Bildung – Religion – Gesellschaft - Comenius

Henning Schluß
Bildung – Religion – Gesellschaft
Aktuelle Signaturen als (religions-)pädagogische Herausforderungen 1
Lieber Volker Elsenbast, liebe Kolleginnen und Kollegen, für den Vortrag zu Ihrer Verabschiedung als
Direktor des Comenius-Instituts, lieber Volker Elsenbast, habe ich in Abstimmung mit Peter Schreiner
einen Titel gewählt, der eher auf ein mehrtägiges Symposion, als auf einen 40minütigen Vortrag
schließen lässt. Schon die Beschäftigung mit jedem einzelnen dieser Begriffe füllt ganze Bücher und
Bibliotheken. Ihre Verhältnisbestimmung ist noch komplizierter. So schreibt Friedrich Schweitzer in
seinem aktuellen Bildungsbuch sehr treffend zur Thematisierung des Verhältnisses von Bildung und
Religion, dass seitens der Erziehungswissenschaft eine „theologische Kolonisierung entschieden
abgelehnt“ und seitens der Theologie eine „Pädagogisierung des Glaubens“ befürchtet würde. 2
Würden wir auf Facebook den Beziehungsstatus von Bildung, Religion und Gesellschaft eintragen
müssen, so wäre „es ist kompliziert“ noch eine harmlose Variante.
Ich will und kann mich deshalb hier nicht bemühen, diese Kompliziertheit angemessen zu umreißen
und schon gar nicht, sie in den Status prästabilierter Harmonie zurückzuführen. Vielmehr werde ich
den umgekehrten Weg gehen und einige sicherlich eklektisch anmutende, von mir jedoch aus
verschiedenen Gründen nicht für unwesentlich gehaltene Signaturen unserer Gegenwart auf ihre
Bedeutung für Bildung, Religion und Gesellschaft und insofern auch für das Comenius-Institut hin zu
befragen. Sie werden bemerken, dass Sie sich eigentlich zu allen Themenfeldern auch selbst geäußert
haben und ich deshalb wohl weithin auch Eulen nach Athen trage.
Im Blick sind dabei, 1. Demographische Veränderungen und die Folgen für evangelisches
Bildungshandeln. Das werde ich an zwei Beispielen exemplarisch aufzeigen und dabei auf Arbeiten
Marcus Götz-Guerlins zurückgreifen, die dieser im Rahmen der Bildungskommission der EKBO
zusammengestellt hat. 2. Will ich auf einige aktuelle Entwicklungen in Bildungspolitik und
Erziehungswissenschaft eingehen und erörtern, welche Folgerungen daraus in Bezug auf
evangelisches Bildungshandeln zu ziehen sind.
1. Demographische Veränderungen als Herausforderungen für
evangelisches Bildungshandeln
Sie alle kennen die demographischen Entwicklungen die sich in Deutschland abzeichnen. An die
sogenannte „Landflucht“ haben wir uns vielerorts schon seit Jahrzehnten und eigentlich seit dem
Beginn der Industrialisierung gewöhnt und konnten uns darauf einstellen. Die intensive
Landwirtschaft braucht weniger Arbeitskräfte, kleinere Höfe bringen weniger ein, sie im
Nebenerwerb zu führen, gelingt nur dann, wenn eine Haupteinnahmequelle in zumutbarer Nähe ist,
all das ist immer weniger gegeben. Auch dass in urbanen Umgebungen die Konfessionslosigkeit
1
Festvortrag zur Verabschiedung von Volker Elsenbast als Direktor des Comenius-Instituts am 3. Juli 2015 in
Münster.
2
Friedrich Schweitzer: Bildung. Neukirchen, 2014, S. 14.
1
höher ist als auf dem Land, ist nicht neu, sondern war schon ein Thema als Menschen wie Siegfried
Schulze3 noch seltene Ausnahmen waren, die die „soziale Frage“ als eine Frage verstanden, die auch
die Kirchen angehen musste. Dass die Kaiserin in Arbeiterquartieren große Kirchen bauen ließ,
vermochte diesen Trend nur sehr wenig entgegenzusetzen. Wenn wir Max Webers Enquete zur Lage
der Landarbeiter in den Ostelbischen Provinzen4 heute wieder lesen, können wir noch immer eine
Menge entdecken, das uns ziemlich bekannt vorkommt. Inklusive einiger Rezepte, wie man sich
gegen die Folgen der Globalisierung wappnen wollte, von Verhinderung von Arbeitsmigration
(insbesondere aus Osteuropa), bis hin zu Schutzzöllen auf ausländische Produkte. Neben dieser
allgemeinen Tendenz erleben wir seit 1989 jedoch insbesondere im Osten Deutschlands einen
spezifischen Wandel, der in diesem Ausmaß bislang unbekannt war. Dies hat insgesamt zu tun mit
einem weitgehenden Zusammenbruch der Großindustrie der DDR, die im vereinigten Deutschland
nicht wettbewerbsfähig war. Die Politik der Reprivatisierung, nicht selten durch Übereignung an die
Mitbewerber im Westen Deutschlands, die oft genug dankbar dafür war, die Konkurrenz so sang und
klanglos abwickeln zu können, ist intensiv untersucht worden.5 Zu DDR-Zeiten, durch subventionierte
Großindustrie aufgeblähte Kleinstädte schrumpften nun auf ihre ehemalige Einwohnergröße zurück.
Die Subventionierung der Landwirtschaft findet zwar immer noch statt, aber ist erheblich weniger
personalintensiv und somit wanderten insbesondere die geistig und physisch flexiblen, also oft die
jungen Menschen aus diesen Gegenden ab. Gleichzeitig entwickelte sich auch ein Mittelstand, der
Arbeit in den durchaus aufblühenden Bereichen der Wirtschaft, im Öffentlichen Dienst oder im
Westen der Republik gefunden hat und nun in den expandierenden suburbanen Siedlungen sich
Einfamilien- und Reihenhäuser baut. Die beste aber auch umstrittenste Studie zu dieser
Transformationsgesellschaft ist die Untersuchung von Heinz Bude und seinen MitarbeiterInnen in
Wittenberge.6 Dennoch scheinen diese Transformationsprozesse für das Bildungssystem wie für die
Kirche einigermaßen eingehegt zu sein. Man kann darauf im Wesentlichen durch Schrumpfung
angemessen reagieren. Nur selten wird dieser Umbruch genutzt, um tatsächlich neue Strukturen
oder inhaltliche Veränderungen umzusetzen. Immerhin, ein viergliedriges Schulsystem lässt sich
unter diesen Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten und wird zu einer Dreigliedrigkeit von
Gymnasium und Gesamtschule, Mittelschulen und Sonderschulen zusammengeschrumpft. Die
Teilung in zum Abitur führenden Schulen und solchen die das nicht tun, wird jedoch beibehalten, wie
auch die Sonderung von Schülerinnen mit speziellen Förderbedarfen in Sonderschulen. Hier und da
gibt es Ausnahmen, wie die Waldhofschule in Templin, die aus einer Sonderschule für schwerstMehrfachbehinderte entstanden ist und sich dann für Kinder ohne besonders attestierten
Förderbedarf und sogar für Hochbegabte öffnete und dafür den Deutschen Schulpreis erhielt.
Interessanter Weise machen solche Modellprojekte inklusiver Schule jedoch selbst kaum Schule,
obwohl sie doch gerade für den ländlichen Raum bei schwindender Bevölkerung eine Möglichkeit
3
Sachße, Ch. (2007): Friedrich Siegmund-Schultze, die „Soziale Arbeitsgemeinschaft“ und die bürgerliche
Sozialreform in Deutschland. In: Tenorth, H.-E.; Lindner, R.; Fechner, F.; Wietschorke, J. (Hrsg.): Friedrich
Siegmund-Schultze (1885-1969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer;
S. 35-49.
4
Max Weber: Gesamtausgabe. Band 1/03,1: (Herausgeber): Martin Riesebrodt: Die Lage der Landarbeiter im
ostelbischen Deutschland. Mohr und Siebeck, Tübingen, 1984.
5
Da die Literatur zum Thema höchst umfangreich und kontrovers ist, soll hier ausnahmsweise auf den einen
guten Überblick bietenden Wikipedia Artikel zur Treuhandanstalt verwiesen werden:
https://de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt (Nachgeschlagen am 03.07.2015)
6
Heinz Bude, Andreas Willisch , Thomas Medicus: ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten
einer fragmentierten Gesellschaft Gebundene Ausgabe, 2011.
2
sein könnten, Schülerzahlen zu stabilisieren. Dabei bestünde auch dahingehend Handlungsbedarf,
dass Deutschland in seiner Selbstverpflichtung zur inklusiven Gesellschaft auch im schulischen
Bereich noch hinterherhinkt. Ermutigen kann da die Untersuchung von Rainer Möller, Nicola Bücker
und Annebelle Pithan zu Deutungsmustern von Religionslehrer_innen, die an inklusiven Schulen
arbeiten und klar in der Lage sind, den Auftrag zur Inklusion vom christlichen Menschenbild her zu
verstehen.7
Wenn also die Inklusion von Behinderten in die Gesellschaft auch im ländlichen Raum eine immer
schon vorhandene Heterogenität sichtbarer machen würde, so haben wir uns doch angewöhnt, den
ländlichen Raum z.B. in Hinsicht auf ethnische Zugehörigkeit als sehr homogen zu betrachten.
Insbesondere in Ostdeutschland haben Rechtsradikale noch vor gar nicht langer Zeit von
sogenannten „national befreiten Zonen“ gesprochen. Ein Bild, das bis heute unsere Perspektive
bestimmt, aber längst nicht mehr überall noch eine Wirklichkeit abbildet. So ist in den Grenzregionen
zu polnischen Großstädten das Wohnen inzwischen in Deutschland viel billiger als dort, so dass nicht
wenige polnische Familien in brandenburgische Dörfer ziehen und hier auch ihre Kinder zur Schule
schicken. Plötzlich kommen gute Katholiken in größeren Zahlen in die religiös indifferente
Gesellschaft und die weithin religionslose Schule. Eine Herausforderung, vor der der evangelische
Religionsunterricht genauso steht, wie die Schule insgesamt, die mit Deutsch als Fremdsprache
bislang nur wenig Erfahrungen hatte. Aber auch in den grenzfernen Regionen lassen sich durch die
Zuweisung von Flüchtlingen gesellschaftliche Pluralisierungseffekte wahrnehmen, die so bis vor
kurzem noch niemand erwartet hätte. 8 Die Unterbringung von Flüchtlingen ruft mancherorts starke
gesellschaftliche Widerstände hervor, die in Brandanschlägen und Morddrohungen gipfeln.
Gleichwohl gibt es an vielen Orten ein ernsthaftes zivilgesellschaftliches Bemühen um eine
Willkommenskultur. Es sind auch Tendenzen bemerkbar, wie Flüchtlinge gesellschaftliche Gefüge
und auch die Bildungsstruktur, aber auch die religiöse Struktur von Kommunen verändern. Ich führe
ein Beispiel aus meinem Heimatort Oranienburg an. Manche von Ihnen wissen, dass wir uns seit ca.
10 Jahren bemüht haben, in Oranienburg im sogenannten Speckgürtel im Norden von Berlin eine
evangelische Schule zu gründen. Von der Stadt wurden wir in diesem Ansinnen durchaus unterstützt,
weil die Kommune an einer bunten Bildungslandschaft interessiert ist, Neuzuziehenden auch ein
konfessionelle Schule anbieten will und überhaupt die Zahl der Kinder stetig zunimmt, so dass man
ständig auf der Suche nach neuen Kita- und Schulplätzen ist. Zeitweise wollten wir die Schule sogar
als Doppelschule mit der Stadt bauen, die Sportanlagen und den Schulhof gemeinsam nutzen. Dazu
kam es dann aufgrund von Geldmangel bei der Stadt nicht und wir verlegten uns mit unserem
Schulprojekt auf eine ehemalige Kaserne in einem Ortsteil, dessen einzügige Schule ohnehin zu klein
war und wo eine evangelische Grundschule eine willkommene Entlastung bedeutet hätte. Als alles
nahezu unter Dach und Fach war, entschied das Land Brandenburg die Refinanzierung für
Grundschulen in freier Trägerschaft dramatisch zu kürzen. Unser Träger setzte den
Schulgründungsplan aus, weil so eine sozial gerechte Schule, mit bezahlbaren Elternbeiträgen nicht
mehr zu finanzieren sei, wenn die Lehrkräfte noch angemessen bezahlt werden sollen. Vor einem
7
Rainer Möller, Nicola Bücker, Annebelle Pithan: Inklusion und religiöse Bildung – Deutungsmuster von
Lehrkräften. Zwischenergebnisse aus dem Projekt „Religion in inklusiven Schulen“ (RiS) in: Schreiner, Peter /
Schweitzer, Friedrich (Hrsg.:) Religiöse Bildung erforschen, Münster 2015, S. 189-199.
Siehe auch: Elsenbast, Volker; Otte, Matthias; Pithan, Annebelle: Inklusive Bildung als evangelische
Verantwortung. Dokumentation einer Fachtagung vom 31. Januar bis 1. Februar 2013 in Hofgeismar. Hannover:
EKD [u.a.], 2013. epd-Dokumentation, 27/28.
8
EKD: Religiöse Orientierung gewinnen. Denkschrift des Rates, Gütersloh, 2015,
www.ekd.de/download/religioese_orientierung_gewinnen.pdf
3
Jahr nun eröffnete der Landkreis in dieser noch immer leerstehenden Kaserne eine
Flüchtlingsunterkunft für 260 Menschen. Der Ortsteil wird durch den Zuzug der Flüchtlinge bald
einen Supermarkt haben, für den die Einwohner schon lange vergeblich sich eingesetzt hatten. Der
beschauliche Villenvorort Oranienburgs wird aber auch lebendiger. Viele der Flüchtlinge kommen mit
schulpflichtigen Kindern. Die Kommune muss hier Lösungen anbieten und wir kamen wieder über die
damaligen Schulpläne ins Gespräch. Es zeigte sich, dass unser evangelischer Schulträger in Potsdam
auch Träger des Diakonischen Werkes ist, das dort die Flüchtlingsbetreuung federführend übernimmt
und auch auf Traumabetreuung spezialisiert ist. Schnell war das Konzept der Schulgründung in der
Kaserne wieder auf dem Tisch. Entweder muss die Kommune selbst bauen – sie ist aber mit einem
anderen Schulneubau derzeit bereits an der Belastungsgrenze – oder man belebt den Gedanken der
evangelischen Grundschule in der ehemaligen Kaserne neu, auch wenn das bedeuten würde, dass
fehlende Elternbeiträge von Flüchtlingen und die durch die Kürzung entstandene Deckungslücke von
der Kommune, dem Kreis oder anderen staatlichen Stellen übernommen werden müssten.
Vermutlich käme eine solche Lösung alle Beteiligten am billigsten, so dass durch die Flüchtlinge der
Plan einer Evangelischen Schule in Oranienburg neu Gestalt gewinnen könnte. Dies stellt aber auch
vor neue Herausforderungen, denn wenn die Evangelische Schule für die Flüchtlinge am Ort, die ja
meistens weder evangelisch, noch überhaupt nur christlich sind, sondern zumeist Muslime,
zuständige Einzugsgebietsschule ist, was macht das dann mit ihrem evangelischen Profil? Kann man
am evangelischen Profil festhalten, wenn ein Großteil der SchülerInnen muslimisch ist und nicht frei
gewählt diese Schule besucht, sondern aufgrund der Zuweisung im Einzugsgebiet? Wenn ja, wie ist es
dann zu interpretieren? Müssen alle SchülerInnen am Ev. Religionsunterricht teilnehmen? An den
Schulgottesdiensten? Oder sollte man von Schulgottesdiensten ganz Abstand nehmen und neben
dem Ev. und Katholischen RU auch islamischen Religionsunterricht und LER anbieten? Was macht die
Schule dann aber noch zu einer evangelischen Schule? Dies sind Fragen, die genau in der Schnittstelle
von Bildung, Religion und Gesellschaft auftauchen und die die Antworten noch zu finden sein
werden.
Mein zweiter Blick geht in ein urbanes Gebiet, nach Berlin Neukölln und ich profitiere hier von einem
Fall, den Marcus Götz-Guerlin für die Bildungskommission der EKBO recherchiert hat. 9 Die
evangelische Kita Nikodemus liegt in einem Kiez, den Sie alle deshalb kennen, weil die Rütlischule
gleich um die Ecke liegt. Auch in die Evangelische Kita gingen bis vor kurzem 90 % Kinder, die zu
Hause nicht Deutsch, sondern Türkisch sprachen. Die Hälfte der Eltern lebte von staatlichen
Transferleistungen. Manche Eltern wählten diese Kita, weil sie in der Nähe war, weil sie hier einen
Platz bekamen, aber auch weil man hier damit rechnete, der Religion des Anderen mit Achtung zu
begegnen und weil hier die Kinder deutsch lernten, damit sie es später in der Schule und im Leben in
Deutschland einmal leichter haben würden als ihre Eltern. Die Evangelische Kita hatte sich immer
schon für ihren Sozialraum engagiert. Sie ist Mitglied in der Initiative „1km2 Bildung“ in NeuköllnNord. Mit dem Kirchenkreis als engagierten Träger von 26 Kitas im Rücken ist auch Nikodemus ein
Faktor. Die Kinder besuchen andere Bildungseinrichtungen im Quartier und die Angebote der Kita
werden auch von anderen Bildungsinstitutionen genutzt. Gleichwohl stand immer die Frage, was
machen wir als evangelische Kita mit 90 % muslimischen Kindern? Die Situation war jedenfalls alles
andere als plural. Sie entspricht der sozialen Segmentierung unserer Großstädte. Die ja auch dafür
9
Marcus Götz-Guerlin: Bildung im Brennpunkt - Evangelische Kindertagesstätte Nikodemus. In: Bildung
Evangelisch, Berlin (derzeit in der Erarbeitungsfassung).
4
verantwortlich ist, dass die Einzugsgebietsschulen bei weitem nicht so sozial gemischt sind wie oft
behauptet wird, weil eben das Einzugsgebiet sozial relativ homogen ist.
Gerade dies ändert sich aber seit einiger Zeit in Neukölln Nord. Während anderswo in Berlin die
Gentrifizierung schon weitgehend abgeschlossen ist, wie im Prenzlauer Berg oder im Friedrichshain,
sie andernorts teils sehnsüchtig erwartet, teil befürchtet wird, aber nicht eintritt, wie in Lichtenberg
oder Wedding oder Teilen von Mitte, ist sie in Neukölln-Nord tatsächlich zu beobachten. Bezahlbarer
Wohnraum ist Mangelware. Junge aufstrebende Familien erobern den Kiez mit sanierten Häusern
und ausgebauten Dachgeschosswohnungen. Freilich ist man alternativ und unkonventionell, urban
und weltoffen, aber für die Kinder wünscht man doch eine wertorientierte Erziehung und vor allem
die bestmögliche frühkindliche Bildung. Wo könnte man die eher bekommen als in der evangelischen
Kita am Ort? Jetzt sind die ErzieherInnen tatsächlich mit Pluralität konfrontiert, denn die
Erwartungen dieser Elterngruppen sind höchst unterschiedlich. Geht es den einen darum, dass die
Kinder Deutsch lernen und ihre religiöse Identität respektiert wird, haben die anderen Eltern mit
Religion nur sehr wenig am Hut, haben aber sehr hohe Erwartungen an die Bildungsbemühungen der
Kita. Die Erzieherinnen haben plötzlich damit zu tun zu erläutern, „dass Bildung nicht in erster Linie
ein Wettbewerbsvorteil ist; nicht eine einforderbare Leistung des Kindes oder der Kita. Bildung
braucht zuerst Bindung, Geborgenheit und Vertrauen und – Zeit. Das Gras wächst nicht schneller,
wenn man daran zieht. Nicht alle Eltern wollen das immer glauben. Die meisten haben Bildung selber
anders erlebt und erfahren. Bildung ist vor allem Selbstbildung; ist selber Entdecken, Erfahrungen
machen und Erleben. Vorgefertigte Teile als Bastelarbeit zusammenfügen? Das gibt es hier nicht.
Auch wenn es Diskussionen mit Eltern bedeutet. Eine liebevoll aus zwei staubigen Stöcken, etwas
Pappe und einem rostigen Nagel selbstgefertigte Skulptur befriedigt nicht jedes elterliche ästhetische
Empfinden sofort.“10
Wie geht man in diesen Situationen mit religiöser Bildung um, in der evangelischen Kita, in der die
Kirchenmitglieder radikale Minderheit sind, die eigentlich aus einer nahezu homogenen
muslimischen Elternschaft bestand und in die nun immer mehr religiös bestenfalls neutrale aber
Wert- und bildungsinteressierte deutschsprachige Eltern mit ihren hohen Erwartungen an die
Bildungsleistung evangelischer Kitas kommen?
Die Antwort die in der Kita Nikodemus gegeben wird, würde ich mit dem Stichwort
„Religionssensibilität“ umschreiben. Sie feiern die christlichen Feste, besuchen Kirchen und
Moscheen. „Wir erzählen den Kindern unsere religiösen Geschichten. Und wir wissen und
respektieren, dass die Kinder andere haben“,11 sagt die Leiterin. „Andere Religionen in ihrer Vielfalt
präsent zu machen ist nicht möglich. Dazu fühlen sich die ErzieherInnen nicht in der Lage. Schon die
Geschichten und Glaubenstraditionen des Christentums sind komplex genug; sie Kindern näher zu
bringen auch eine persönliche Herausforderung für die Fachkräfte. Dass Elternabende und Kitafest
nicht während des Ramadan stattfinden ist aber selbstverständlich; das Minimum an Respekt und
Höflichkeit im multireligiösen Miteinander.“12
Die größte Herausforderung dieser Kita scheint zu sein, die Kinder vor den Bildungserwartungen oder
Bildungszumutungen der eigenen bildungsinteressierten Eltern zu schützen. Das Problem ist also
10
Zitiert nach Götz-Guerlin 2015.
Zitiert nach Götz-Guerlin 2015.
12
Ebd. Vgl. auch Elsenbast, Volker: Wissenschaftliche Untersuchungen zum interreligiösen Lernen im
Kindesalter In: Mein Gott - dein Gott / Stiftung Ravensburger Verlag. Weinheim; Basel, 2008. S. 137-141.
11
5
weniger, die Kita als Bildungsort zu etablieren, sondern die Kindheit der Kinder vor den
selbsternannten Tigermüttern13 zu retten. Wenn es denn überhaupt stimmt, dass die Kindheit im 18.
Jahrhundert entdeckt worden ist, und die Schule schon dem Begriff nach der Ort ist, der Muße bietet
und vor den Anforderungen des Arbeitslebens freistellt, so droht die Kindheit in der Gegenwart
schon im Kindergarten unter konkurrenzgesellschaftlichem Vorzeichen jeglicher Muße beraubt zu
werden. Wie kann hier eingesetzt werden? Wie können unterschiedliche Bildungsansprüche
gegeneinander abgewogen werden? Wie kann das Eigenrecht des Kindes gestärkt werden. Viel
haben wir darüber nachgedacht, wie die öffentliche Schule ihren Bildungsauftrag gegen Eltern
durchsetzt, die ihre Kinder nicht mit zum Schwimmen oder auf die Klassenfahrt lassen wollen. Aber
wie die Kita ihren Bildungsauftrag gegen Eltern behauptet, deren Bildungserwartungen die Kindheit
der Kinder opfern, darüber denken wir noch zu wenig nach. Dass beides in einer Kita aufeinander
trifft, ist keine generelle Signatur unserer Zeit, aber vielleicht bestehen die Signaturen unserer Zeit
eben auch gerade in diesen vielen unterschiedlichen Konstellationen, die sich noch dazu extrem
schnell wandeln können. Wenn wir Rütli hören, denken wir immer noch an den Kapitulationsbrief der
Lehrer_innen vor den marodierenden Schülern. Wenn man Rütli heute anschaut sehen wir einen
mustergültigen Bildungscampus mit sozialräumlicher Vernetzung im urbanen, pluralen und
lebendigen Teil Berlins. Unsere Vorurteile kommen mit dem Tempo des gesellschaftlichen Wandels
kaum mit, und auch unsere Bildungskonzepte.
Für die Kita scheint es mir nicht verkehrt zu sein, sich an den Erfinder des Kindergartens zu erinnern,
Friedrich Fröbel. Dass er seine Einrichtungen KinderGÄRTEN genannt hat, hatte durchaus einen tiefen
Sinn. Sie sollten umhegte Orte sein, in denen die Kinder spielerisch ihre Welt entdecken, dabei
angeregt werden, von Materialien, die ihnen zwanglos zur Verfügung gestellt werden, von der Natur,
die sie im geschützten Gelände des Gartens erkunden und erfahren konnten. 14 Dieser Begriff des
Kindergartens, der zu einem Exportschlager in alle Welt wurde, wird im Land seiner Erfindung
zugunsten der KITA vernachlässigt. Die Rationalisierung, die sich im Akronym KITA ausdrückt, könnte
zurückgedrängt werden zugunsten einer Wiederentdeckung der romantischen Struktur der Kindheit,
in der das freie Spiel, die Rollenspiele, das Eintauchen in Fantasiewelten einen höheren Stellenwert
haben als das Erlernen der dritten Fremdsprache, des Reitens, und auch des Instrumentenlernens.
Dass Kinder nicht nur ein Recht auf Religion, sondern vor allem auf Kindheit haben, das scheint mir
zunehmend zur zentralen Bildungsaufgabe evangelischer Kindergärten zu werden.
Die Empirisierung der Bildung - Der Umgang mit den Daten
Bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts forderte der psychoanalytische und marxistische
Pädagoge Siegfried Bernfeld eine Abkehr von der traditionellen, damals vor allem
geisteswissenschaftlichen Pädagogik, hin zu einer wirklichen Erziehungswissenschaft, die mit
mathematischen Mitteln um die Wirkungen ihres Tuns weiß und dann entsprechend das beste
Mittel, das bedeutet, das Mittel, das der möglichst großen Zahl nutzt, wählt.15 Auch wenn Bernfelds
Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ noch immer eine Liste der wichtigsten Bücher der
13
Chua, Amy: Battle Hymn of the Tiger Mother. Penguin Press, 2011.
Elsenbast, Volker: Qualität in der Arbeit mit Kindern. In: Handbuch Arbeit mit Kindern - evangelische
Perspektiven / Spenn, Matthias [Hrsg.][u.a.]. Gütersloh, 2007. S. 442-450.
15
Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Wien: Internationaler Psychoanalytischer
Verlag, 1925; Neudruck: Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, 10. Aufl. 2006.
14
6
Erziehungswissenschaft anführt, die Klaus-Peter Horn einmal per Umfrage erstellt hat,16 so ist doch
seine Forderung lange ungehört geblieben. Erst mit der von Georg Picht und Ralf Dahrendorf in den
1960er und 70er Jahren diagnostizierten „Bildungskatastrophe“ 17 gab es neben einer
Bildungsexpansion auch eine empirische Wende in der Erziehungswissenschaft. Diese Wende
geschah allerdings weniger auf Kosten der anderen Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft als
vielmehr im Rahmen einer generellen Expansion insbesondere im Bereich der Lehrer_innenbildung.
Nach PISA lässt sich nun eine neue Wende verzeichnen. Anders als in den 1970er Jahren des vorigen
Jahrhunderts geht diese aber nicht mehr einher, mit einer generellen Expansion des Bildungssystems,
sondern mit einem Umbau. Um ein Beispiel zu geben. Während die Zahl der Professuren in der
Erziehungswissenschaft leicht rückläufig war, wurden zwischen 2003 und 2010 allein 107 Professuren
für empirische Bildungsforschung ausgeschrieben.18 Die Begründung für diesen Umbau des
Bildungssystems liegt in der Forderung, die Siegfried Bernfeld vor hundert Jahren aufgestellt hat.
Man will nun endlich wissen was wirkt und das Bildungssystem entsprechend umbauen. Das
Zauberwort heißt „Evidenzbasierte Steuerung“. Und ist das nicht auch ein sehr überzeugendes
Konzept? Wenn die Gesellschaft erhebliche Mittel für den Bildungssektor ausgibt, hat sie dann nicht
auch das Recht, dass diese bestmöglich eingesetzt werden? Dass Sie nicht an sinnlosen Stellen
verpuffen, sondern in solche Programme investiert werden, die den größten Nutzen versprechen?
Die Notwendigkeit einer solchen zielgerichteten Investition ins Bildungswesen ist der Gesellschaft
und der Bildungspolitik schlagartig mit den Ergebnissen der ersten PISA-Untersuchung bewusst
geworden. Diese zeigte, dass das deutsche Bildungssystem, auf das wir uns viel einbildeten, lange
nicht so gut war, wie angenommen. PISA untersuchte drei Bereiche, Muttersprache, Englisch und
Naturwissenschaften. Man hatte sich noch vorgenommen, fachübergreifende Kompetenzen zu
untersuchen, aber dieses Ziel ist mittlerweile in Vergessenheit geraten, weil es nicht so einfach zu
erheben ist. Nebenbei wurde auch noch sichtbar, wie hoch selektiv das Bildungssystem in den
deutschsprachigen Ländern ist, dass es diejenigen bevorzugt, die von zu Hause aus ohnehin schon
beste Bildungschancen mitbringen und diejenigen zusätzlich benachteiligt, die zu Hause nicht mit
denjenigen Bildungsgütern in Kontakt kommen, die für erfolgreiche Abschlüsse im Bildungssystem
zählen.19
Konsequent ist insofern das Bemühen von John Hattie, die zentralen Einflussfaktoren von Lernen so
sichtbar zu machen, dass sie auf eine eindimensionale Skale eingetragen werden können und sehr
einfach Effektstärken jeder einzelnen Maßnahme bestimmt werden können.20 Man kann leicht
nachschauen, welche Maßnahme wie viel kostet und welchen Erfolg sie in Bezug auf das Lernen von
Sachverhalten haben wird. Mein Münsteraner Kollege Johannes Bellmann beschreibt diese Form der
16
Horn, Klaus-Peter / Ritzi, Christian: Bilanz in Büchern. Pädagogisch wichtige Bücher im 20. Jahrhundert.
Katalog zur Ausstellung. Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin 2000. Darin die Würdigung:
Ingrid Lohmann: Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Der geheime Zweifel der
Pädagogik, S. 51-63.
17
Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten/Freiburg im Breisgau, 1964.
18
Krüger, Heinz-Hermann/Kücker, Caroline/Weishaupt, Horst (2012): Personal. In: Thole, W. u.a. (Hrsg.):
Datenreport Erziehungswissenschaft. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 137-158. ; Krüger, HeinzHermann/Schnoor, Oliver/Weishaupt, Horst (2008): Personal. In: Tillmann, K. J. u.a. (Hrsg.): Datenreport
Erziehungswissenschaft. Opladen: Verlag Barbara Budrich. S. 87-112.
19
Maaz, K., Baumert, J. & Cortina, K. S. (2008). Soziale und regionale Ungleichheit im deutschen
Bildungssystem. In K. S. Cortina, J. Baumert, A. Leschinsky, K. U. Mayer & L. Trommer (Hrsg.), Das
Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland: Strukturen und Entwicklungen im Überblick (S. 205–243).
Reinbek: Rowohlt.
20
Hattie, John (2014): Lernen sichtbar machen. 2. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
7
evidenzbasierten Bildungssteuerung als „datengetriebene Bildungspolitik“.21 Bellmann kritisiert, dass
normative politische Kontroversen um Bildungsziele in den Hintergrund träten, weil diese
eindimensionale empirische Forschung der Bildungspolitik diese Ziele ungefragt frei Haus liefere.
Weshalb muss man über Bildungs- und Erziehungsziele noch streiten, wenn die Lerndefizite offen
zutage liegen?22 Ein Studium derer, die die besseren Erfolge bei diesen Kriterien haben erübrigt auch
gleich noch über die Wege Zur Erreichung dieser Ziele nachzudenken, sondern man müsse sich ja nur
Modelle der „best praxis“ imitieren, um ähnliche Erfolge vorweisen zu können. Bellmann erinnert
daran, dass die Bildungs- und Erziehungsaufgabe allerdings keineswegs so eindimensional sei, wie wir
augenblicklich zu meinen scheinen, sondern sieht traditionell mindestens drei konkurrierende Ziele
von Erziehung, die Gert Biesta als Spannungsfeld von Subjektivierung, Qualifikation und Sozialisation
beschreibt.23 Die datengetriebene Steuerung setze nur noch auf den Qualifikationsbereich. Nur durch
diese Beschränkung könne überhaupt eine solche eindimensionale Effektstärkenskala erreicht
werden. Immer wieder wurde aber in der Diskussion der letzten Jahre kritisiert, dass genau diese
Erhebung nur einer bestimmten Dimension des Bildungs- und Erziehungsauftrages durch die
normative Kraft des Faktischen zu einer Verkürzung dieses Auftrages führe, indem eben nur noch
diese Dimension im Blick der Bildungspolitik steht. Die Qualifikationsaufgabe würde damit implizit
zur einzig verbliebenen Aufgabe des Bildungssystems und vielleicht, so überlegt Bellmann, sei das die
eigentliche Leistung der empirischen Forschung, nicht sosehr Klarheit über bestimmte Daten
gebracht zu haben, sondern einen stillschweigenden aber deshalb umso wirkungsvolleren
normativen Wandel im Bildungsbereich herbeigeführt zu haben, der zu einer Verarmung der
Aufgabenbeschreibung von Bildung und Erziehung, aber auch zu einem Entzug der Diskussion von
Erziehungszielen aus der Arena des Politischen führt. Man muss Bellmann sicher nicht in allen seinen
Folgerungen zustimmen, wenn man ihm soweit folgt, dass hier eine empirische Wissenschaft
erhebliche normative Kraft gewinnt, deren sie sich selbst wohl nur zum Teil bewusst ist.
Was hat das aber mit unserm Thema zu tun, mit den Aufgaben des Comenius-Instituts, das in seiner
Ausstattung doch leider nicht ganz herankommt an die Mittel, die dem IQB in Berlin, dem IPN in Kiel
oder dem DIPF in Frankfurt am Main vorbehalten sind? Vor allem, weshalb sage ich das, der ich mich
doch an der Erhebung von empirischen Daten beteilige und somit ein Teil von jener Kraft bin, die
stets die Empirie will und stets die Normativität schafft?
Ich sage das, weil der Zug zur empirischen Forschung, sicher auf erheblich kleinerem Niveau, auch in
der Religionspädagogik und auch in das CI Einzug gehalten hat. Die Begründungen, die für eine
evangelische Bildungsberichterstattung sprechen, sind nicht weit entfernt von jenen, die für die
Nationale Bildungsberichterstattung sprechen. „Nach wie vor wird das Ziel verfolgt, in Anlehnung an
den Nationalen Bildungsbericht einen indikatorengestützten Überblick über Rahmenbedingungen
und Entwicklungen evangelischen Bildungshandelns in seinen unterschiedlichen Bereichen zu
erstellen“24 schreiben Nicola Bücker, Volker Elsenbast in ihrem Bericht zum Start der zweiten
Projektphase des evangelischen Bildungsberichts. Dass all dies im Bereich der Evangelischen Kirche
auf viel kleinerem Rahmen stattfindet als im Nationalen Kontext, vermag jedoch nicht automatisch zu
beruhigen, denn bei kleinerem Haushaltsvolumina sind Fehlsteuerungen möglicherweise sogar noch
21
Bellmann, Johannes (2015): Symptome der gleichzeitigen Politisierung und Entpolitisierung der
Erziehungswissenschaft im Kontext datengetriebener Steuerung. In: Erziehungswissenschaft. 1/2015, S. 43-54.
22
Ebd.
23
Biesta, Gert (2014): The Beautiful Risk of Education. Boulder/London: Paradigm Publishers, S. 128.
24
Nicola Bücker, Volker Elsenbast: Evangelische Bildungsberichterstattung (EBiB) - Start der zweiten
Projektphase. In CI-Information 2/2014, S. 5.
8
relevanter als im nationalen Maßstab. Allerdings scheint der Zusammenhang zu konkreten
Handlungsfolgen aus dem Bildungsbericht bei weitem nicht so eng zu sein, wie bei den von PISA
erhobenen Schüler_innenleistungen. Wenn der Bildungsbericht zeigen sollte, dass die Dichte von ev.
Kindergärten in einem bestimmten Bereich noch nicht so hoch ist wie andernorts, wird sicher
niemand auf die Idee kommen, die Kita in Hannover zu schließen und nach Delmenhorst umziehen zu
lassen (ein Fantasiebeispiel).
An einem anderen Beispiel zeigt sich, dass es doch schon erheblich relevanter ist, was wir für Daten
erheben. Ich habe jüngst mich noch einmal durch verschiedene Studien zu evangelischen Schulen
gelesen, weil weithin Übereinstimmung darin besteht, dass das Gerechtigkeitsproblem schon von
Luthers epochaler Ratsherrenschrift 1524 her und damit vom Anfang evangelischen Bildungsdenkens
an, ein zentrales Problem evangelischer Bildungsverantwortung ist25 und ich wissen wollte, wie
evangelische Schulen auf dies Gerechtigkeitsproblem im Bildungswesen der deutschsprachigen
Länder reagieren, auf das uns PISA so eindringlich hingewiesen hat und das seit dem alle Studien
immer wieder bestätigt haben. Wie kann der enge Zusammenhang von sozialer Herkunft und
erfolgreichen Abschlüssen im Bildungssystem aufgebrochen werden? Spannender Weise findet sich
in den durchaus zahlreichen Studien zu evangelischen Schulen zu dieser Frage sehr wenig.26 Und was
sich findet, ist noch dazu problematisch interpretiert. So feiert man als Erfolg, wenn dieser
Zusammenhang etwas geringer ist, als an Vergleichsschulen in staatlicher Trägerschaft. Ich will
diesen Erfolg nicht kleinreden, er mag anzeigen, dass man sich innerhalb der evangelischen Schulen
sehr wohl der Gerechtigkeitsproblematik bewusst ist, damit kann man auch Vorbehalte widerlegen,
als seien evangelische Schulen per se elitäre Veranstaltungen die sich als Privatschulen aus dem
öffentlichen Schulwesen ausklammern. Dies ist weithin glücklicherweise in Deutschland nicht so, in
Österreich ist das Privatschulverständnis evangelischer Schulen dagegen ausgeprägter.27 Allerdings
kann diese minimale Tendenz, die sich noch dazu an einer sehr dünnen Datenlage die auch nicht im
Ansatz repräsentativ ist, zeigt, auch nicht schönreden, denn die Ungleichheit wird im Schulwesen der
deutschsprachigen Länder durch die vertikale Gliederung erzeugt. Vor allem ist dies die Gliederung in
Gymnasien und den Rest, die in Deutschland so stabil ist, dass sie sogar die Versuche der Amerikaner
nach dem Krieg überstanden hat, dieses Kastenschulsystem zugunsten einer Einheitsschule
abzuschaffen und in der SBZ, wo dies realisiert wurde, es eine der ersten bildungspolitischen
Maßnahmen in allen neuen Bundesländern war, das altehrwürdige Gymnasium wieder einzuführen,
(wenn man auch die Teilung in Haupt und Oberschule in vielen Ländern nicht mehr wiederbelebte).
In einer Studie für die GEW beschriebt es der Bildungsökonom Weiß so: „Die Trägerschaft der Schule
hat einen moderaten zusätzlichen Selektionseffekt. Die von unserem gegliederten Schulsystem
25
Dietlind Fischer, Volker Elsenbast (Hrsg.). - Münster [u.a.] : Waxmann, 2007.
Scheunpflug, Annette: Evangelische Schulen und religiöse Bildung. In: Schreiner, Peter / Schweitzer, Friedrich
(Hg.): Religiöse Bildung erforschen – Empirische Befunde und Perspektiven. Waxmann, Münster et al. 2014, S.
177-188; Standfest, Claudia / Köller, Olaf / Scheunpflug, Annette: Weiß, Manfred: Profil und Erträge von
evangelischen und katholischen Schulen. Befunde aus Sekundäranalysen von PISA-Daten. In Zeitschrift für
Erziehungswissenschaft 7 H. 3, S. 359-379, 2004 ; Vgl. Gramzow, Christoph (2014): Motive von Eltern, ihre
Kinder an einer evangelischen Schule lernen zu lassen. Vergleich von Untersuchungsergebnissen aus Sachsen,
Bayern und Stuttgart. www.evangelische-schulen-indeutschland.de/images/Elternmotive_im_Schulvergleich.pdf
27
Schelander, Robert (2012): Warum schicken Eltern ihre Kinder auf eine evangelische Schule? Erhebung von
Elternmotivation für die Schulwahl. In: SchR 31, S. 179-211.; Schluß, Henning: Bildungsgerechtigkeit und
Öffentlichkeit. Perspektiven. In: Schiefermair Karl / Krobath, Thomas (Hg.): Leben. Lernen. Glauben. Evangelischer Bildungsbericht 2015. Evangelischer Presseverband in Österreich. Wien, 2015, S. 46-51.
26
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ausgehenden Segregationswirkungen werden dadurch verstärkt.“28 Ob nun, wie in den zitierten
evangelischen Studien, eine leichte Tendenz zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu sehen ist, oder wie
Weiß meint, eine leichte Tendenz zu mehr Bildungsungerechtigkeit durch evangelische Schulen, der
erschreckende Fakt bleibt bestehen, sie sind kein Beitrag dazu, die das gesamte System der
Bildungsungerechtigkeit in Deutschland abzubauen, sondern sie sind lediglich nicht viel besser oder
schlechter, als das insgesamt ungerechte System.
An diesem Beispiel zeigt sich, wir haben zwar eine Menge Zahlen über evangelische Schulen, aber die
Daten die für die Frage der Bildungsgerechtigkeit relevant wären – und das scheint mir keine
unwesentliche Frage zu sein – die haben wir kaum und wenn wir sie haben, dann interpretieren wir
sie auf eine problematische Weise, indem wir nämlich ein System als Vergleichsmaßstab wählen, das
selbst als eines sichtbar ist, dass häusliche Ungleichheiten nicht nur nicht abbaut, sondern sogar noch
verstärkt.29
Hier ist deutlich, wie man auch evangelischerseits mit Zahlen Politik machen, oder eben nicht Politik
machen kann. Die Aufgabe des CI könnte darin bestehen, solche Zahlen zur Verfügung zu stellen, die
auf solche Defizite evangelischer Bildung im Verhältnis zur eigenen Programmatik hinweisen.
Ein letztes Beispiel sei mir noch gestattet. Wohl kaum ein Bereich ist bildungspolitisch und
bildungswissenschaftlich so stark diskutiert worden, wie die Kompetenz- und Standardorientierung.
Auch hier geht es ums Messen. Konkret sollen outputorientierte Bildungsstandards so beschrieben
werden, dass sie den Kernbereich eines Faches so darstellen, dass er empirisch erhoben und
bewertet werden kann.30 Diese Anforderung wurde sehr bald auch für den Religionsunterricht
diskutiert31 und erste Modelle versuchten diese Anforderung umzusetzen. Deutlich ist, dass hier die
Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine Reduktion auf den Qualifikationsanteil des
Bildungs- und Erziehungsauftrages besteht. Das Comenius-Institut hat in dieser in der
Religionspädagogik durchaus sehr heftig geführten Diskussion, die übrigens bis heute anhält und
noch immer für negative Gutachten und abschlägige Förderbescheide verantwortlich ist, mit einer
bemerkenswerten Strategie reagiert, die in dieser Art einmalig ist. Während sonst die Gegner und
Befürworter standardbasierter Steuerung des Bildungssystems klar verschiedenen Lagern
zuzurechnen sind, hat das Comenius-Institut im Austausch mit anderen Gruppen ein eigenes
Kompetenzmodell entwickelt. Gemeinsam mit Dietlind Fischer hat Volker Elsenbast dieses in einer
breit rezipierten Publikation 2006 vorgestellt.32 Gemeinsam mit Dietlind Fischer hat er im Jahr darauf
aber auch die Debatte um dieses Konzept im Besonderen aber auch um das Anliegen der
Kompetenzmessung im Religionsunterricht im Allgemeinen ebenfalls publiziert und maßgebliche
Diskutanten eingeladen, an dieser Publikation mitzuwirken.33 Entstanden ist so ein Modell, wie einer
datengetriebenen Steuerung zu entgehen ist, wie evidenzbasierte Bildungspolitik da eingesetzt
28
Weiß, Manfred: Allgemeinbildende Privatschulen in Deutschland Bereicherung oder Gefährdung des
öffentlichen Schulwesens? Berlin, 2011 S. 8.
29
Maaz/Cortina et al. 2008.
30
Klieme, E. u.a. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Hrsg. vom BMBF, Bonn.
31
Henning Schluß: Kompetenzorientierung im Religionsunterricht - Herausforderungen eines
religionspädagogischen Paradoxons. In: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 10, 2011, H.2, 172-179.
32
Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Red.). Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung: zur Entwicklung des
evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I / Münster :
Comenius-Institut, 2006.
33
Volker Elsenbast / Dietlind Fischer (Hg.): Stellungnahmen und Kommentare zu "Grundlegende Kompetenzen
religiöser Bildung". Münster, Comenius-Institut, 2007.
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werden kann, wo sie sinnvoll ist, aber wo normative Entscheidungen nicht durch empirische
Erhebungen vorweggenommen oder ersetzt werden, sondern wo empirische Konzepte zum Anlass
theologischer und pädagogischer Diskussionen werden.
Somit wünsche ich Volker Elsenbast für seine neue Tätigkeit, aber auch dem Comenius Institut ohne
Volker Elsenbast, dass sie dieses diskursive Konzept beibehalten und weiterentwickeln. Dass der
Diskurs über das, was evangelische Pädagogik und Erziehungswissenschaft sein soll, nicht dem der
Normativität des Faktischen folgt, nicht automatisch, dem was andere tun und was sie vermeintlich
erfolgreich macht, ohne genau zu wissen, was eigentlich für den Erfolg der Erfolgreichen
verantwortlich ist und vor allem ohne darüber zu streiten oder einig darin zu sein, was denn
eigentlich Erfolge von Pädagogik im evangelischen Verständnis sind.
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