Petra Steinheider (2002) Schulpsychologische Beratung beim Überspringen von Klassen 1. “Philipp” - ein alltäglicher Fall? 2. Hessische Rahmenbedingungen 2.1 2.2 3. Rechtliche Vorgaben in Hessen Überspringerquoten am Beispiel Kassel im Vergleich zu Niedersachsen Schwierigkeiten einer pädagogischen Entscheidung des Überspringens 3.1 3.2 4. Subjektive Theorien zum Überspringen Objektive Beurteilungsschwierigkeiten Schulpsychologische Beratungspraxis 5. Der Fall “Philipp” - in einem anderen Licht!? Schulpsychologische Beratung beim Überspringen von Klassen 1. “Philipp” - ein alltäglicher Fall? Für Philipp ist die Schule eine Enttäuschung. Dabei hat er sich doch so auf die Schule gefreut. Immer wieder hat er seinen älteren Bruder mit Fragen bombadiert: “Wie heißt der Buchstabe? Wie heißt das Wort? Wie rechnet man das?” Sein Bruder hat sich schließlich daran gewöhnt, dass Philipp ihm bei den Hausaufgaben oft über die Schulter schaut und dabei selber “Hausaufgaben” spielt. Wenn er erst in der Schule ist, wird seine Neugier endlich befriedigt werden, hofft Philipp. Doch es kommt anders. In der Schule wird von Philipp erwartet, dass er noch einmal von vorne beginnt. Keiner scheint zu beachten, dass er schon längst lesen kann, dass er sowohl in Druck- als auch in Schreibschrift Wörter schreiben kann und dass er bereits den Zahlenraum bis Hundert beherrscht. Eine Deutschstunde, in der die anderen Kinder gemeinsam das Lesen einfacher Wörter üben, zieht sich für Philipp unerträglich hin. Er kann dann nur mit Mühe ruhig auf seinem Stuhl sitzenbleiben. Zu Hause hat er auch Kummer. Seitdem der neue Stiefvater da ist, gibt es nur noch Streit. An solchen Tagen ist Philipp in der Schule besonders unleidlich und er will dann nichts mit den anderen Kindern zu tun haben. Aus der Sicht seiner Klassenlehrerin Frau S. fällt Philipp vom ersten Tag an durch sein unbeherrschtes, unausgeglichenes Verhalten auf. Er will im Spiel mit den anderen Kindern oft dominieren , verweigert im Unterricht immer wieder Aufgaben, die längere Ausdauer erfordern und entwickelt sich schon in kurzer Zeit zu einem Außenseiter. Nach mehreren, ausführlichen Gesprächen mit den Eltern beginnt sich Philipp in letzter Zeit zögernd in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Er stört nicht mehr so häufig den Unterricht und knüpft erste soziale Kontakte. Frau S. hat bei Philipp einen erheblichen Lernvorsprung beobachtet, gewichtet aber die soziale Entwicklung stärker als Philipps intellektuelle Unterforderung. Sie geht davon aus, dass dieser Lernvorsprung allmählich durch die Klasse eingeholt wird. Sie will ihm auf keinen Fall einen Gruppenwechsel zumuten, auch wenn Philipp in der 2. Klasse besser gefördert werden könnte. Der Fall “Philipp” scheint gelöst. Aber beruht die Entscheidung der Lehrerin, Philipp nicht überspringen zu lassen, auf gesicherten Annahmen? Hat die Förderung der sozialen Entwicklung in jedem Fall Vorrang vor dem Unterricht mit angemessenen kognitiven Anforderungen? Und wie lässt sich die Entscheidungssicherheit in einem solchen Fall erhöhen? Pädagogen können es beim Überspringen als Lösungsmöglichkeit für unterforderte Schülerinnen und Schüler durchaus mit schwierigen Fragen zu tun bekommen, für die sie die Hilfe psychologischer Fachleute in Anspruch nehmen sollten. 2. Hessische Rahmenbedingungen 2.1 Rechtliche Vorgaben in Hessen Das Hessische Schulrecht sieht die Möglichkeit des Überspringens einer Jahrgangsstufe ausdrücklich vor, wenn Schülerinnen und Schüler “dadurch in ihrer Lernentwicklung besser gefördert werden können. Die Entscheidung trifft die Klassenkonferenz auf Antrag oder mit Zustimmung der Eltern, bei volljährigen Schülerinnen und Schülern auf deren Antrag oder mit deren Zustimmung, nach eingehender Beratung. In besonderen Fällen kann auch die erste Jahrgangsstufe übersprungen werden.”1 Das Überspringen einer Jahrgangsstufe unterliegt in Hessen keinen Einschränkungen und ist jederzeit und in jeder Klasse möglich. 2.2 Überspringerquoten am Beispiel Kassel im Vergleich zu Niedersachsen Die umfangreichste und aktuellste Studie über das Überspringen von Klassen, durchgeführt im Bundesland Niedersachsen, liegt von A. Heinbokel (1996) vor. Ihr Fazit lautet: “Überspringen von Klassen war im Schulalltag eine große Ausnahme, es wurde sowohl von den betroffenen als auch von den nicht betroffenen LehrerInnen und Eltern als etwas ganz Besonderes, als eine ‘Jahrhundertereignis’ angesehen und dementsprechend behandelt.”2 Zwar ließ sich in Niedersachsen in den letzten Jahren ein leichter Anstieg der Überspringerzahlen feststellen, doch das änderte nichts am allgemeinen Trend. Die Daten für die Stadt Kassel sprechen eine ähnliche Sprache, obwohl der Aufwärtstrend auch hier anzuhalten scheint. Tab. 1: Vergleich der Springerquoten in Kassel mit den Daten der Erhebung von Heinbokel3 in Niedersachsen Anzahl der Schulen prozentualer Anteil der Schulen ohne SpringerInnen Springerzahl (absolut) Niedersachsen 1980-1990 (Heinbokel) Grundschule Gymnasium 1842 209 Stadt Kassel 1998-2000 Grundschule 24 Gymnasium 5 68,8% 60,7% 41,6% 40% 279 32 28 10 Diese niedrigen Akzelerationsraten legen die Vermutung nahe, dass sich nur in absolut sicheren Fällen Schulen entscheiden, Schülerinnen und Schüler eine Klasse überspringen zu lassen. Die bisherigen wissenschaftlichen Studien legen dagegen nahe, dass diese übertriebene Vorsicht nicht sein muss. “In keiner der Untersuchungen wurden Hinweise darauf gefunden, dass das Überspringen von Klassen generell negative-emotionale oder soziale Auswirkungen hat. Alle bisherigen Befunde deuteten in eine positive Richtung.”4 So sind beispielsweise in der Heinbokel-Studie fast alle Eltern mit dem Ergebnis des Springens zufrieden. Ihren Kinder ging es fast ausnahmslos in der neuen Klasse besser als vorher in der alten. In wenigen Fällen kam es nach Jahren zu schulischen Krisen, die aber von den Beteiligten nicht auf das Überspringen in früherer Zeit zurückgeführt wurden. Geht man davon aus, dass zumindest alle hochbegabten Schüler (2% der Gesamtschülerpopulation) potentielle Springerinnen und Springer sein könnten und vergleicht man diese Zahlen mit der realen Quote, wird das Ausmaß dieser Vorsicht überdeutlich. 1 Achilles, H. (1999). Hochbegabung und Schulrecht. Schulverwaltung 10/99 Heinbokel (1996). Überspringen von Klassen. Münster: LIT, S. 47 3 ebenda, S. 48 & S. 67,68 4 ebenda, S. 34 2 Tab. 2: Vergleich der Springerzahlen und ihres prozentualen Anteils in der Schülerpopulation mit der Anzahl der hochbegabten Schüler in Kassel von 1998-2000 1998-2000 Grundschule Sek.I Hochbegabte SchülerInnen in Kassel 460 Prozentualer Anteil SpringerInnen in Kassel Prozentualer Anteil 2% 28 0,1% 660 2% 10 0,03% Interessant sind auch die kontroversen Ansichten von Schulleiterinnen und Schulleitern in Kassel zu diesem Thema. Diese Bandbreite verspricht eine lebendige Diskussion und reicht von • entschiedener Ablehnung :“Das hat es bei uns in den letzten zehn Jahren nicht gegeben. Und der einzige Versuch davor ist schief gegangen.” • über den Versuch eines neuen Zugangs: “Wir schlagen jetzt mehr Schüler für diese Maßnahme vor und machen neue Erfahrungen.” • bis hin zur ausdrücklichen Befürwortung: “Eigentlich müsste es an unserer Schule genausoviel Überspringer wie Sitzenbleiber geben. Nur ist das Kollegium noch nicht davon zu überzeugen.” 3. Schwierigkeiten einer pädagogischen Entscheidung des Überspringens 3.1. Subjektive Theorien zum Überspringen Im deutschsprachigen Raum, anders als z.B. in Amerika, war die Förderung hochbegabter Schüler bis vor wenigen Jahren ein unbedeutendes Randthema. Entsprechend schwierig gestaltet sich für den normalen Pädagogen der Zugang zu theoretischen Abhandlungen, empirischen Studien und Veröffentlichungen zum Thema des Überspringens als Fördermaßnahme (Akzeleration). Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass A. Heinbokel in ihrer Studie bei vielen Pädagogen auf Annahmen trifft, die sich zur Hauptsache auf Alltagstheorien, vorgefasste Meinungen oder Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand stützen. Die Interviews mit Schulleiterinnen und Schulleitern legen geradezu einen umgekehrten Zusammenhang zwischen der Festigkeit der Ansichten einerseits und der Fundiertheit und des Umfangs der direkten Erfahrungen und Kenntnisse andererseits nahe. Die aufgezeichneten subjektiven Theorien bezüglich des Überspringens lassen sich auf bestimmte Kernsätze reduzieren, die auch im Fall “Philipp” Anwendung finden. Sie geben dem Pädagogen eine scheinbare Entscheidungssicherheit , tragen aber tatsächlich das hohe Risiko einer Fehlentscheidung in sich. Sämtliche Kernsätze verführen nämlich dazu, die Nachteile des Überspringens zu überschätzen und daher im Gegenzug die Nachteile des Nicht-Springens zu unterschätzen. Eine Folge dieser Praxis sind die überaus niedrigen Überspringerquoten an deutschen Schulen. Die wiederkehrenden Kernaussagen solcher subjektiven Theorien zum Überspringen lassen sich in vier Bereiche gliedern5: 5 Aussagen zitiert nach ebenda, S 36, 37 Aussagen über die kognitive Entwicklung von Überspringern • “Die Leistungen werden nach dem Springen schlechter, ein Lernknick ist selbstverständlich zu erwarten; das geht so weit, dass sie häufig eine Klasse wiederholen.” Aussagen über die soziale Entwicklung • “Die Kinder werden aus ihrer gewohnten Klassengemeinschaft herausgerissen; das schadet ihnen.” • “SpringerInnen mögen zwar intellektuell leistungsstark sein, haben aber menschliche Defizite.” • “Kinder, die das Leistungssoll ihres Jahrgangs erfüllt haben, sollten sich stattdessen dem sozialen Lernen widmen und ihre Hilfsbereitschaft, ihre Geduld und Rücksichtnahme üben. Das macht den Kindern Spaß.” Aussagen über die Eltern • “Eltern übertragen ihren eigenen Ehrgeiz auf die Kinder...” • “Eltern geben selbst erlebten Leistungsdruck an ihre Kinder weiter.” Bevorzugung von Zusatzangeboten (Enrichment) • “Das Überspringen einer Klasse ist - besonders in der Grundschule - aus pädagogischen und psychologischen Gründen zum Wohle des Kindes abzulehnen.” • “Attraktive Zusatzangebote innerhalb und außerhalb der Schule können die Unterforderung hinreichend ausgleichen.” 3.2 Objektive Beurteilungsschwierigkeiten Das Überspringen kann für bestimmte Schülerinnen und Schüler eine sinnvolle Fördermaßnahme sein, weil sie zur Verbesserung der Motivation und damit der Leistung beitragen kann. Die Forschungsliteratur belegt sogar dann heilsame Efffekte, wenn es auf Grund von andauernder Unterforderung bereits zu psychosomatischen und neurotischen Reaktionen gekommen ist. Die sozialen Probleme des Überspringens werden deshalb im allgemeinen überschätzt. Auf der Basis ihrer Befragungen und Daten formuliert Heinbokel insgesamt zwölf Punkte6, die es zu beachten gilt. Heinbokel betont die Bedeutung einer hohen allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit für den Erfolg des Überspringens und schließt Kinder mit einseitigen Begabungen als Zielgruppe aus. Sie empfiehlt den Pädagogen außerdem, eine sorgfältige Beobachtung und Analyse des kindlichen Verhaltens durchzuführen, um die primären sozialen und emotionalen Problemen von sekundären Auswirkungen der intellektuellen Unterforderungssituation besser unterscheiden zu können. Sie warnt davor, jegliche Verhaltensauffälligkeit ohne genaue Prüfung der sozialen und persönlichen Unreife des Kindes zuzuschreiben. Es gilt also für den Pädagogen in diesem Zusammenhang äußerst komplexe Frage zu klären: • Sind die schulischen Leistungen des Kindes Ergebnis besonderer Fleissarbeit und häuslicher Förderung oder sind sie Ergebnis hervorragender intellektueller Fähigkeiten? • Hat das Kind emotionale Persönlichkeitsdefizite oder ist es die permanente Unterforderungssituation, an der das Kind verzweifelt? 6 ebenda, S.219, 220 • Sind die sozialen Fähigkeiten des Kindes unterentwickelt oder findet das Kind mit seinen besonderen Interessen in der Jahrgangsklasse keine Gleichgesinnten? • Was soll man tun, wenn jeweils beides gegeben ist? Untersuchungen7 zum Lehrerurteil bei Hochbegabung zeigen, dass Pädagogen von einer weitgehendenÜbereinstimmung manifester schulischer Leistungen mit dem zugrunde liegenden intellektuellen Potential ausgehen. Sie neigen also dazu, die Begabung schwieriger Schüler falsch einzuschätzen. Sie tendieren auch dazu, ihr Urteil zu homogenisieren und können deshalb innerhalb eines Begabungsprofils besondere Stärken und Schwächen nur schwer identifizieren. Nur eine psychologische Testdiagnostik mit modernen Verfahren erlaubt letztlich gesicherte Aussagen über das Begabungspotential und Begabungsprofil von Schülerinnen und Schülern. Ähnlich verhält es sich auch mit gesicherten Aussagen über primäre oder sekundäre Verhaltensauffälligkeiten. Auch hier kann zur sicheren Abklärung auf eine Exploration, Beobachtung und Diagnostik durch einen Psychologen nicht verzichtet werden. 4. Schulpsychologische Beratungspraxis Schulen ziehen nur in solchen Fällen das Überspringen einer Klasse in Betracht, wenn sich die betreffenden Schülerinnen und Schüler in allen Bereichen auszeichnen. Geeignet erscheinen vorwiegend kluge, anpassungsfähige, motivierte, sozial anerkannte und persönlich reife Schülerinnen und Schüler. In solchen klaren Fällen gibt es keine Notwendigkeit, den Schulpsychologische Dienst mit hinzuzuziehen. Andererseits muss aber nicht in jedem unsicheren Fall der Schulpsycholgische Dienst beraten. Eine sechswöchige Probezeit in der neuen Klasse hat sich vielfach bewährt und trägt einiges zur Sicherheit der Entscheidung bei. Wenn alle Beteiligten einfühlsam mit dieser Situation umgehen und wenn das Springen sowie eine Probezeit alltäglicher würden, wäre mit der Korrektur der Entscheidung zum Springen kein besonderes Risiko verbunden. Anfragen an den schulpsychologischen Dienst setzen eine besondere Problematik voraus und lassen sich in der Mehrzahl nach drei Hauptanliegen gruppieren: 1. Die Eltern oder die Schule vermuten, dass die Schulprobleme eines Kindes im Zusammenhang mit einer besonderen Begabung stehen. (Häufig haben die Eltern bereits bei den Elternvereinigungen für die Förderung hochbegabter Kinder Informationen eingeholt oder sind durch Presseartikel aufmerksam geworden.) Überspringen könnte eine mögliche Maßnahme sein, aber die Beteiligten sind sich aus unterschiedlichen Gründen nicht sicher. Julia(7) besucht die erste Grundschulklasse. Der Lehrerin fällt auf, dass Julia bereits fließend lesen kann und auch in allen anderen Fächern eine hervorragende Auffassungsgabe besitzt. Aber Julia ist kein fröhliches Kind. Seit der Trennung der Eltern hat sie sich sehr zurückgezogen. Sie gerät mit den anderen Mädchen oft in Streit und sondert sich dann ab. Die meisten Konflikte hat sie mit Katharina, einem anderen leistungsstarken Mädchen, dass Julias Annäherungsversuche an die anderen Mädchen erfolgreich hintertreibt. Auch die Mütter von Julia und Katharina haben deswegen bereits 7 Rost, D.H. Hochbegabung. in: Rost, D.H. (Hrsg.). (1998). Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz Streit bekommen. Zu Hause beklagt sich Julia oft, dass die Schule so langweilig sei und dass sie vieles schon könne. In letzter Zeit klagt sie häufiger über Bauchschmerzen. Sonja (8) ist der ganze Stolz ihrer Familie und besonders der Großmutter . Vor ihrer Ehe war die Großmutter selbst als Mathematiklehrerin tätig. Nun hat sie endlich wieder eine Aufgabe. Sie übt mit Sonja jeden Tag. Sonja hat für ihr Alter schon erstaunliche Fertigkeiten entwickelt. Sie kann mit Brüchen und negativen Zahlen rechnen. Die Großmutter ist davon überzeugt, dass Sonja besonders begabt sein muss und spielend eine Klasse überspringen könnte. Die Klassenlehrerin ist da eher skeptisch und wünscht sich, Sonja hätte mehr Zeit zum entspannten Spielen. 2. Das Überspringen ist zu einem Konfliktfall zwischen Eltern und Schule geworden. Meistens haben die Eltern bereits ein psychologisches Gutachten anfertigen lassen. Charlotte (9) soll auf Wunsch der Eltern von der Klasse 3 in die Klasse 5 des Gymnasiums springen. Das Gutachten einer Psychologischen Praxis bescheinigt Charlotte im Intelligenztest einen IQ von 134. Charlotte hat wegen eines Umzugs erst vor einem halben Jahr die Grundschule gewechselt . Die Lehrerinnen halten Charlotte zwar für eine gute Schülerin, können aber mit dem psychologischen Gutachten nur wenig anfangen. Sie lehnen das Ansinnen der Eltern ab . Die Fronten haben sich bereits verhärtet und gegenseitige Vorwürfe bestimmen die Gespräche. 3. Besonders schwierige Fälle erfordern eine stetige schulpsychologische Begleitung des Kindes, der Eltern und der Lehrkräfte. Florian (12) besucht die Klasse 6 des Gymnasiums. Er ist sowohl in der Schule als auch in der Familie ein Außenseiter. Weder seine Eltern noch seine Geschwister haben einen gymnasialen Bildungsabschluss. Solange er sich erinnern kann, hat er sich am liebsten allein beschäftigt. Er möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Trotzdem oder gerade deshalb wird er immer wieder das Opfer von Hänseleien und Angriffen seiner Mitschüler. Florian überspringt schließlich auf eigenen Wunsch die Klasse 7, aber auch hier machen ihm sein unangepasstes Äußeres und seine Unzugänglichkeit erneut Probleme. Paul (9) wurde frühzeitig eingeschult und hat in der Grundschule eine Klasse übersprungen. Mit 8 Jahren in der Klasse 5 des Gymnasiums ist er mit Abstand der jüngste Schüler. In der Grundschule brauchte Paul sich kaum anzustrengen. Jetzt fällt es ihm schwer, lateinische Vokabeln zu lernen. Er fällt durch sein störendes und undiszipliniertes Verhalten auf. Er verweigert die Aufgaben, wenn sie ihm unsinnig oder zu anstrengend erscheinen. Er hat dieses langweilige Üben nicht nötig. Schließlich hat er schon zweimal beim Wettbewerb “Jugend forscht” teilgenommen und stand als der jüngste Teilnehmer in der Zeitung. Paul erreicht das Klassenziel der Klasse 5 nicht. Ein Schulwechsel bringt keine durchgreifende Besserung. Laut Gutachten der kinderpsychiatrischen Ambulanz hat Paul einen IQ von146. Es besteht außerdem der Verdacht auf eine AufmerksamkeitsDefizit-Störung. In allen diesen Fällen ist eine psychologische Diagnostik sinnvoll, denn sie gibt Hinweise auf geeignete Fördermaßnahmen und hilft, pädagogische Entscheidungen zu erleichtern. Zur Diagnosestellung gehört auch die ausführliche Anamnese bestehend aus der Exploration der kindlichen Entwicklungsschritte und der Einbeziehung des familiären, sozialen und schulischen Umfeldes des Kindes. Im weiteren Verlauf ist es für eine gute Beratung wichtig, dass die Resultate den Eltern und der Schule in verständlicher Form mitgeteilt werden. Zur Aufgabe des Schulpsychologen zählt es auch, Ergebnisse, die die Erwartungen der Beteiligten enttäuschen, in empathischer und konstruktiver Weise zu vermitteln. Fehlt es an diesen Voraussetzungen haben wir es wie im Fall Charlotte schnell mit einem eskalierenden Konflikt zu tun, der häufig nur durch eine professionelle Konfliktmoderation zum Wohle des Kindes geschlichtet werden kann. Im Fall Julia hat sich die Vermutung einer besonderen Begabung zwar bestätigt, aber auch wenn Julia die Klasse 1 überspringt, muss über flankierende psychotherapeutische Maßnahmen nachgedacht werden. Ihr sollte therapeutisch geholfen werden, die Trennung der Eltern zu verarbeiten und ihre soziale Kompetenz sollte gefördert werden. Bei Sonja ergibt die Intelligenztestung nur einen durchschnittlichen Wert. Besonders auffällig ist die überaus ängstliche Gespanntheit des Kindes in der gesamtenTestsituation. Eine Familienberatung unter Einbeziehung der Großmutter, in der Sonjas besondere Stresssituation und die Hintergründe der familiären Erwartungshaltung zur Sprache kommen, sollte sich anschließen. Begegnet dem Schulpsychologen gleich ein ganzes Bündel von Problemen wie bei Florian oder Paul, wird in der Regel eine schulpsychologische Begleitung von Kindern, Eltern und Lehrern über einen längeren Zeitraum nötig sein. Es gilt das Vorgehen gemeinsam abzustimmen, verschiedenste Maßnahmen auszuprobieren und den Prozess kontinuierlich auszuwerten. Das Überspringen einer Klasse muss in solchen Fällen auf dem Hintergrund der besonderen Problemlage dieses Kindes entsprechend sorgfältig geprüft werden. 5. Der Fall “Philipp” - in einem anderen Licht!? Die Lehrerin Frau S. hat sich gegen das Überspringen entschieden, weil sie Philipps soziale Entwicklung kritisch beurteilt. Sie war nicht dafür sensibilisiert, dass es sich unter Umständen auch um die Auswirkungen einer Unterforderung handeln könnte. Der Fall Philipp lässt aber nach allem, was wir über hochbegabte Kinder wissen, durchaus eine andere Lesart zu: Philipp ist ein hochbegabter Schüler. Seine sozialen Integrationsschwierigkeiten werden durch seinen leistungsmäßigen Sonderstatus ausgelöst und verstärkt. Philipps auffallende Unruhe beruht auf seinem Wissensdrang und seiner Ungeduld bei Aufgaben, die ihn in keinster Weise fordern. Die anderen Kinder spüren Philipps Sonderrolle und schließen ihn bei ihren Spielen aus. Philipp bekommt nach den Gesprächen der Lehrerin mit den Eltern zu Hause sehr viel Druck sich anzupassen. Dass er in der Schule etwas Interessantes und Neues lernen könnte, diesen Glauben hat Philipp schon fast aufgegeben. Seine Kenntnisse und Fähigkeiten scheinen dort nicht erwünscht zu sein. Philipp wäre stolz und glücklich, in die 2. Klasse gehen zu können. Endlich würde sein Wissen honoriert und er könnte etwas lernen. Mit älteren Kinder hat Philipp schon immer viel lieber zu tun gehabt. In der neuen Klasse würde es ihm besser gehen. Welche Entscheidung für Philipp die richtige ist, wissen wir so nicht. Wir müssen aber Philipps Situation genau prüfen, um diese Version der Geschichte nicht zu übersehen!
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