INHALT Veröffentlichung des Landesamtes für Denkmal pflege und Archäologie Sachsen-Anhalt Richard-Wagner-Straße 9, 06114 Halle (Saale) [email protected] www.lda-lsa.de Herausgeberin Elisabeth Rüber-Schütte Schriftleitung Walter Bettauer, Holger Brülls, Elisabeth Rüber-Schütte Redaktion Dirk Höhne Erscheinungsweise zweimal jährlich Titelbild Halle (Saale), Moritzkirche, Blick von Westen zum Hochaltar, 2013 (Foto: Reinhard Ulbrich, LDA) ISSN 0949-3506 bauforschung und dokumentation 5 Bauhistorische Forschungen und Ausgrabungen im Eisleber Augustinereremitenkloster (Lkr. MansfeldSüdharz) in den Jahren 2007 bis 2014 › Ulf Petzschmann, Reinhard Schmitt 23 Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte der Stadtkirche St. Sixtus in Ermsleben Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte Design Marion Burbulla, Berlin Reproduktion und Satz Michael Imhof Verlag Druck Druckerei Rindt GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten. Bestellungen für Abonnements und Einzelhefte sind ebenso wie Bestellungen für Probehefte zu richten an: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG Stettiner Straße 25, 36100 Petersberg [email protected] www.imhof-verlag.com Bei Nachdruck sind Quellenangabe und die Überlassung von zwei Belegstücken erforderlich. Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren selbst verantwortlich. Manuskripte sind an das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie einzureichen. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. 52 NS-Baracken – unbequeme und vergessene Artefakte deutscher Vergangenheit Ergebnisse einer Provenienzforschung zum KZ-Außenlager Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt › Andreas Stahl › Reinhard Schmitt 79 Hergisdorf – St. Ägidius 34 Die Hofanlage »Am Sauren Holz 6« in Schermcke › Benjamin Rudolph © by Landesamt für Denkmalpflege und denkmalkunde und restaurierung 42 Dokumentationen vor Abbruch Handhabung und Anforderungen im Land Sachsen-Anhalt › Benjamin Rudolph Ein Verein reaktiviert vergessene Dorfkirche im Mansfelder Land › Mathias Köhler 89 Wandelbar. Der Hochaltar der ehemaligen Augustiner-Chorherrenstiftskirche St. Moritz in Halle (Saale) › Mathias Köhler nachrichten/personalia 102 Neuerscheinungen anhang 104 Autoren BAUHISTORISCHE FORSCHUNGEN UND AUSGRABUNGEN IM AUGUSTINEREREMITENKLOSTER – U. PETZSCHMANN, R. SCHMITT BAUHISTORISCHE FORSCHUNGEN UND AUSGRABUNGEN IM EISLEBER AUGUSTINER EREMITENKLOSTER (LKR. MANSFELD-SÜDHARZ) IN DEN JAHREN 2007 BIS 2014 › Ulf Petzschmann, Reinhard Schmitt Graf Albrecht von Mansfeld gründete ab etwa 1511 die Eisleber Neustadt und zu Beginn des Jahres 1513 dort auch eine Pfarrkirche.1 Die Bauarbeiten setzten unmittelbar danach ein (oder waren vielleicht sogar schon kurz zuvor begonnen worden). Im Jahre 1514 war der Chor wohl weitgehend fertiggestellt. Dafür sprechen insbesondere die mit 1514 datierten und bemalten Glasfenster, die heute in der südlichen Langhauswand angebracht sind. Die Weihe fand aber erst knapp zwei Jahre später statt. Am 16. Juli 1515 haben die Mansfelder Grafen Albrecht, Gebhardt und Günther außerdem »diese neue Kirche dem Orden der Eremiten S. Augustini übergeben und incorporirt«.2 Am 13. Januar 1516 wurde endlich der Chor durch Erzbischof Albrecht im Beisein Graf Albrechts eingeweiht. Die Weihe des neuen Klosters scheint schließlich im Mai 1516 vorgenommen worden zu sein (Abb. 1). Anlässlich einer Fronleichnamsprozession ist die Anwesenheit Martin Luthers als Distriktsvikar bezeugt. Wie weit der Ausbau des Klosters damals tatsächlich vollendet war, wird freilich offen bleiben müssen. Die jüngsten baugeschichtlichen Ergebnisse passen jedoch sehr gut dazu. Soweit die kurze Einleitung der geschichtlichen Ereignisse aus einer Veröffentlichung in dieser Zeitschrift im Jahre 2013.3 BAUGESCHICHTLICHE UNTERSUCHUNGEN (Reinhard Schmitt) Der Werdegang der baugeschichtlichen, gefügekundlichen, dendrochronologischen und restauratorischen Untersuchungen seit 2007 muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden.4 Außerordentlich wichtig waren die Ergebnisse der Dendrochronologie, die ein Aufschlagen des Dachstuhles im Frühjahr 1516 wahrscheinlich machen. Das bedeutet, dass die Baumstämme, aus denen die Dachbalken gefertigt wurden, zumeist im Winter 1515/16, wenige davor, gefällt und nach allen Erfahrungen dann bereits im Frühjahr 1516 bearbeitet und in die Dachkonstruktion eingepasst worden sind. Da das Kloster im Juli 1515 gegründet worden ist, wird man bis dahin mit dem Aufbau der zwei Stockwerke hohen Außenmauern beschäftigt gewesen sein. Die Bauzeit erstreckte sich demnach vom Sommer 1515 bis zum Frühjahr/Sommer 1516. Das Gebäude bestand ursprünglich aus Erd-, Ober- und Dachgeschoss. Das Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt ABB. 1 Lutherstadt Eisleben, St. Annenkloster mit Klausurflügel und Kirche. Blick von Südosten (2012) 5 N E U E E R K E N N T N I S S E Z U R B A U G E S C H I C H T E D E R S TA D T K I R C H E I N E R M S L E B E N – REINHARD SCHMITT NEUE ERKENNTNISSE ZUR BAUGESCHICHTE DER STADTKIRCHE ST. SIXTUS IN ERMSLEBEN › Reinhard Schmitt Während der Baumaßnahmen zwischen 1998 und 2010 und in Vorbereitung auf eine Veröffentlichung zur Baugeschichte der Stadtkirche wurden vom Verfasser umfangreiche bauhistorische und archivalische Forschungen vorgenommen (Abb. 1).1 Zur Datierung der ältesten Bauphasen konnten 2005 und 2006 Proben eines hölzernen Mauerankers in der Westwand des südlichen Turmarmes (Querschiffarmes) dendrochronologisch untersucht sowie einmal C14-datiert werden (Abb. 2). Die damaligen Ergebnisse seien hier noch einmal zusammengefasst: Fälldatum und demzufolge Einbaudatum des Eichenbalkens zwischen 1161 und 1178 wahrscheinlich macht. Im Folgenden soll dies auf »um 1170« konzentriert werden. Parallel zu dem Versuch, das Holz dendrochronologisch zu datieren, wurde eine Probe an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg geschickt, um eine sogenannte C14-Datierung vornehmen zu können. Das Ergebnis der Analyse war ABB. 1 (linke Seite) Ermsleben, Stadtkirche St. Sixtus, Blick von Südosten (2002) DENDROCHRONOLOGIE UND C14-DATIERUNGEN Ankerbalken in der Westwand des südlichen Turmanbaues Zwei miteinander verbundene Ankerbalken zwischen dieser Wand und der westlich anstoßenden, älteren südlichen Kirchenwand: Eine erste dendrochronologische Untersuchung (30. Juni 2006) erbrachte ein Fälldatum des Eichenbalkens von »1142 + 10 + 16 + 10/-7«, also 1168 +10/-7.2 Nach dem unabhängig und nahezu gleichzeitig erstellten Gutachten des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin vom 27. April 2007 ergibt sich ein Fälldatum des Eichenbalkens von »um/nach« 1166.3 Das bedeutet, dass die dendrochronologische Datierung ein ABB. 2 Südlicher Querarm, Blick von Südosten (2010) Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 23 bauforschung und dokumentation DIE HOFANL AGE »AM S AU R E N H O L Z 6« I N S C H E R M C K E BENJAMIN RUDOLPH 4 58 5 8 7 6 6 7 Am Sauren Holz tersuchung (Abb. 2–4).1 Dass das Ende des Hauses, ja der ganzen Hofstelle, auf den Tag genau fünf Wochen später bevorstand, war zum Zeitpunkt der Arbeiten nicht vorauszuahnen. Nach dem Abgang von Teilen des Dachwerks attestierte die Bauaufsicht des Bördekreises dem Wohnhaus eine unzureichende Standsicherheit, mit dem Ergebnis der vollständigen Niederlegung am 22. Dezember 2014.2 Mit dem Abbruch nicht nur des Haupthauses, sondern auch des anstoßenden geschädigten Scheunen/Stallgebäudes und des bis dahin intakten Torhauses ging die gesamte Hofanlage verloren. – 6 9 10 5 Sank ABB. 2 4 Hofanlage, Lageplan ße nus-Stra t-Stepha 3 9 1 0 2 50 m ABB. 3 11 Wohnhaus, Bauaufnahme, Grundrisse Keller- (I), Erd- (II), Ober(III) und Dachgeschoss (IV) (2015) 11 A A 0.1 -1.3 0.9 0.3 0.4 0.6 0.5 0.2 -1.1 -1.2 0.7 0.8 A A DIE HOFANLAGE »AM SAUREN HOLZ 6« I II A IN SCHERMCKE A VIIII 1.1 P1 › Benjamin Rudolph 1.2 VIII VII P3 P2 Rauchfang 1.6 EINFÜHRUNG ABB. 1 Schermcke, »Am Sauren Holz 6«. Wohnhaus, Ansicht von Süden (2014) 34 Erhebliche bauliche Mängel und Schäden sowie geringe Aussichten, diesen abzuhelfen, gaben Mitte November 2014 den Anlass, das Wohnhaus der denkmalgeschützten Hofanlage »Am Sauren Holz 6« in Schermcke (OT von Oschersleben, Bördekreis) zu dokumentieren (Abb. 1). Die Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt – Nr. 2 | 15 durch das Sachgebiet Bauforschung des LDA durchgeführte Dokumentation umfasste eine vereinfachte Bauaufnahme im Maßstab 1:100 (Genauigkeitsstufe I, Grundrisse Keller, Erd-, Ober- und Dachgeschoss, Querschnitt), die fotografische Erfassung der baulichen Hülle und der Ausstattungselemente sowie die Entnahme von Bohrkernen für eine dendrochronologische Un- 1.4 1.3 P4 P5 1.5 A III A IV Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 0 35 5m bauforschung und dokumentation D O K U M E N TAT I O N E N V O R A B B R U C H – BENJAMIN RUDOLPH nigen Jahren oblag die Festlegung von Dokumentationsanforderungen den jeweiligen Gebietsreferenten der Praktischen Denkmalpflege, teilweise in Rücksprache mit dem Sachgebiet Bauforschung. Seit 2011 ist das Verfahren ausschließlich im Sachgebiet Bauforschung angesiedelt; dies soll einerseits einheitliche und damit vergleichbare Dokumentationsstandards gewährleisten, andererseits sind durch das Führen einer Abbruchliste auch erstmals verbindliche Aussagen über die tatsächliche Zahl von Abbrüchen pro Jahr und über besonders betroffene Baugattungen möglich. Die »Wegnahme« von Denkmalen, wie es im Denkmalschutzgesetz heißt, bedeutet nicht nur eine schleichende Verkleinerung der Denkmalliste, sondern ermöglicht auch schonungslose Einblicke in das Innerste von Gebäuden, die bei baubegleitenden Maßnahmen oder bei Gebäuden mit hochwertiger Ausstattung so nicht möglich wären. Insofern sind Abbruchmaßnahmen auch eine große Chance, die Kenntnisse über die Denkmallandschaft umfangreich zu erweitern. Bevölkerungswachstum nach Kreisen, 2012-2035 ! Kiel Hamburg ! ! Schwerin Bremen ! Berlin ! Hannover ! ! Magdeburg Potsdam ! Dresden ! Düsseldorf ! ! Erfurt Wiesbaden ! ! Mainz Saarbrücken ! ! DOKUMENTATIONEN VOR ABBRUCH – HANDHABUNG UND ANFORDERUNGEN IM LAND SACHSEN-ANHALT 1 › Benjamin Rudolph ABB. 1 Oschersleben, OT Schermcke, »Am Sauren Holz 6«, ehem. Hofstelle. Profiliertes Füllholz aus der Oberstock-Schwellzone des im Dezember 2014 als Sicherheitsabbruch mitsamt der Hofanlage niedergelegten Fachwerkwohnhauses aus dem 17. Jahrhundert (2015) 42 In den letzten Jahren sieht sich die staatliche Denkmalpflege mit einem neuartigen Phänomen konfrontiert, das mit dem demografischen Wandel sowie veränderten Lebens- und Wirtschaftsformen zusammenhängt: dem zunehmenden Abbruch von als Denkmalen gelisteten baulichräumlichen Strukturen (Abb. 1). Dieser kulturelle Einschnitt betrifft nicht nur die ostdeutschen Bundesländer im Allgemeinen Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt – Nr. 2 | 15 und Sachsen-Anhalt im Besonderen, sondern auch Teile der alten Bundesrepublik: etwa das südliche Niedersachsen, Nordhessen, Teile Nordrhein-Westfalens, das Saarland und das östliche Bayern (Abb. 2). Die spürbar ansteigende Zahl von Abbrüchen hat im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (LDA) dazu geführt, die Dokumentation von diesen neu zu organisieren. Bis vor we- Stuttgart ABBRUCH VON DENKMALEN IN SACHSENANHALT – STATISTIK ! München Verlässliche Zahlen zum Abbruch von Denkmalen in Sachsen-Anhalt liegen für die Jahre ab 2012 vor; seitdem werden die Abbrüche quantitativ und qualitativ in einer Abbruchliste erfasst (Tab. 1). Die Auswertung der Abbruchliste erfolgt für jedes einzelne Jahr und ermöglicht zunächst statistische Aussagen über die Anzahl der Abbrüche, das Verhältnis von Baudenkmalen zu Denkmalbereichsobjekten, die einzelnen betroffenen Baugattungen und das Baualter der niedergelegten Objekte. Es wird deutlich, dass die Abbruchobjekte mehrheitlich Baudenkmale sind, dass es einen Schwerpunkt in Kreisen mit hoher Denkmaldichte gibt, dass vor allem Wohnhäuser und Wirtschaftsbauten im ländlichen Raum betroffen sind und, dass es sich vorwiegend um Bauten des 18. und 19. Jahrhunderts handelt (Abb. 3). Veränderung der Bevölkerungszahl in % -32 bis unter -24 -16 bis unter -8 0 bis unter 8 -24 bis unter -16 -8 bis unter 0 8 bis unter 23 Datenquelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung; Berechnungen: BiB Geometrische Grundlage: © GeoBasis-DE / BKG (2014) © BiB 2015 / demografie-portal.de DIE GESETZLICHE GRUNDLAGE Gemäß Denkmalschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt, § 14 Abs. 1 Satz 5, »bedarf einer Genehmigung durch die zuständige Denkmalschutzbehörde, wer ein Kulturdenkmal beseitigen oder zerstören will.«2 In Abs. 9 heißt es ergänzend: »Die untere Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt ABB. 2 Bevölkerungsentwicklung nach Kreisen, Prognose 2012–2035 43 denkmalkunde und restaurierung NS-BARACKEN – UNBEQUEME UND VERGESSENE ARTEFAKTE DEUTSCHER VERGANGENHEIT Ergebnisse einer Provenienzforschung zum KZ-Außenlager LangensteinZwieberge bei Halberstadt › Andreas Stahl EINLEITUNG: AUTHENTIZITÄT UND PROVENIENZ ABB. 1 Elsteraue (Burgenlandkreis). Massivbaracken des KZ-Außenlagers Rehmsdorf (2015) 52 Standardisierte Baracken sind – neben Stacheldraht und Wachtürmen – zweifellos ein Topos zur Hypostasierung von NS-Lagern. Als singuläre Erinnerungsstätten sind sie meist verschwunden oder unerkannt; eine Thematik, die Reinhard Matz in seinem bekannten Werkzyklus: »Verge- Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt – Nr. 2 | 15 genwärtigen. Die unsichtbaren Lager: das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken« (1987–1992) fotodokumentarisch verarbeitete. In der didaktischen Vermittlung von Gedenkstätten nehmen heute konservierte und/oder rekonstruierte Baracken als konkret fassbarer Raum des Lebens und Leidens der Häftlinge eine besondere Rolle ein. Baulich evident sind jedoch an histori- NS-BARACKEN – UNBEQUEME UND VERGESSENE ARTEFAKTE DEUTSCHER VERGANGENHEIT schen Orten nur diejenigen Baracken erhalten, die dort längere Zeit nach dem Krieg weiter genutzt wurden und/oder in Massivbauweise nicht translozierbar waren. Tatsächlich gibt es in den Gedenkstätten kaum noch zeitgenössische Baracken, zudem insbesondere solche aus Holz ohnehin zeitlich limitiert ausgelegt waren. Viele wurden aus hygienischen Gründen und zur Verschleierung von NS-Verbrechen vor und nach Kriegsende vernichtet. Selbst die wenigen Artefakte vor Ort sind nicht mehr apodiktische Zeugnisse. Deren langjährige didaktische Inszenierung in den Gedenkstätten verringerte die Authentizität und bleibt bis heute denkmalpflegerisch eine konservatorische Herausforderung, da – wiederum denkmalkonstituierend – funktionale wie instrumentalisierte Zeitschichten hinzu kamen (prominentes Beispiel: Krankenrevierbaracke der KZ-Gedenkstätte Buchenwald/NKWD-Speziallager mit Substanzverlust transloziert und wiederaufgebaut). Je nach politischem Duktus eine gesellschaftlich »unbequeme« Denkmalgattung, waren sie sowohl in Ost als auch West von der institutionellen Denkmalpflege erst ab Beginn der 1970er Jahre halbherzig inventarisiert. Bis heute kaum im Fokus: als mobiler Gebäudetypus wurde vor allem ein großer Bestand der Holzbaracken andernorts anderen Nutzungen zugeführt. Als nicht lokalisierte und/ oder translozierte Artefakte waren und sind jene Baracken außerhalb der Gedenkstätten denkmalkundliche Desiderate. Wenig thematisiert ist ebenso deren Nutzung in der Nachkriegszeit, wo sie vielerorts Ausgebombte und Flüchtlinge langjährig beherbergten. Baustratigrafisch lassen sich gerade Holzbaracken des 20. Jahrhunderts als zeitlos universeller und mobiler Bautypus schwer einordnen. Detailkenntnisse zu Konstruktions- und Bauweisen sind dabei unerlässlich. Schwerpunkt der gegenwärtigen vertiefenden Denkmalausweisung von NS-Lagern in Sachsen-Anhalt ist eine kritische Überarbeitung und Ergänzung un- serer teilweise noch auf Kenntnisstand der DDR-Zeit beruhenden Ausweisungen. Es wird bautypologisch differenzierter nach Lagertypus, Bauweise und zeitlicher Abfolge unterschieden sowie kritisch vorhandene bauhistorische und/oder archäologische Substanz identifiziert und dokumentiert. Substanziell wie topografisch muss man in unserem Bundesland zu Baracken der NSZeit bei Anzahl und baulicher Ausführung differenzieren. So kristallisiert sich z. B. für das südliche Sachsen-Anhalt heraus, dass es hier mit konzentrierter Rüstungsindustrie nicht nur eine hohe Dichte von Lagern gab, sondern auch, dass man im stark bombardierten Gebiet um Merseburg und Zeitz zum Luftschutz bevorzugt Baracken massiv in Segmentbetonbauweise mit Ziegelsteinausfachung baute – sowohl bei Zwangsarbeiter- als auch den späteren KZAußenlagern (signifikant in Rehmsdorf) (Abb. 1), während im Harz- und Elbegebiet herkömmliche Holzbaracken errichtet wurden (z. B. Wernigerode, Abb. 2). Ebenso ist die Typenvielfalt an Baracken der Zwangsarbeiter- und deren Arbeitserziehungslagern ein Desiderat der Forschung, desgleichen Differenzierungen bei Strafgefangenenund Gestapo-Auffanglagern; letztere beson- Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt – A N D R E A S S TA H L ABB. 2 Wernigerode. Holzbaracke in der Gedenkstätte des KZ-Außenlagers am Veckenstedter Weg (2013) 53 HERGISDORF – S T. Ä G I D I U S . E I N V E R E I N R E A K T I V I E R T V E R G E S S E N E D O R F K I R C H E – M AT H I A S K Ö H L E R HERGISDORF – ST. ÄGIDIUS Ein Verein reaktiviert vergessene Dorfkirche im Mansfelder Land › Mathias Köhler (K)EIN LUTHERDENKMAL? Der Countdown zum Reformationsjubiläum 2017 läuft. Längst ist entschieden, welche Stätten sich mit der Aura und dem Namen Martin Luthers schmücken dürfen. Hergisdorf im Mansfelder Land, besser bekannt durch sein »Dreckschweinfest«, gehört nicht dazu. Und so erinnert vieles an das Jahr 1967, als sich ein verzweifelter Gemeindekirchenrat im Vorfeld des anstehenden 450. Jubiläums der Reformation in einem leidenschaftlichen, aber letztlich erfolglosen Appell an das Institut für Denkmalpflege in Halle wandte, um Mittel für eine längst fällige Instandsetzung der Hergisdorfer Kirche einzuwerben. »Auch sie [= die Kirche] stellt ja eine mindestens indirekte Lutherstätte dar«, argumentierte das Gemeindekirchenratsmitglied damals und hatte vollkommen Recht. In der Südvorhalle ist das Reliefbildnis Martin Luthers von 1571 zu sehen (vgl. Abb. 7), und wenigstens seit dieser Zeit führt die Gemeinde den Reformator im Siegel. Evangelische Pfarrer sind seit 1525 belegt. Bestimmender aber noch als »Lutherstätte« ist der Umstand, dass die Hergisdorfer Kirche mit ihrem fast komplett überlieferten, spätmittelalterlichen Inventar behutsam den liturgischen Bedürfnissen des neuen Glaubens angepasst wurde und so- mit in einzigartiger Weise nicht den Bruch mit der Tradition, sondern die Neuinterpretation und Weiterentwicklung eines Kirchenraumes und seiner Einrichtung als Kern lutherischer Theologie sinnfällig dokumentiert (Abb. 1). Auch das Jubiläum 2017 verschließt sich dieser gerade für Mitteldeutschland so bezeichnenden und augenfälligen Besonderheit, doch wendete sich in Hergisdorf die Konstellation anders als 1967 zum Besseren. Ein Förderverein hat sich mittlerweile konstituiert und seine Mitglieder versuchen sowohl durch vielfältige praktische Arbeit (Aufräumen, Reinigen, Grünschnitt) als auch gezielte öffentlichkeitswirksame Maßnahmen (Veranstaltungen, etwa Konzerte und Ausstellungen) St. Ägidius dem Dornröschenschlaf zu entreißen. MANSFELDER SPÄTGOTIK – DER BAU UND SEINE AUSSTATTUNG Auf einer künstlich angelegten Terrasse erhebt sich am Hang nordöstlich über der »Bösen Sieben« und den sogenannten Grunddörfern prägend die Hergisdorfer Ägidienkirche (Abb. 2). Ein schmaler Treppenaufgang führt von Südwesten hinauf in das die Kirche umgebende Friedhofsgelände. St. Ägidius ist ein kompakter einheitlicher, wenig gegliederter Bau aus heimischem rotem Sandstein, der in Form von Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt ABB. 1 Die Dorfkirche in Hergisdorf, Lkr. Mansfeld-Südharz. Blick in den Chor mit Retabel, Sakramentshaus und Taufbecken (2014) 79 D E R H O C H A LT A R D E R E H E M A L I G E N A U G U S T I N E R - C H O R H E R R E N S T I F T S K I R C H E S T. M O R I T Z – M AT H I A S K Ö H L E R WANDELBAR. DER HOCHALTAR DER EHEMALIGEN AUGUSTINER-CHORHERRENSTIFTSKIRCHE ST. MORITZ IN HALLE (SAALE)* › Mathias Köhler BESCHREIBUNG UND IKONOGRAFIE Stipes und Mensa des Hochaltars, noch in romanischem Stil und dem Vorgängerbau entstammend, tragen ein großes spätgotisches Pentaptychon, das im Zusammenhang mit der Vollendung und Einwölbung der Moritzkirche im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in Auftrag gegeben wurde. Typengeschichtlich handelt es sich um einen querrechteckigen, durch seine ungewöhnliche Tiefe auffallenden Schreinkasten, aufgeteilt in eine große Mittelnische mit seitlich übereinander stehenden Fächern, angeordnet über bemalter Predella, dazu ausgestattet mit vier beweglichen, doppelseitig bemalten Flügeln, zwei starren Flügeln und einem extrem hohen und dichten Gesprenge. Mit seinen vier Schwenk- und zwei unbeweglichen, sogenannten Blend- oder Standflügeln, verkörpert der Moritz-Hochaltar die reichste Form eines spätgotischen Retabels, wie sie sich nur im fränkischen Raum, etwa in Schwabach (Hochaltar), oder aber – auffallend zahlreich – in Mitteldeutschland findet, dort auch bei kleinen Dorfkirchenretabeln, etwa in und um Bitterfeld. Nicht einmal die berühmten Flügelaltäre von Blaubeuren, Krakau oder St. Wolfgang verfügen über sechs Flügel. Ein Blick von Westen durch das Mittelschiff der Kirche nach Osten lässt erkennen, wie gekonnt die ausführende Altarbauwerkstatt die Kleinarchitektur des Retabels dem spätgotischen Chorhaus mit seinen hohen, die Wand völlig auflösenden Maßwerkfenstern eingefügt hat (Abb. 1). Über dem spätromanischen Altarblock ruht als Basis des Retabels eine wegen des querrechteckigen Formats des Schreins seitlich weit ausladende Predella mit drei, oben stark beschnittenen Gemälden. Sie führen von links nach rechts Auferstehung, Grablegung und Kreuzabnahme vor Augen. Diese Anordnung freilich ist nicht die ursprüngliche, da in der mittelalterlichen Kunst stets von links nach rechts erzählt wurde, die Folge also mit der Kreuzabnahme hätte beginnen müssen. Nicht spätgotisch sondern barock sind die Malereien auf den Wangen der Predella, auf der Evangelienseite Granatäpfel, epistelseitig Weintrauben, beides eucharistische Symbole für das Blut Christi. Ebenso barock zeigen sich die Füllbretter, die oberhalb der beschnittenen Passionsbilder eingefügt wurden. Predella und Gesprenge sind die Teile des Retabels, die auch bei den im Folgenden beschriebenen Wandlungen sichtbar bleiben, doch gab es bei anderen Altären durchaus die Möglichkeit, die Predella Nr. 2 | 15 – Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt ABB. 1 Halle (Saale), Moritzkirche. Der Flügelaltar im architektonischen Kontext. Blick durch das Mittelschiff nach Osten (2015) 89
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