„Vielen Dank, München!“

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politik
Flüchtlingskrise
Die AZ an der
mazedonischen Grenze
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ABENDZEITUNG MONTAG, 7. 12. 2015 / NR. 282/50
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„Vielen Dank, München!“
Munteres Podium auf der
Bühne der Kammerspiele
(v. l.): Jasmin Tabatabai,
Daniel Cohn-Bendit, Naika
Foroutan, Moderator Michel
Abdollahi, Martin Schulz
und Michael Schilling.
Alle Fotos: Bernd Wackerbauer
Podiumsdiskussion der
Abendzeitung und der
Allianz-Kulturstiftung
in den Kammerspielen:
EU-Parlamentspräsident
Martin Schulz bewegt
die Münchner – und hat
eine Botschaft für sie
G
egen Ende einer ohnehin bewegten und bewegenden Diskussion
über die EU-Flüchtlingspolitik
wird Martin Schulz dann noch
einmal sehr persönlich.
Da berichtet der Präsident
des EU-Parlaments in den
Kammerspielen von seinen politischen Anfängen; Bürgermeister der Kleinstadt Würselen war er damals – und schon
mit Flüchtlingsfragen konfrontiert in seiner Kommune. Die
sollte seinerzeit 1300 Flüchtlinge aus Afrika aufnehmen.
„Kurse sollen erklären,
wie Deutschland
funktioniert“
Schulz spürte die Skepsis –
und bekam dann doch allerlei
Helfer an seine Seite: den
Schuldirektor, den Pfarrer, den
Betriebsratschefs der größten
Firma „und sogar den Chef des
Rotary-Clubs“, erzählt Schulz.
Am Ende habe die Stadt die Situation, die sich manchem zunächst als Problem dargestellt
hatte, gut gemeistert.
Daraus, sagt Schulz, habe er eine
Lektion gelernt, die er bis heute
bewahrt hat: „Hier zu helfen, das
ist ein Gebot der Menschlichkeit. Wenn alle führenden Repräsentanten allen klar machen: ,Wer Rassist ist, hat an
meinen Tisch keinen Platz!’ –
dann kann eine Gesellschaft
solche Krisen meistern.“
„Der Schlüssel dazu,
in Deutschland
respektiert zu werden,
ist gut zu arbeiten.“
Jasmin Tabatabai,
Schauspielerin
„Wer hätte geglaubt,
dass ich ein glühender
Verteidiger von Merkel
werden würde?“
Daniel Cohn-Bendit,
Grünen-Legende
„Selbst Singapur und
Brasilien haben
Einwanderungsgesetze
– warum wir nicht?“
Naika Foroutan,
Integrationsforscherin
„Für den Sieg des Bösen
genügt es, dass die
Guten nichts tun.“
Martin Schulz,
Präsident des
EU-Parlaments
„Einige Länder Europas
sollten nicht nur Geld
nehmen, sondern auch
Flüchtlinge.“
Michael Schilling
AZ-Chefredakteur
Dafür bekommt Schulz lauten Beifall von den rund 700
Münchnern im Saal.
Aktuell ist die Krise wieder
da. Rund eine Million Menschen sind in diesem Jahr nach
Deutschland geflüchtet; München nimmt seit Monatsbeginn
629 Flüchtlinge pro Woche auf.
Inzwischen wird die Wirschaffen-das-Kanzlerin
kritisch beäugt – im Ausland und
aus den eigenen Reihen. Was
nun?
Darüber
debattiert
Schulz nun bei der Podiumsdiskussion „Last Exit Germany –
welche
Flüchtlingspolitik
braucht Europa?“, zu der die
Kammerspiele und die AllianzKulturstiftung in Kooperation
mit der Abendzeitung geladen
haben.
Mit dabei: Schauspielerin
Jasmin Tabatabai (48). Sie ist
als Tochter einer deutschen
Mutter und eines iranischen
Vaters in Teheran und Planegg
aufgewachsen. Aus eigener Er-
fahrung plädiert sie vehement
dafür, dass Flüchtlingen in Kursen erklärt wird, wie Deutschland funktioniert: „Das geht
am besten gleich am Anfang.
Denn Deutschland ist das Land
der ungeschriebenen Gesetze.“
Und: „Der Schlüssel dazu, in
Deutschland respektiert zu
werden, ist gut zu arbeiten.“
versität, für ein Einwanderungsgesetz in Deutschland
stark und liefert internationale
Beispiele jenseits von USA und
Kanada: Auch Brasilien und
Singapur hätten Gesetze, die
ein bis 1,5 Prozent Einwanderer pro Jahr vorsehen.
Bei 80 Millionen Deutschen
wären das 800 000 Zuwanderer pro Jahr. Foroutan: „Warum
nehmen Menschen in Deutschland die Zahl von 800 000
Flüchtlingen im Jahr als viel
wahr? Im Vergleich mit den
Flüchtlingszahlen im Libanon,
Jordanien, Pakistan oder der
Türkei wäre das aber nicht
viel.“ Ihr Vorschlag: „Wie wäre
es, wenn jeder 80. Deutsche
eine Patenschaft über einen
Geflüchteten übernimmt?“
aus angesichts der Belastungen
und des Ärgers mit überlasteten, unterbesetzten Behörden.“
Schilling mahnt: „Einige Länder Europas sollten daran erinnert werden, dass Solidarität
nicht nur bedeutet, Geld zu
nehmen – sondern auch
Flüchtlinge.“
Zufrieden mit dem Verlauf der Diskussion (v. l.): Naika Foroutan, Michael
Thoss von der Allianz-Kulturstiftung, Jasmin Tabatabai und Matthias
Lilienthal, der Intendant und Hausherr der Kammerspiele.
„Wie wäre es, wenn
jeder 80. Deutsche eine
Patenschaft annimmt?“
Publizist und Grünen-Legende Daniel Cohn-Bendit (70)
nimmt das Stichwort prompt
auf: „Flüchtlinge sollen sofort
arbeiten“, fordert er. „Warum
warten?“ Integration müsse so
schnell wie möglich beginnen.
Nebenbei holt sich der frühere
EU-Abgeordnete noch einen
Lacher aus dem Publikum ab:
„Wer hier hätte jemals geglaubt, dass ich zu einem glühenden Verteidiger von Angela
Merkel werden würde?“
Wie Schulz macht sich auch
Naika Foroutan (43), Professorin für Integrationsforschung
an der Berliner Humboldt-Uni-
Ein Zukunftsmodell, das einigen
vielleicht ein bisschen weit geht.
Schon jetzt würde mancher Integrationsprozess in Bayern
gesetzlich erschwert, beklagt
AZ-Chefredakteur
Michael
Schilling: „Warum darf in Bayern niemand Flüchtlinge privat
aufnehmen“, fragt er. Und er
warnt auch: „Den vielen Freiwilligen in den Asylhelferkreisen geht allmählich die Kraft
Martin Schulz nickt da zustimmend. Lange schon hat er im
EU-Parlament mit rechten
Strömungen und Abwehrhaltungen zu kämpfen: „Die ReNationalisierung ist sehr gefährlich für Europa“, warnt er.
Es gelte, dagegen zu halten:
„Für den Sieg des Bösen genügt
es, dass die Guten nichts tun.“
Entsprechend lobt Schulz
dann die Stadt München als Paradebeispiel und Vorbild für
den Umgang mit der Flüchtlingskrise:
„Praktisch
und
selbstverständlich“ hätten die
Menschen hier geholfen –
„selbst als zehn- oder zwölftausend Flüchtlinge hier pro
Tag angekommen sind. Die Bilder von hier haben vielen Mut
gemacht. Ich möchte München,
OB Dieter Reiter und den Menschen in dieser Stadt heute dafür sagen: Vielen Dank!“
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