Text und foto: Eric de Vroedt, Übersetzung aus dem Niederländischen: Olaf Kröck Ich bin Stiller Ein Buch auf der Hochzeitsreise lesen Das Foto wurde am 15. Juli 2014 in Vietnam aufgenommen. Nachdem wir ein paar Tage im überfüllten und verstopften Saigon verbracht haben, reisen wir weiter auf die saftig grüne Insel Phu Quoc. Laut unserem Reiseführer ist sie einer der Höhepunkte einer Reise im Mekongdelta: „Genießen Sie die traumhaften Strände, erkunden Sie das bergige Hinterland mit dem Motorroller, gehen Sie tauchen oder schnorcheln Sie entlang der Küste“, ermutigt uns der Reiseführer. Aber für uns gibt es keine Schnorchel-Expeditionen oder Bergtouren – wir lesen. Der rastlose Reisende Max Frisch war, soweit bekannt, nie in Vietnam, auch wenn er seinerzeit die amerikanischen Aggressionen gegen das Land verflucht hat. Es scheint also reiner Zufall zu sein, dass ich ausgerechnet an diesem Ort, mit 42 Jahren, auf meiner Hochzeitsreise, eines der schönsten Bücher deutschsprachiger Literatur lese. In wenigen Tagen habe ich die 415 Seiten in einem Zug durch: Mit Blick auf den Golf von Thailand, der mir Kühle bietet, wenn die erzählerische Kraft von Max Frisch mir beinahe zu viel wird. Mit den süßesten Happy-HourSunset-Cocktails in der Hand, die mich weitertragen auf den Wellen von Stillers ungezügelter Fantasie. Mit meiner Frau im Bikini neben mir, zu der ich immer wieder schauen muss, wenn ich die rührenden Szenen zwischen Stiller und seiner schönen, zerbrechlichen Julika lese. Auf dem Foto sieht man das Buch liegen, ein paar Minuten nachdem ich es beendet habe. Die Kameralinse ist von den Tränen glücklicherweise nicht nass geworden. Auf dem Buch: eine Muschel, die direkt aus dem Buch zu kommen scheint. Neben dem Buch: der Schlüssel unserer Strandhütte. Das Liebespaar im Meer könnten wir selbst sein. Auf dem Buchcover: ein Zitat des weisen Hermann Hesse: „Stiller vergisst du nie mehr“. Tatsächlich, ich werde Stiller nicht mehr vergessen. Die Muschel, die Hütte, die Liebe, all das hat mich veranlasst, das Buch gleich noch einmal zu lesen (wenn auch nur zur Hälfte). Nicht aus reiner Bewunderung, im Gegenteil: das Buch ist mir auch übel aufgestoßen, hat mich verwirrt; es ist im Grunde zutiefst beunruhigend. Das Buch lügt ununterbrochen und enthüllt zugleich eine tiefgründige Wahrheit. Die Liebesgeschichte rührt zu Tränen, ist aber zugleich abstoßend. Das Buch zeigt die lange Reise zur Selbst-Annahme, die auch eine Flucht sein könnte. „Ich bin nicht Stiller“ – was um Himmelswillen soll das bedeuten? Monate nachdem das Foto entstanden ist, halte ich es mit einem Mal nicht mehr für Zufall, dass ich gerade in diesem Moment, an diesem Ort, dieses Buch gelesen habe. Plötzlich erscheint mir das Foto als ein Symbol für den großen Kampf des Anatol Stiller. „Ich bin nicht Stiller“ ist der ultimative Versuch, einem eingerosteten Selbstbild, das man über Jahrzehnte aufgebaut hat, zu entkommen. „Ich bin nicht Stiller“ ist ein Schrei, der das Recht in Anspruch nimmt, sich verändern zu können. „Ich bin nicht Stiller“ ist der Drang, die Welt und die anderen jeden Tag als etwas Neues betrachten zu können. „Ich bin nicht Stiller“ ist die Utopie, dass ich und die andere, meine Geliebte, jeden Tag aufs Neue entstehen. Und zugleich lauert in dem Satz die tiefe Tragik von Stiller, von Frisch, von mir, von uns allen: Denn natürlich ist Stiller sehr wohl Stiller. Und ich bin ich. Und auch Sie sind Sie selbst, wie oft Sie das auch leugnen mögen. der niederländische Regisseur Eric de Vroedt inszeniert Nach „Freitag“ und „Leas Hochzeit“ nun „Stiller“ von Max Frisch in einer Bearbeitung von Reto Finger für das Schauspielhaus. Die Premiere ist am 2. April 2016.
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