Schulpsychologische Beratung beim Überspringen von Klassen

Petra Steinheider
(2002)
Schulpsychologische Beratung beim Überspringen von Klassen
1.
“Philipp” - ein alltäglicher Fall?
2.
Hessische Rahmenbedingungen
2.1
2.2
3.
Rechtliche Vorgaben in Hessen
Überspringerquoten am Beispiel Kassel im Vergleich zu Niedersachsen
Schwierigkeiten einer pädagogischen Entscheidung des Überspringens
3.1
3.2
4.
Subjektive Theorien zum Überspringen
Objektive Beurteilungsschwierigkeiten
Schulpsychologische Beratungspraxis
5.
Der Fall “Philipp” - in einem anderen Licht!?
Schulpsychologische Beratung beim Überspringen von Klassen
1.
“Philipp” - ein alltäglicher Fall?
Für Philipp ist die Schule eine Enttäuschung. Dabei hat er sich doch so auf die Schule
gefreut. Immer wieder hat er seinen älteren Bruder mit Fragen bombadiert: “Wie heißt der
Buchstabe? Wie heißt das Wort? Wie rechnet man das?” Sein Bruder hat sich schließlich
daran gewöhnt, dass Philipp ihm bei den Hausaufgaben oft über die Schulter schaut und
dabei selber “Hausaufgaben” spielt. Wenn er erst in der Schule ist, wird seine Neugier
endlich befriedigt werden, hofft Philipp.
Doch es kommt anders. In der Schule wird von Philipp erwartet, dass er noch einmal von
vorne beginnt. Keiner scheint zu beachten, dass er schon längst lesen kann, dass er sowohl
in Druck- als auch in Schreibschrift Wörter schreiben kann und dass er bereits den
Zahlenraum bis Hundert beherrscht. Eine Deutschstunde, in der die anderen Kinder
gemeinsam das Lesen einfacher Wörter üben, zieht sich für Philipp unerträglich hin. Er kann
dann nur mit Mühe ruhig auf seinem Stuhl sitzenbleiben. Zu Hause hat er auch Kummer.
Seitdem der neue Stiefvater da ist, gibt es nur noch Streit. An solchen Tagen ist Philipp in der
Schule besonders unleidlich und er will dann nichts mit den anderen Kindern zu tun haben.
Aus der Sicht seiner Klassenlehrerin Frau S. fällt Philipp vom ersten Tag an durch sein
unbeherrschtes, unausgeglichenes Verhalten auf. Er will im Spiel mit den anderen Kindern
oft dominieren , verweigert im Unterricht immer wieder Aufgaben, die längere Ausdauer
erfordern und entwickelt sich schon in kurzer Zeit zu einem Außenseiter. Nach mehreren,
ausführlichen Gesprächen mit den Eltern beginnt sich Philipp in letzter Zeit zögernd in die
Klassengemeinschaft zu integrieren. Er stört nicht mehr so häufig den Unterricht und knüpft
erste soziale Kontakte.
Frau S. hat bei Philipp einen erheblichen Lernvorsprung beobachtet, gewichtet aber die
soziale Entwicklung stärker als Philipps intellektuelle Unterforderung. Sie geht davon aus,
dass dieser Lernvorsprung allmählich durch die Klasse eingeholt wird. Sie will ihm auf
keinen Fall einen Gruppenwechsel zumuten, auch wenn Philipp in der 2. Klasse besser
gefördert werden könnte.
Der Fall “Philipp” scheint gelöst. Aber beruht die Entscheidung der Lehrerin, Philipp nicht
überspringen zu lassen, auf gesicherten Annahmen? Hat die Förderung der sozialen
Entwicklung in jedem Fall Vorrang vor dem Unterricht mit angemessenen kognitiven
Anforderungen? Und wie lässt sich die Entscheidungssicherheit in einem solchen Fall
erhöhen? Pädagogen können es beim Überspringen als Lösungsmöglichkeit für unterforderte
Schülerinnen und Schüler durchaus mit schwierigen Fragen zu tun bekommen, für die sie die
Hilfe psychologischer Fachleute in Anspruch nehmen sollten.
2.
Hessische Rahmenbedingungen
2.1
Rechtliche Vorgaben in Hessen
Das Hessische Schulrecht sieht die Möglichkeit des Überspringens einer Jahrgangsstufe
ausdrücklich vor, wenn Schülerinnen und Schüler “dadurch in ihrer Lernentwicklung besser
gefördert werden können. Die Entscheidung trifft die Klassenkonferenz auf Antrag oder mit
Zustimmung der Eltern, bei volljährigen Schülerinnen und Schülern auf deren Antrag oder
mit deren Zustimmung, nach eingehender Beratung. In besonderen Fällen kann auch die erste
Jahrgangsstufe übersprungen werden.”1 Das Überspringen einer Jahrgangsstufe unterliegt in
Hessen keinen Einschränkungen und ist jederzeit und in jeder Klasse möglich.
2.2
Überspringerquoten am Beispiel Kassel im Vergleich zu
Niedersachsen
Die umfangreichste und aktuellste Studie über das Überspringen von Klassen, durchgeführt
im Bundesland Niedersachsen, liegt von A. Heinbokel (1996) vor. Ihr Fazit lautet:
“Überspringen von Klassen war im Schulalltag eine große Ausnahme, es wurde sowohl von
den betroffenen als auch von den nicht betroffenen LehrerInnen und Eltern als etwas ganz
Besonderes, als eine ‘Jahrhundertereignis’ angesehen und dementsprechend behandelt.”2
Zwar ließ sich in Niedersachsen in den letzten Jahren ein leichter Anstieg der
Überspringerzahlen feststellen, doch das änderte nichts am allgemeinen Trend. Die Daten für
die Stadt Kassel sprechen eine ähnliche Sprache, obwohl der Aufwärtstrend auch hier
anzuhalten scheint.
Tab. 1: Vergleich der Springerquoten in Kassel mit den Daten der Erhebung von Heinbokel3
in Niedersachsen
Anzahl der
Schulen
prozentualer
Anteil der
Schulen ohne
SpringerInnen
Springerzahl
(absolut)
Niedersachsen 1980-1990
(Heinbokel)
Grundschule
Gymnasium
1842
209
Stadt Kassel 1998-2000
Grundschule
24
Gymnasium
5
68,8%
60,7%
41,6%
40%
279
32
28
10
Diese niedrigen Akzelerationsraten legen die Vermutung nahe, dass sich nur in absolut
sicheren Fällen Schulen entscheiden, Schülerinnen und Schüler eine Klasse überspringen zu
lassen. Die bisherigen wissenschaftlichen Studien legen dagegen nahe, dass diese
übertriebene Vorsicht nicht sein muss. “In keiner der Untersuchungen wurden Hinweise
darauf gefunden, dass das Überspringen von Klassen generell negative-emotionale oder
soziale Auswirkungen hat. Alle bisherigen Befunde deuteten in eine positive Richtung.”4 So
sind beispielsweise in der Heinbokel-Studie fast alle Eltern mit dem Ergebnis des Springens
zufrieden. Ihren Kinder ging es fast ausnahmslos in der neuen Klasse besser als vorher in der
alten. In wenigen Fällen kam es nach Jahren zu schulischen Krisen, die aber von den
Beteiligten nicht auf das Überspringen in früherer Zeit zurückgeführt wurden.
Geht man davon aus, dass zumindest alle hochbegabten Schüler (2% der
Gesamtschülerpopulation) potentielle Springerinnen und Springer sein könnten und
vergleicht man diese Zahlen mit der realen Quote, wird das Ausmaß dieser Vorsicht
überdeutlich.
1
Achilles, H. (1999). Hochbegabung und Schulrecht. Schulverwaltung 10/99
Heinbokel (1996). Überspringen von Klassen. Münster: LIT, S. 47
3
ebenda, S. 48 & S. 67,68
4
ebenda, S. 34
2
Tab. 2: Vergleich der Springerzahlen und ihres prozentualen Anteils in der Schülerpopulation
mit der Anzahl der hochbegabten Schüler in Kassel von 1998-2000
1998-2000
Grundschule
Sek.I
Hochbegabte
SchülerInnen in
Kassel
460
Prozentualer
Anteil
SpringerInnen in
Kassel
Prozentualer
Anteil
2%
28
0,1%
660
2%
10
0,03%
Interessant sind auch die kontroversen Ansichten von Schulleiterinnen und Schulleitern in
Kassel zu diesem Thema. Diese Bandbreite verspricht eine lebendige Diskussion und reicht
von
• entschiedener Ablehnung :“Das hat es bei uns in den letzten zehn Jahren nicht gegeben.
Und der einzige Versuch davor ist schief gegangen.”
• über den Versuch eines neuen Zugangs: “Wir schlagen jetzt mehr Schüler für diese
Maßnahme vor und machen neue Erfahrungen.”
• bis hin zur ausdrücklichen Befürwortung: “Eigentlich müsste es an unserer Schule
genausoviel Überspringer wie Sitzenbleiber geben. Nur ist das Kollegium noch nicht
davon zu überzeugen.”
3.
Schwierigkeiten einer pädagogischen Entscheidung des Überspringens
3.1.
Subjektive Theorien zum Überspringen
Im deutschsprachigen Raum, anders als z.B. in Amerika, war die Förderung hochbegabter
Schüler bis vor wenigen Jahren ein unbedeutendes Randthema. Entsprechend schwierig
gestaltet sich für den normalen Pädagogen der Zugang zu theoretischen Abhandlungen,
empirischen Studien und Veröffentlichungen zum Thema des Überspringens als
Fördermaßnahme (Akzeleration). Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass A.
Heinbokel in ihrer Studie bei vielen Pädagogen auf Annahmen trifft, die sich zur Hauptsache
auf Alltagstheorien, vorgefasste Meinungen oder Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand
stützen. Die Interviews mit Schulleiterinnen und Schulleitern legen geradezu einen
umgekehrten Zusammenhang zwischen der Festigkeit der Ansichten einerseits und der
Fundiertheit und des Umfangs der direkten Erfahrungen und Kenntnisse andererseits nahe.
Die aufgezeichneten subjektiven Theorien bezüglich des Überspringens lassen sich auf
bestimmte Kernsätze reduzieren, die auch im Fall “Philipp” Anwendung finden. Sie geben
dem Pädagogen eine scheinbare Entscheidungssicherheit , tragen aber tatsächlich das hohe
Risiko einer Fehlentscheidung in sich. Sämtliche Kernsätze verführen nämlich dazu, die
Nachteile des Überspringens zu überschätzen und daher im Gegenzug die Nachteile des
Nicht-Springens zu unterschätzen. Eine Folge dieser Praxis sind die überaus niedrigen
Überspringerquoten an deutschen Schulen.
Die wiederkehrenden Kernaussagen solcher subjektiven Theorien zum Überspringen lassen
sich in vier Bereiche gliedern5:
5
Aussagen zitiert nach ebenda, S 36, 37
Aussagen über die kognitive Entwicklung von Überspringern
• “Die Leistungen werden nach dem Springen schlechter, ein Lernknick ist
selbstverständlich zu erwarten; das geht so weit, dass sie häufig eine Klasse
wiederholen.”
Aussagen über die soziale Entwicklung
• “Die Kinder werden aus ihrer gewohnten Klassengemeinschaft herausgerissen; das
schadet ihnen.”
• “SpringerInnen mögen zwar intellektuell leistungsstark sein, haben aber menschliche
Defizite.”
• “Kinder, die das Leistungssoll ihres Jahrgangs erfüllt haben, sollten sich stattdessen dem
sozialen Lernen widmen und ihre Hilfsbereitschaft, ihre Geduld und Rücksichtnahme
üben. Das macht den Kindern Spaß.”
Aussagen über die Eltern
• “Eltern übertragen ihren eigenen Ehrgeiz auf die Kinder...”
• “Eltern geben selbst erlebten Leistungsdruck an ihre Kinder weiter.”
Bevorzugung von Zusatzangeboten (Enrichment)
• “Das Überspringen einer Klasse ist - besonders in der Grundschule - aus pädagogischen
und psychologischen Gründen zum Wohle des Kindes abzulehnen.”
• “Attraktive Zusatzangebote innerhalb und außerhalb der Schule können die
Unterforderung hinreichend ausgleichen.”
3.2
Objektive Beurteilungsschwierigkeiten
Das Überspringen kann für bestimmte Schülerinnen und Schüler eine sinnvolle
Fördermaßnahme sein, weil sie zur Verbesserung der Motivation und damit der Leistung
beitragen kann. Die Forschungsliteratur belegt sogar dann heilsame Efffekte, wenn es auf
Grund von andauernder Unterforderung bereits zu psychosomatischen und neurotischen
Reaktionen gekommen ist. Die sozialen Probleme des Überspringens werden deshalb im
allgemeinen überschätzt.
Auf der Basis ihrer Befragungen und Daten formuliert Heinbokel insgesamt zwölf Punkte6,
die es zu beachten gilt. Heinbokel betont die Bedeutung einer hohen allgemeinen
intellektuellen Leistungsfähigkeit für den Erfolg des Überspringens und schließt Kinder mit
einseitigen Begabungen als Zielgruppe aus. Sie empfiehlt den Pädagogen außerdem, eine
sorgfältige Beobachtung und Analyse des kindlichen Verhaltens durchzuführen, um die
primären sozialen und emotionalen Problemen von sekundären Auswirkungen der
intellektuellen Unterforderungssituation besser unterscheiden zu können. Sie warnt davor,
jegliche Verhaltensauffälligkeit ohne genaue Prüfung der sozialen und persönlichen Unreife
des Kindes zuzuschreiben. Es gilt also für den Pädagogen in diesem Zusammenhang äußerst
komplexe Frage zu klären:
• Sind die schulischen Leistungen des Kindes Ergebnis besonderer Fleissarbeit und
häuslicher Förderung oder sind sie Ergebnis hervorragender intellektueller Fähigkeiten?
• Hat das Kind emotionale Persönlichkeitsdefizite oder ist es die permanente
Unterforderungssituation, an der das Kind verzweifelt?
6
ebenda, S.219, 220
• Sind die sozialen Fähigkeiten des Kindes unterentwickelt oder findet das Kind mit seinen
besonderen Interessen in der Jahrgangsklasse keine Gleichgesinnten?
• Was soll man tun, wenn jeweils beides gegeben ist?
Untersuchungen7 zum Lehrerurteil bei Hochbegabung zeigen, dass Pädagogen von einer
weitgehendenÜbereinstimmung manifester schulischer Leistungen mit dem zugrunde
liegenden
intellektuellen Potential ausgehen. Sie neigen also dazu, die Begabung schwieriger Schüler
falsch einzuschätzen. Sie tendieren auch dazu, ihr Urteil zu homogenisieren und können
deshalb innerhalb eines Begabungsprofils besondere Stärken und Schwächen nur schwer
identifizieren.
Nur eine psychologische Testdiagnostik mit modernen Verfahren erlaubt letztlich gesicherte
Aussagen über das Begabungspotential und Begabungsprofil von Schülerinnen und Schülern.
Ähnlich verhält es sich auch mit gesicherten Aussagen über primäre oder sekundäre
Verhaltensauffälligkeiten. Auch hier kann zur sicheren Abklärung auf eine Exploration,
Beobachtung und Diagnostik durch einen Psychologen nicht verzichtet werden.
4.
Schulpsychologische Beratungspraxis
Schulen ziehen nur in solchen Fällen das Überspringen einer Klasse in Betracht, wenn sich
die betreffenden Schülerinnen und Schüler in allen Bereichen auszeichnen. Geeignet
erscheinen vorwiegend kluge, anpassungsfähige, motivierte, sozial anerkannte und persönlich
reife Schülerinnen und Schüler. In solchen klaren Fällen gibt es keine Notwendigkeit, den
Schulpsychologische Dienst mit hinzuzuziehen. Andererseits muss aber nicht in jedem
unsicheren Fall der Schulpsycholgische Dienst beraten. Eine sechswöchige Probezeit in der
neuen Klasse hat sich vielfach bewährt und trägt einiges zur Sicherheit der Entscheidung bei.
Wenn alle Beteiligten einfühlsam mit dieser Situation umgehen und wenn das Springen
sowie eine Probezeit alltäglicher würden, wäre mit der Korrektur der Entscheidung zum
Springen kein besonderes Risiko verbunden.
Anfragen an den schulpsychologischen Dienst setzen eine besondere Problematik voraus und
lassen sich in der Mehrzahl nach drei Hauptanliegen gruppieren:
1. Die Eltern oder die Schule vermuten, dass die Schulprobleme eines Kindes im
Zusammenhang mit einer besonderen Begabung stehen. (Häufig haben die Eltern bereits
bei den Elternvereinigungen für die Förderung hochbegabter Kinder Informationen
eingeholt oder sind durch Presseartikel aufmerksam geworden.) Überspringen könnte eine
mögliche Maßnahme sein, aber die Beteiligten sind sich aus unterschiedlichen Gründen
nicht sicher.
Julia(7) besucht die erste Grundschulklasse. Der Lehrerin fällt auf, dass Julia bereits
fließend lesen kann und auch in allen anderen Fächern eine hervorragende
Auffassungsgabe besitzt. Aber Julia ist kein fröhliches Kind. Seit der Trennung der Eltern
hat sie sich sehr zurückgezogen. Sie gerät mit den anderen Mädchen oft in Streit und
sondert sich dann ab. Die meisten Konflikte hat sie mit Katharina, einem anderen
leistungsstarken Mädchen, dass Julias Annäherungsversuche an die anderen Mädchen
erfolgreich hintertreibt. Auch die Mütter von Julia und Katharina haben deswegen bereits
7
Rost, D.H. Hochbegabung. in: Rost, D.H. (Hrsg.). (1998). Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz
Streit bekommen. Zu Hause beklagt sich Julia oft, dass die Schule so langweilig sei und
dass sie vieles schon könne. In letzter Zeit klagt sie häufiger über Bauchschmerzen.
Sonja (8) ist der ganze Stolz ihrer Familie und besonders der Großmutter . Vor ihrer Ehe
war die Großmutter selbst als Mathematiklehrerin tätig. Nun hat sie endlich wieder eine
Aufgabe. Sie übt mit Sonja jeden Tag. Sonja hat für ihr Alter schon erstaunliche
Fertigkeiten entwickelt. Sie kann mit Brüchen und negativen Zahlen rechnen. Die
Großmutter ist davon überzeugt, dass Sonja besonders begabt sein muss und spielend eine
Klasse überspringen könnte. Die Klassenlehrerin ist da eher skeptisch und wünscht sich,
Sonja hätte mehr Zeit zum entspannten Spielen.
2. Das Überspringen ist zu einem Konfliktfall zwischen Eltern und Schule geworden.
Meistens haben die Eltern bereits ein psychologisches Gutachten anfertigen lassen.
Charlotte (9) soll auf Wunsch der Eltern von der Klasse 3 in die Klasse 5 des Gymnasiums
springen. Das Gutachten einer Psychologischen Praxis bescheinigt Charlotte im
Intelligenztest einen IQ von 134. Charlotte hat wegen eines Umzugs erst vor einem
halben Jahr die Grundschule gewechselt . Die Lehrerinnen halten Charlotte zwar für eine
gute Schülerin, können aber mit dem psychologischen Gutachten nur wenig anfangen. Sie
lehnen das Ansinnen der Eltern ab . Die Fronten haben sich bereits verhärtet und
gegenseitige Vorwürfe bestimmen die Gespräche.
3. Besonders schwierige Fälle erfordern eine stetige schulpsychologische Begleitung des
Kindes, der Eltern und der Lehrkräfte.
Florian (12) besucht die Klasse 6 des Gymnasiums. Er ist sowohl in der Schule als auch in
der Familie ein Außenseiter. Weder seine Eltern noch seine Geschwister haben einen
gymnasialen Bildungsabschluss. Solange er sich erinnern kann, hat er sich am liebsten
allein beschäftigt. Er möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Trotzdem oder
gerade deshalb wird er immer wieder das Opfer von Hänseleien und Angriffen seiner
Mitschüler. Florian überspringt schließlich auf eigenen Wunsch die Klasse 7, aber auch
hier machen ihm sein unangepasstes Äußeres und seine Unzugänglichkeit erneut
Probleme.
Paul (9) wurde frühzeitig eingeschult und hat in der Grundschule eine Klasse übersprungen.
Mit 8 Jahren in der Klasse 5 des Gymnasiums ist er mit Abstand der jüngste Schüler. In
der Grundschule brauchte Paul sich kaum anzustrengen. Jetzt fällt es ihm schwer,
lateinische Vokabeln zu lernen. Er fällt durch sein störendes und undiszipliniertes
Verhalten auf. Er verweigert die Aufgaben, wenn sie ihm unsinnig oder zu anstrengend
erscheinen. Er hat dieses langweilige Üben nicht nötig. Schließlich hat er schon zweimal
beim Wettbewerb “Jugend forscht” teilgenommen und stand als der jüngste Teilnehmer in
der Zeitung. Paul erreicht das Klassenziel der Klasse 5 nicht. Ein Schulwechsel bringt
keine durchgreifende Besserung. Laut Gutachten der kinderpsychiatrischen Ambulanz hat
Paul einen IQ von146. Es besteht außerdem der Verdacht auf eine AufmerksamkeitsDefizit-Störung.
In allen diesen Fällen ist eine psychologische Diagnostik sinnvoll, denn sie gibt Hinweise auf
geeignete Fördermaßnahmen und hilft, pädagogische Entscheidungen zu erleichtern. Zur
Diagnosestellung gehört auch die ausführliche Anamnese bestehend aus der Exploration der
kindlichen Entwicklungsschritte und der Einbeziehung des familiären, sozialen und
schulischen Umfeldes des Kindes. Im weiteren Verlauf ist es für eine gute Beratung wichtig,
dass die Resultate den Eltern und der Schule in verständlicher Form mitgeteilt werden. Zur
Aufgabe des Schulpsychologen zählt es auch, Ergebnisse, die die Erwartungen der
Beteiligten enttäuschen, in empathischer und konstruktiver Weise zu vermitteln.
Fehlt es an diesen Voraussetzungen haben wir es wie im Fall Charlotte schnell mit einem
eskalierenden Konflikt zu tun, der häufig nur durch eine professionelle Konfliktmoderation
zum Wohle des Kindes geschlichtet werden kann.
Im Fall Julia hat sich die Vermutung einer besonderen Begabung zwar bestätigt, aber auch
wenn Julia die Klasse 1 überspringt, muss über flankierende psychotherapeutische
Maßnahmen nachgedacht werden. Ihr sollte therapeutisch geholfen werden, die Trennung der
Eltern zu verarbeiten und ihre soziale Kompetenz sollte gefördert werden.
Bei Sonja ergibt die Intelligenztestung nur einen durchschnittlichen Wert. Besonders
auffällig ist die überaus ängstliche Gespanntheit des Kindes in der gesamtenTestsituation.
Eine Familienberatung unter Einbeziehung der Großmutter, in der Sonjas besondere
Stresssituation und die Hintergründe der familiären Erwartungshaltung zur Sprache kommen,
sollte sich anschließen.
Begegnet dem Schulpsychologen gleich ein ganzes Bündel von Problemen wie bei Florian
oder Paul, wird in der Regel eine schulpsychologische Begleitung von Kindern, Eltern und
Lehrern über einen längeren Zeitraum nötig sein. Es gilt das Vorgehen gemeinsam
abzustimmen, verschiedenste Maßnahmen auszuprobieren und den Prozess kontinuierlich
auszuwerten. Das Überspringen einer Klasse muss in solchen Fällen auf dem Hintergrund der
besonderen Problemlage dieses Kindes entsprechend sorgfältig geprüft werden.
5.
Der Fall “Philipp” - in einem anderen Licht!?
Die Lehrerin Frau S. hat sich gegen das Überspringen entschieden, weil sie Philipps soziale
Entwicklung kritisch beurteilt. Sie war nicht dafür sensibilisiert, dass es sich unter
Umständen auch um die Auswirkungen einer Unterforderung handeln könnte. Der Fall
Philipp lässt aber nach allem, was wir über hochbegabte Kinder wissen, durchaus eine andere
Lesart zu:
Philipp ist ein hochbegabter Schüler. Seine sozialen Integrationsschwierigkeiten werden
durch seinen leistungsmäßigen Sonderstatus ausgelöst und verstärkt. Philipps auffallende
Unruhe beruht auf seinem Wissensdrang und seiner Ungeduld bei Aufgaben, die ihn in
keinster Weise fordern. Die anderen Kinder spüren Philipps Sonderrolle und schließen ihn
bei ihren Spielen aus. Philipp bekommt nach den Gesprächen der Lehrerin mit den Eltern zu
Hause sehr viel Druck sich anzupassen. Dass er in der Schule etwas Interessantes und Neues
lernen könnte, diesen Glauben hat Philipp schon fast aufgegeben. Seine Kenntnisse und
Fähigkeiten scheinen dort nicht erwünscht zu sein. Philipp wäre stolz und glücklich, in die 2.
Klasse gehen zu können. Endlich würde sein Wissen honoriert und er könnte etwas lernen.
Mit älteren Kinder hat Philipp schon immer viel lieber zu tun gehabt. In der neuen Klasse
würde es ihm besser gehen.
Welche Entscheidung für Philipp die richtige ist, wissen wir so nicht. Wir müssen aber
Philipps Situation genau prüfen, um diese Version der Geschichte nicht zu übersehen!