie müssen kommuniziert, diskutiert und auch überprüft werden. Die geringsten Sorgen muss man sich vermutlich um die Jüngsten machen. Alle Kinder, die altersgemäß in eine Vorklasse oder eine 1. Klasse aufgenommen werden können, sollten sofort in diese Klassen eingestuft werden. Sie haben so 4 evtl. 5 Jahre Zeit, in der Grundschule Deutsch zu lernen und ihre Kenntnisse und Fertigkeiten zu entwickeln. 4 Die älteren Flüchtlingskinder hingegen dürfen nicht zu früh auf die Schulformen des gegliederten Systems aufgeteilt werden. Wir sollten überall da, wo es möglich ist, internationale Klassen einrichten, die jahrgangs-, schulform- und ortsübergreifend angelegt werden könnten. Eine internationale Klasse kann nicht an jeder Schule entstehen. Benachbarte Schulen können aber kooperieren und einen Verbund bilden. Die Entscheidung über die Einrichtung solcher Klassen muss bei den Schulen liegen, denn nur sie haben den Überblick und sind nahe genug an der Wirklichkeit. Sie sollten dazu Unterstützung von den Schulbehörden einfordern. Weg mit unsinnigen bürokratische Vorgaben! Oft genug verhindern sie die Entwicklung guter Zustände. Natürlich brauchen wir mehr Lehrkräfte. Aber neue Lehrer wachsen nicht auf Bäumen. Pensionierte Lehrkräfte kann man vermutlich durch persönliche Ansprache gewinnen, kaum jedoch durch bürokratische Bewerbungsverfahren mit Lebenslauf und Zeugnisnoten, wie es z. B. in Niedersachsen derzeit versucht wird. Bis man hier erfolgreich ist, wird man überall mit den vorhandenen Ressourcen auskommen und sie sinnvoll und effektiv nutzen müssen. Die Lasten müssen dabei gleichmäßig verteilt werden. Auch Gymnasien und Realschulen können nicht aus ihrer pädagogischen gesellschaftlichen Verantwortung entlassen werden, auch sie müssen internationalen Klasse einrichten, mindestens Stundenkontingente dafür bereit stellen. Die Kinder sollten mehrere Monate in einer solchen Klasse bleiben. Dort, wo es sie schon gibt, haben die Kinder bis zu 2 Jahren Zeit. Erst wenn sie sicher den Anforderungen einer Regelklasse gewachsen sind, sollten sie in eine Schulform des gegliederten Schulsystems übergehen. Wenn oder solange keine internationale Klasse eingerichtet werden kann, 5 sollte an einer Schule eine jahrgangsübergreifende Fördergruppe/ Kleinlerngruppe gebildet werden, in der die Kinder etwa 10 bis 15 Stunden wöchentlich unterrichtet werden. In der übrigen Zeit sollten sie am Unterricht einer Regelklasse teilnehmen. Diese Kleinlerngruppe sollte von einer erfahrenen Lehrkraft betreut werden, die alle Angelegenheiten koordiniert, die diese Kinder betreffen. Das kann evtl. sogar eine pensionierte Lehrkraft sein, die die Schule und die örtlichen Gegebenheiten kennt. In dieser Kleinlerngruppe sollten möglichst täglich 2 bis 3 Unterrichtsstunden erteilt werden. Falls der Schule nicht genügend Stunden zur Verfügung stehen, muss man eben mit weniger auskommen, oder aber „Quereinsteiger“ und andere ehrenamtlich tätige Personen gewinnen. Dieser Unterricht muss sich an den persönlichen Voraussetzungen der Kinder orientieren. Im Vordergrund wird natürlich der Sprachunterricht stehen, aber auch Mathematik und Sachkunde sollten unterrichtet werden. Die Lehrerinnen und Lehrer, die diese Unterrichtsstunden erteilen, sollten voneinander lernen. Es wäre eine selbstverständliche Aufgabe von Schulbehörden, diese Kommunikation untereinander zu moderieren. Diese Kleinlerngruppen sollten mindestens einmal in der Woche die Schule verlassen und eine öffentliche Einrichtung besuchen, etwas unternehmen und besichtigen. Erfahrungen und Eindrücke im Super- und auf dem Wochenmarkt, im Wald, im Tierpark, auf einem Bauernhof, im Rathaus, in Kirchen etc. sind eine der besten Möglichkeiten, die sprachlichen Möglichkeiten zu erweitern. Die Kinder müssen z. B. auch angemessenes Verhalten im Straßenverkehr und auf dem Schulweg üben. 6 Zusammenarbeit mit den Eltern Kinder müssen von ihren Eltern unterstützt werden. Dazu gehört, dass die Eltern ebenfalls die Sprache lernen und mit den Kindern möglichst auch Deutsch sprechen. Diese Forderung sollte die Schule den Eltern übermitteln. Die Schulen könnten den Eltern dabei helfen und zum Beispiel ihre Computerräume zur Verfügung stellen, damit erwachsene Flüchtlinge die bestehenden Möglichkeiten des Online-Lernens nutzen können. Überall dort, wo Asylkreise tätig sind, sollte die Schule Kontakte knüpfen, besonders (- wenn es sie denn gibt -) zu den Betreuern (Paten) von Flüchtlingsfamilien. Evtl. kann man im Kreis der übrigen Eltern der Schule geeignete Personen finden, die sich um die Familie eines Flüchtlingskindes kümmern. Die Eltern der Kinder könnten u. a. bei besonderen Schulveranstaltungen (Schulfest, Weihnachtsfeier) aktiv einbezogen werden. Sie könnten zum Beispiel kulinarische Beiträge leisten. Sie könnten auch an Außenaktivitäten der Kleinlerngruppe teilnehmen. Nicht zuletzt: Die Schule sollte auch deutlich machen, dass ihre Regeln für alle gelten und von von niemand anderem als der Schule selbst festgelegt werden. 7
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