Leseprobe Claus Gatterer: Schöne Welt, böse Leut

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„Schöne Welt, böse Leut’ literarisiert die Historie,
um sie auf den Punkt zu bringen.“ NZZ
„Gatterer zeigt, dass das Problem Südtirol
von Anfang an weit eher ein soziologisches als
ein Nationalitätenproblem war.“
Herbert Rosendorfer, Stuttgarter Zeitung
Ein Kind erzählt den Faschismus in Südtirol, ironisch,
schelmisch, erhellend. Der Klassiker der Südtirol­
literatur.
Die „schöne Welt“ ist das Südtirol, das 1919 zu Italien kam.
Zur Zeit, da Gatterers Erzählung einsetzt, hat sich die jahr­
hundertealte bäuerliche Welt scheinbar mit dem neuen Staat
und seinen Gesetzeshütern arrangiert; in Wahrheit aber
wird täglich der Kampf um die Bewahrung der kulturellen
Eigenständigkeit durchgefochten.
In diesem Schelmenbericht, der die Zeit von 1929 bis 1943
umfasst, bleibt über alles Politische hinweg der einfache
Mensch im Mittelpunkt. Alle, die uns da begegnen – vom
kaisertreuen Großvater bis hin zum stolzen Maresciallo –,
sind in Wahrheit keine „bösen Leut“, sie sind nur Spielbälle
einer verworrenen Zeit.
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„Die Sprache Gatterers ist voller Ab- und
­Hintergründe, voll von Scherz und tieferer
­Bedeutung, vollauf modern.“ Die Zeit
Der Autor
Claus Gatterer
Geboren 1924 in Sexten/Südtirol, gestorben 1984 in Wien.
Historiker, Journalist, Schriftsteller. 1945–47 erste
­publizistische Tätigkeit, ab 1948 Journalist in Österreich,
ab 1974 Leiter der Fernsehreihe „teleobjektiv“.
Mehrere Preise, u.a. Theodor-Körner-Preis, Dr.-Karl-RennerPreis für Publizistik, Fernsehpreis der österreichischen
Volksbildung, Preis der Stadt Wien, Preis der Südtiroler
­P resse. Zahlreiche Publikationen.
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© Folio Verlag Wien • Bozen 2015
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Europe
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Claus Gatterer
Schöne Welt,
böse Leut
Kindheit in Südtirol
Mit einer Nachbemerkung
von Arno Dusini
Unkorrigiertes Leseexemplar
Erstverkaufstag 1. September 2015
Halbleinen, farbiger Vorsatz
ca. 432 S., 13,5 x 21 cm
ca. € [D/A] 22,90 / € [I] 21,70
ISBN 978-3-85256-672-6
E-Book
€ 19,99
ISBN 978-3-99037-050-6
Folio Verlag
Wien ∙ Bozen
Über das Tal, das Dorf und die Schlamperei
der Weltgeschichte
Die schöne Welt, über die hier berichtet wird, heißt Sexten.
Kennen Sie Sexten, das berühmte Tal in den berühmten Sextener
Dolomiten? Jeder, dem das Abc der Bergsteigerei geläufig ist, zieht,
wenn er den Namen Sexten hört, respektvoll den Hut, und wer ein
patriotisches Herz im Leibe trägt, bekommt feuchte Augen. Sexten:
ein stolzes Kapitel in der Geschichte des Alpinismus, ein strahlendes
in der Geschichte der Tiroler Landesverteidigung. Nachdem das Tal
1919 infolge einer Schlamperei der Weltgeschichte zu Italien gekommen war, nannte man es offiziell Sesto in Pusteria, und gute zwanzig
Jahre lang durfte es überhaupt nur so heißen.
In einem stimmten die gebildeten Sextener und die Italiener überein: am Ursprung der Geschichte des Tals musste es irgendetwas Römisches namens „Sexta“ gegeben haben, und dieser Name musste von
der Zahl sechs abgeleitet sein. Sechs Häuser, meinten die einen; der
sechste Meilenstein der Straße, die aus dem Pustertal über den
Kreuzberg nach Karnien geführt haben mag, erklärten die andern;
und nach einer dritten Version soll Sexta das sechste Außenwerk des
römischen Castrum Littamum gewesen sein. In Wahrheit hat man je
weder Spuren eines römischen Festungswerkes noch einen Pflasterstein der Römerstraße gefunden. Doch was verschlug’s? Irgendwoher
musste der Name ja gekommen sein. Und damals, als ich zur Schule
ging, wog ein Name lateinischer Abkunft fast so viel wie ein Adelsprädikat.
Unser Lehrer, ein cholerischer, schwarzhaariger junger Mann, hatte irgendwo die Geschichte vom sechsten Meilenstein aufgeschnappt. Obschon unsere Heimatkunde nicht seine Stärke war, verwandte er eine volle Stunde darauf, um uns zu erklären: „Ragazzi!
Kinder! Wir stehen hier auf geheiligtem römischen Boden!“
Er wandte sich um, hüpfend, wie ein Kitz auf der Weide, ging in
großen Schritten zum Pult vor und stellte sich habtacht vor das Mussolini-Bild hin, als erwartete er von ihm eine wunderbare Belohnung.
Vielleicht würde er lächeln, der Eiserne! Dann fragte er hart:
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„Wo stehen wir, Lanzinger?“
„Auf geheiligtem römischen Boden!“
„Bene!“
Wir nannten den Lehrer „das Hupferle“. Wenn wir ihn ärgerten,
warf er mit Tintenfässern und Federstielen nach uns. Er fühlte sich
als Nachfahre der Römer und war besessen von der zivilisatorischen
Mission, die zu erfüllen ihm aufgetragen war.
Der Holzer Niggo zeigte auf.
„Was ist, Olzer?“
„Der Name, sagt der Vater, kommt nicht vom sechsten Meilenstein, sondern von sechs Häusern, die da …“, begann der Niggo in
unbeholfenem Italienisch.
Der Hupferle unterbrach ihn, ehe er den Satz zu Ende brachte.
„Taci, macaco! Schweig!“
Der „Olzer“ hatte ihn erst vor ein paar Tagen wegen der Wasserscheide und der Grenzen gewaltig in Rage gebracht. Er, der Herr
Lehrer, hatte vorgetragen, dass Italien nach dem Sieg von Vittorio Veneto endlich seine „natürlichen Grenzen an der Wasserscheide der
Alpen erreicht“ und damit den Traum der Jahrhunderte erfüllt habe.
Der Niggo hatte die Hand gehoben und gesagt, dies stimme nicht,
die Wasserscheide verlaufe übers Toblacher Feld, unser Bach fließe
in die Drau, und die Drau fließe nicht nach Italien, sondern nach
Österreich und dann weiter zum Balkan, in die Donau. Der Lehrer
war rot geworden wie ein Osterei; wütend schleuderte er Kreidestücke ziellos in die Klasse. Wir hatten’s nicht leicht mit ihm.
Später schlug ich in der von Mussolini selbst gegründeten Enciclopedia Italiana nach, um die offizielle Version über Sexten, seinen Ursprung und seine „Übersiedlung“ zu Italien zu erfahren. Es war nicht
viel:
Sesto in Pusteria … Dorf und Gemeinde in der Venezia Tridentina, in
der Provinz Bozen. Das nach dem Weltkrieg fast zur Gänze neuerbaute
Zentrum liegt in 1311mSeehöhe in einem Wiesenbecken, durch welches der Sextenbach fließt. Das Becken wird umschlossen von den
mächtigen Gipfeln … Das Gebiet der Gemeinde umfasst 80,88 qkm;
1931 zählte Sesto 1445 Einwohner, von denen 1115 in Sesto, Moso und
Bagni geschlossen siedelnd lebten.
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Der Verfasser des Kapitelchens war ein römischer Universitätsdozent, und es ist wahrhaft verwunderlich, dass er nichts über Meilensteine und Festungsaußenwerke schrieb. Vielleicht war es bloß
Schlamperei. Er verlor ja auch kein Wort darüber, weshalb das Zentrum nach dem Weltkrieg „fast zur Gänze neu erbaut“ worden war.
Diese Schlamperei enthob jedoch den Herrn Dozenten der Verpflichtung, sich zu jener eingangs erwähnten weltgeschichtlichen
Schlamperei zu äußern, durch welche Sexten auf dem Umweg über
Saint-Germain – wider den Willen seiner Bewohner –, verspätet und,
selbst für die Italiener unerwartet, an Italien kam. Als die Entente
1915 Italien aus dem Dreibund herausgekauft hatte, war von Sexten
nicht die Rede gewesen; und auch im neunzehner Jahr wollten die
Italiener die Grenze zunächst noch am Toblacher Sattel haben, an der
Wasserscheide eben. Bis dann ein Herr Salvatore Barzilai aus Triest
– dem ein Freispruch durch ein österreichisches Gericht in Italien zu
Irredentistenruhm und einem Abgeordnetensitz verholfen – im letzten Augenblick ein Memorandum auf den Tisch der Friedensschuster
gelegt hatte, laut welchem die neue Grenze über die Kämme von
Helm und Silvesteralm und hinter Winnebach quer durchs Drautal
gezogen werden sollte; aus strategischen Erwägungen, versteht sich.
In Saint-Germain wusste man über Sprachgrenzen und Wasserscheiden offenbar nicht mehr als unser Hupferle, und so kamen Sexten,
Innichen, Vierschach und Winnebach zu Italien, über Nacht gewissermaßen, denn bis in den hohen Sommer hinein hatten alle damit
gerechnet, dass die Italiener bald wieder abziehen würden.
Für die Weltgeschichte ist dies alles nebensächlich. Vier Ortschaften, nicht einmal sechstausend Menschen – was wiegen die schon?
Für die sechstausend aber ist genau dies Belanglos-Nebensächliche
die Weltgeschichte. Und da sie von einem Mann namens Barzilai
nichts wissen, da ihnen strategische Erwägungen nichts sagen, da
nach den Denkkategorien ihrer Bauernschädel Grenzen nicht wesentlich anders sind als Zäune und Marksteine um ihre Felder, verrückbar
nur durch Tücke, Bosheit oder Unheil, können sie nicht daran glauben, dass in Saint-Germain alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Sie suchen Sündenböcke, und sie suchen sie unter sich.
„Ich will nichts gesagt haben. Aber woher hat er denn das Geld für
das neue Auto?“ fragte der Taufpate an einem Sonntag, als er nach
dem Essen mit Vater und Mutter am Stubentisch saß.
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Er hatte sich eine lange Geschichte über das neunzehner Jahr zurechtgelegt: die Reichen im Tal, die Händler, die „Pfeffersäcke“, hatten einen Brief an die Herren in Versailles geschrieben (für den
Taufpaten heißt der Friede Versailles, sonst kannte er nichts!),und in
dem Brief hatten sie mitgeteilt, die Bewohner der vier Gemeinden
wünschten den Anschluss an Italien. Niemand hatte den Brief je gesehen, geschweige denn gelesen. Aber das Gerücht kroch giftig von
Haus zu Haus, man erging sich in dunklen Andeutungen, sprach von
Verrätern und „Raffln“, man kleidete die boshaftesten Beschuldigungen in scheinheilige Fragen und ließ mögliche Motive als handfeste
Beweise gelten. Hatten diese Pfeffersäcke nicht immer schon mit
„denen drüben“ Handel getrieben? Waren ihre Häuser beim Wiederaufbau nicht als Erste drangekommen? Keine Auskunft, und wäre
sie noch so erschöpfend gewesen, hätte die Frager und Zweifler zu
belehren vermocht.
Den letzten „Beweis“ gegen die Schuldigen holte der Taufpate –
wiederum als Frage – aus den Bereichen des Übernatürlichen:
„Hast du nicht gesehen, dass der Josef, der Sekretär, jetzt auf einmal so ein Zucken ums Maul hat? Er kann nicht einmal mehr beichten, ohne dass es zuckt. Das ist die Strafe Gottes. Klar, dass das die
Strafe Gottes ist. Ich will nichts gesagt haben, aber was wahr ist, ist
wahr.“
Er zwirbelte seinen schwarzen Schnurrbart auf, dessen Spitzen
bläulich schimmerten wie Stahlfedern. Sein Gesicht strahlte sieghaft. Wer hätte gegen solche Logik etwas vorzubringen vermocht?
Nur beim alten Sonner kam der Taufpate mit seinen Verdächtigungen und Fragen nicht an. Dieser schweigsame, graue Bauer, dem sie
im Krieg das Haus neben der Festung zusammengeschossen hatten,
rettete sich angesichts des Neuen, das über Mensch und Vieh hereingebrochen war, in eine Philosophie, die ihm erlaubte, die Menschen gut sein zu lassen und sich selbst den Lohn für vierjähriges
tapferes Verhalten vor dem Feind in barer Selbstachtung auszuzahlen. Eines Abends, als die Bauern in der „Mondschein“-Stube wieder
einmal die alten Verratsgeschichten wiederkauten, sagte er trocken:
„Alles papperlapapp. Dass wir den Krieg gewonnen haben, weiß jedes Kind. Aber dass wir gleich ganz Italien bekommen würden, das
hätte ich mir nicht gedacht!“
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Über alte und neue Südtiroler
Die Geschichte, die uns Sextener betrifft, ist schrecklich kompliziert.
Man pflegt „Südtirol“ zu sagen und meint, damit wäre alles gesagt.
Aber wenn der Vater oder der Großvater damals, als ich ein Kind
war, von jemandem sagten: „Der ist aus Südtirol“, dann meinten sie
einen, der aus dem Trentino kam, aus Welschtirol. Von dort kamen
die Krämer, die Steuereintreiber, die Versicherungsagenten, die Gemeindeschreiber, zuweilen auch Ärzte, Lehrer und andere Amtspersonen. Man redete eher despektierlich über diese Südtiroler (anders
verhielt es sich mit dem „Südtiroler Wein“, dem schweren, dunklen),
obschon die meisten von ihnen Deutsch konnten und genau wie unsre Leute dem neuen Staat den Betrug mit der Kronenumwechslung
nicht verziehen. Auch sitze bei ihnen, den Südtirolern, das Messer
locker, hieß es.
Auch Bozen oder Brixen waren nicht Südtirol; reiste man dorthin,
so fuhr man „ins Land“. Und das Gebiet um Meran bezeichnete man
als das Burggrafenamt und die Leute dort als die Burggräfler, denen
man im Übrigen wie den Überetschern und den Unterländern – also
den Tirolern zwischen Bozen und Salurner Klause – eine beinahe
südtirolische Heißblütigkeit nachsagte.
Wir im obersten Pustertal waren also kurzerhand Tiroler, ohne jeden schmückenden Zusatz, obschon man uns jenseits der Grenzen,
auch in Österreich, insgesamt als „Südtiroler“ ansprach. Erst in den
dreißiger Jahren setzte sich der neue Gattungsbegriff auch bei uns
im Dorf und selbst bei Bauersleuten allmählich durch.
„Wir Südtiroler …“, raunte man einander in verschwörerischer
Heimlichkeit ins Ohr, wenn keine „Filzlaus“ und kein „Jackele“ (keine italienische Polizei- oder Militärperson) in Hörweite waren.
Das „wir Südtiroler“ war nun freilich etwas ganz anderes als das „wir
Tiroler“ von einst. Tiroler zu sein, war etwas ganz Natürliches gewesen; man war’s, und keinem Menschen wäre eingefallen zu fragen,
weshalb. Tiroler zu sein, bedeutete vor allem, Herr im eigenen Hause
zu sein, Herr in Gemeinde, Tal und Land; alles andere – beispielsweise Österreicher – war man gewissermaßen nur „von Gnaden Tirols“.
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„Südtiroler“ hingegen war man gezwungenermaßen. Der Weg vom
Tiroler zum Südtiroler war ein Abstieg, eine Deklassierung. Es war
der Weg vom Herrn zum Knecht, vom Bürger zum Untertan. Und
obendrein war’s verboten, sich selbst und das Land beim alten oder
neuen Namen zu nennen. In der Gemeindestube schalteten und walteten Italiener; die Fraktion lebte nur noch in der Gemeinschaft der
Rinder fort, die wie eh und je vom Fraktionshirten – der einzigen Instanz, die weiterhin von den Bauern gewählt werden durfte – auf die
alten Weiden getrieben wurden. Das Land gab es nicht mehr. Da der
tirolische Inhalt zerstört und die tirolische Form verboten war, wurde
das Südtirolersein zum Ausdruck von Legende und Mythos, von
Schmerz und Martyrium, ein aus Seufzern und Flüchen gefügtes
Gefühl, mehr Zeugnis des Leides als aus dem Leiden geborenes Programm der Selbstbehauptung, – denn die bürgerliche Selbstzucht
blieb auch jetzt, da keines der Bürgerrechte mehr galt, die Kardinaltugend dieses zwar eigenwilligen, aber gleichwohl störrisch- gesetzesfrommen Volkes.
„Alles halte Ruhe und Ordnung!“, hatten die tirolischen Parteien
in jenem grauen November des achtzehner Jahres angesichts der einrückenden italienischen Truppen empfohlen.
Man hielt Ruhe und Ordnung, was immer geschah.
Und man erhielt sich damit, abseits der Straßen, über welche die
Staatsmacht wandelte, hinter den von Regen und Sonne versilberten
Hofzäunen und den mit Geranien geschmückten Fenstern auch einen Rest an eigener Ordnung, zuweilen gespenstisch erstarrt, Relikt
einer Vergangenheit, die auch jenseits der Grenzen, dort, wo Tirol
noch Tirol war, absterben musste, um das Neue ans Licht zu lassen.
Nur dass bei uns das Neue das Fremde war und das Alte daher nicht
absterben durfte.
Aber wir? Was waren wir, die Jungen? Wir waren hineingeboren in
die babylonische Verwirrung von Empfindungen und Begriffen; wir
waren hin und her gerissen zwischen der versteinerten Ordnung des
bäuerlichen Elternhauses und der entfremdenden Dressur der Schule, und niemand half uns, uns selbst zu bestimmen. Wer und was
war gemeint, wenn wir „wir“ sagten?
Wir – das waren die Leute im Tal, jene, die zu „uns“ gehörten, und
zu „uns“ gehörten natürlich alle, die Deutsch waren, die Tiroler, im
Tal und darüber hinaus.
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Doch wenn ich’s recht bedenke, ist diese sozusagen nationale Beschränkung nicht richtig. In das dörfliche „Wir“ wurden, auch von
den Alten, ein paar Italiener einbezogen, die seit langem im Tal lebten und hier heimisch geworden waren: der Scherenschleifer, der
Pfannenflicker und ein Wegmacher. Hingegen gehörten der Amtsbürgermeister (er nannte sich Podestà), die Lehrer, die Carabinieri,
die Finanzer, die Gemeindeschreiber und der Briefträger nicht zu
uns. Sie konnten somit nicht gemeint sein, wenn wir „wir“ sagten.
Im weiteren Sinne aber umschloss das „Wir“ alle jene Menschen
zwischen Brenner und Salurn, die so waren und dachten wie wir –
alle Tiroler also. Dieses erweiterte „Wir“ wird sich seiner gewissermaßen in der Begegnung mit dem „Nicht-Wir“ bewusst, mit den Italienern. Gleichwohl liegt auch hier keine nationale oder sprachliche
Begrenzung vor: die Ladiner, die man ein wenig überheblich als
„Krautwalsche“ bezeichnete, waren „wir“, sie gehörten zu uns. Da
überlebte also der alte, offene Tyrolismus, der eine Gemeinschaft in
drei Sprachen gewesen war. Doch blieb nur die eine Tür zu den Ladinern offen. Gegenüber den Italienern war der Gegensatz unüberbrückbar: ein tiefer Graben trennte das südtirolische „Wir“ unerbittlich vom „Sie“, von „denen dort“. Konnten der Scherenschleifer, der
Pfannenflicker und der Wegmacher ohne Schwierigkeit ins dörfliche
„Wir“ integriert werden, so war bei dem als Antithese zum Nicht-Wir
bestimmten, das ganze Land einschließenden südtirolischen Wir
eine derartige Integration nicht mehr möglich.
Warum legte das kollektive Selbstbewusstsein im einen Fall andere Maßstäbe an als im andern? Die mehr oder minder bewusste
Selbstdeutung im Dorf scheint vertikal hierarchisch erfolgt zu sein:
„Wir“ waren die Regierten, die Untertanen; „sie“, „die andern“, waren
die Vertreter des Staates und der Regierung im weitesten Sinn. Im
weiteren Rahmen des Landes erfolgte die Selbstdeutung zwar nicht
ausschließlich nach sprachlichen, aber doch nach „nationalen“ Gesichtspunkten, ohne Berücksichtigung der vertikalen Dimension.
Überdies wurde dieses südtirolische „Wir“ von außen mitbestimmt:
von den extirolischen Trientinern, die 1918 im ersten Rausch der Erlösung sogar ihre Hunde grünweißrot angestrichen und sich, möglicherweise etwas voreilig, alles Tirolischen entledigt hatten.
Doch sind damit die Sinngehalte unseres „Wir“ bei weitem nicht
erschöpft. In der Schule und in den Schulaufsätzen hieß das „noi“
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schlicht: „wir, die Italiener“, und es durfte auch gar nichts anderes
heißen. Dieses offizielle „Wir“ stieß die beiden zuvor explizierten
„Wir“ als etwas Fremdartiges, Feindseliges, dem Ganzen Schädliches
kurzerhand aus; besser: es hätte sie ausgestoßen, wenn wir dem offiziellen „Wir“ erlaubt hätten, in uns einzudringen und von innen her
als neue conscientia im Sinn von Bewusstsein und Gewissen von uns
Besitz zu ergreifen. Dieses „Wir“ streifte bei den allermeisten nur die
Haut, es hatte weder mit dem Ich noch mit dem Über-Ich etwas gemein, es war eine Schuluniform und ein verlogenes Hilfsfürwort, um
das zu bezeichnen, was die Italiener meinten, wenn sie, uns einbeziehend, „wir“ sagten und schrieben. Es war ein fremdes Wir, welches
das unsere annektiert hatte, aber gleichwohl nicht imstande war, es
in uns auszulöschen – ein egoistisches, eifersüchtiges Wir, das, wie
Gottvater, kein anderes Wir neben sich, in sich und unter sich duldete. Es war das Wir der totalitären nationalen Gemeinschaft.
Das alles waren „wir“, damals. Eine verwirrende Menschenlandschaft, Spiegelung einer verworrenen Zeit. „Werde, was du bist“, lehrt
Pindar aus Theben. Ach, was sind wir nicht alles gewesen! Und wie
schwer war es zuweilen, das zu sein, „was man ist“: Mensch.
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Über die „Normalisierung der Lage“ und meinen
Großvater
Irgendwann zwischen dem Sommer 1923 und dem Frühjahr 1924
muss sich die Lage in Sexten normalisiert haben. Das Dorf war wieder aufgebaut; der Handel blühte; im Sommer waren wieder Herrschaften gekommen; die Ställe füllten sich, und der Staat begann
Kriegsentschädigungen zu zahlen. Mit den neuen Behörden hatte
man sich so weit angefreundet, dass man dem Kommandanten der
Finanzwachegarnison, als er „nach fast zweijährigem Wirken in der
hiesigen Gemeinde“ an einen anderen Posten versetzt wurde, einen
ehrenden Abschiedsartikel in der Zeitung widmete: „… hat in dieser
Zeit Gelegenheit gehabt, sich das Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben … Auf Wiedersehen!“, Die Zeitung hieß zwar nicht mehr
wie früher Der Tiroler, sondern nur noch Der Landsmann, doch
wusste jeder, was gemeint war. Im Januar 1924 hatte das Unterrichtsministerium in aller Eile „neue Normen für den Volksschulunterricht im nichtitalienischen Teil Italiens“ herausgegeben, nach welchen die deutsche Sprache nur noch im Religionsunterricht und in
der ersten Volksschulklasse „vorgeschrieben“ war, während die italienische Sprache von der zweiten bis zur fünften Volksschulklasse
als Unterrichtssprache galt. Aber noch gab es ja unsere Lehrer, und
dass die Kinder Italienisch lernten, konnte gewiss nicht schaden.
Schließlich war da noch die Geschichte mit der „Italianisierung der
Ortschaftsnamen“, wodurch, wie Der Landsmann zu berichten weiß,
„große Verwirrung durch falsche Adressierung und falsche Zustellung der Post verursacht wurde … Es scheint diesbezüglich nicht
nur bei Privaten, sondern auch bei Ämtern keine volle Sicherheit
und Klarheit zu herrschen.“
Gleichviel, die Post mochte hingehen, wo sie wollte, und die Privaten mochten sich in ihrem von einem Ende zum andern neu benann­
ten Land zurechtfinden oder nicht – „die Lage in den fremdsprachigen Provinzen hatte sich normalisiert“.
Der Begriff Normalisierung war tatsächlich damals schon gebräuchlich und er bezeichnete nicht anders als heute die Beständig[ 16 ]
keit der Abnormität, die Gewöhnung an die Abnormität. Und wie
heutigentags zögerte man auch damals nicht, aus der Gewöhnung
Zustimmung abzuleiten. Aber für die meisten Sextener, besonders
für die Bauern, war die „Normalisierung“ nichts anderes als die grollende Einordnung in einen Zustand, den sie einfach nicht ändern
konnten. Sie ertrugen und erlitten ihn. Was immer man in Rom und
anderswo von der Normalisierung halten mochte, für sie, die Sextener, stand fest, dass die im Herbst achtzehn ins Tal eingebrochenen
Heerscharen, vor denen sie Frauen, Kühe und Hennen eiligst in
Waldverstecke getrieben hatten, Kolonnen einer hartnäckigen, tiefgründigen Unordnung waren. Man ließ sie nicht einmal als Sendboten einer anderen, fremdartigen Ordnung gelten.
„Etwas Unrechtes hält sich nicht!“, wiederholte der Großvater mit
der Verstocktheit des gerade in den Jahren der allmählichen Verkalkung um all seine Hoffnungen und Anleihepapiere Betrogenen. Beharrlich hatte er sich geweigert, die österreichischen Kronen zu dem
von der Regierung festgesetzten Kurs in italienische Lire umzuwechseln.
„Wenn mir die Walschen etwas stehlen wollen, dann trag ich’s ihnen nicht auch noch nach.“
Die Kronen lagen nun als graue, vergilbte Papierbündel in seinem
Nachtkastel, traurige Erinnerungen an die „gute alte Zeit“, bis er sie
eines Tages uns Kindern als Spielzeug überließ. Wir rührten unter seiner Anleitung Mehlpapp und tapezierten mit dem wertlos gewordenen
papierenen Reichtum die ungehobelten Holzwände im Häusl.
Das Unglück mit den Kronen brachte den alten Mann vollends aus
der Fassung. „Ich werd mir doch nicht das Feuer ins Haus leiten!“,
sagte er, als unser Haus an den elektrischen Strom angeschlossen
werden sollte. Er hatte von Anschlüssen genug, und nur unter allerlei
betrügerischen Vorkehrungen war es möglich, „das Elektrische“ trotz
dem Widerstand des Alten ins Haus zu bringen.
Das Unrechte, die Unordnung hielten sich. Aber es wurde keine
Gerechtigkeit und keine Ordnung daraus. In muselmanischer Trägheit schickte sich der Großvater ins Unabwendbare. Er war längst
über siebzig. Die Wassersucht plagte ihn. Wenn er am Morgen vors
Haus ging, um mit dem von der Frühmesse kommenden Rogger
Jörgl, dem alten, einen kurzen Plausch zu machen (an sonnigen Sommertagen setzten sich die beiden auf die Bank unterm Kreuz und
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hatten da, im schattigen Frieden der Eschen, das ganze Tal vor Augen: die Rotwand, den Elfer, den Schuster, den Gsell), dann klagte er
schon nach ein paar Schritten über die schweren Beine und den kurzen Atem. Zur Feldarbeit taugte der Großvater längst nicht mehr.
Hin und wieder werkelte er in der Holzhütte oder in der Küche herum, bis die Großmutter oder die Mutter ihn fortschickte, zu uns, zu
den Kindern. Wenn er mit uns „Bauern-Abhausen“ spielte, ein primitives Kartenspiel zum Zählen lernen, wie er sagte, vergaß er für eine
Weile seinen finsteren Groll über die verkehrte Welt, in der nichts
mehr seine Ordnung hatte.
„Auch die Felder tun nicht mehr wie früher!“, sagte er zum Jörgl.
Der Nachbar sog an seiner langen Pfeife mit dem bunten Porzellankopf und nickte.
„Warum tun die Felder nicht, Nöhne?“ fragten wir.
Der Großvater war um Auskunft nicht verlegen. Die neue Grenze
hatte Sexten von unserer Muttergottes abgeschnitten, die drüben lag,
in Österreich. Früher war man, um eine gute Ernte zu erbitten, in
einer langen Pilgerfahrt nach Maria Luggau im kärntnerischen Lesachtal gewandert, einen weiten, mühevollen Weg über Almen und
Berge, ein bisschen Speck, Wurst, Käse und Schnaps als Wegzehrung im Rucksack.
„Und heut? Heut gehn sie nach Aufkirchen, zweieinhalb Stunden
hin, zweieinhalb zurück, über brettelebene Straßen, und kein
Mensch muss mehr um Mitternacht aufstehen wie wir früher. Eine
solche Kirchfahrt kann nicht ausgeben!“
Der Jörgl nickte ernst.
Jedes Mal, wenn alte Leute zusammenkamen, gingen sie im Geist
„in die Luggau“. Der Verlust der für sie zuständigen Muttergottes
schien sie schwerer getroffen zu haben als der Verlust des Kaisers
und des Bezirkshauptmanns. Nie habe ich darüber klagen gehört,
dass man nun zum Grundbuch und zum Gericht nach Welsberg
musste, dass man gezwungen war, sich den Advokaten in Bruneck
statt in Lienz zu suchen; derartige Veränderungen betrafen ja auch
nur die Äußerlichkeiten des bäuerlichen Lebens. Wenn aber die Felder nicht mehr „taten“, weil die Wallfahrten zur näheren und inkompetenten Muttergottes „nicht mehr ausgaben“, so griff dies ans Wesen der Dinge. Da lag die eigentliche Störung der Ordnung und da
konnte es auch keine Normalisierung geben.
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Die Dorfgemeinschaft lebt ja nicht nur im bitteren Schweiß der
Werktage und im gottgewollten Frieden der Sonn- und Feiertage;
was an Überbrachtem und Tradition in ihr wirkt, wird nicht nur in
der Farbenpracht der Prozessionen, in der Heiterkeit des Spiels oder
im Lärmen der Hochzeits- und Fastnachtsbräuche spürbar; es webt
als unsichtbare, unhörbare Atmosphäre um die Menschen. Sie
schwimmen in ihr wie der Fisch im Wasser. Die eigentliche Tradition ist das, was nicht wahrnehmbar und folglich auch nicht mitteilbar
ist – zu vergleichen etwa dem Gezwitscher der Vögel, dem fernen
Krähen eines Hahns und dem Rauschen des Waldes, die um einen
sind, auch wenn man meint, es herrsche lautlose Stille.
Der Fremde, der ins Dorf siedelt, wird erst dann zum Einheimischen, wenn er das Nichtwahrnehmbare verspürt, wenn er die Laute
des Tals in seine Sprache einschmilzt und die Geschichten des Tals
in sein Bewusstsein. Nicht Märchen oder Geistergeschichten. Ein
anderes scheint mir wesentlich: jede Landschaft, die mehr ist als ein
willkürlich zusammengebasteltes Verwaltungsgebiet, hat ihr eigenes
Schilda, irgendeinen Nachbarort, dem man in gutmütigem Spott alle
Schildbürgerstreiche anhängt und dessen Name außerdem dazu
dient, die Dummen im eigenen Ort zu bezeichnen. Unser Schilda
war Villgraten, jenseits der neuen Grenzen in Osttirol gelegen. Die
Villgrater hatten, um im Winter nicht immer Kälte leiden zu müssen,
im Hochsommer die Sonne in Kisten eingenagelt, aber vor lauter Eifer nicht bemerkt, dass sie ihnen durch ein Astloch wieder entwischt
war. Als auf dem Kirchturm Gras wuchs, hatten sie dem Gemeindestier dicke Stricke um den Hals gelegt und ihn dann an einer „Radltasche“, einer Art Flaschenzug, hinaufgezogen; auf halber Turmhöhe
streckte der Stier röchelnd die Zunge aus dem Maul. „Zieht fester!
Fester ziehn!“, schrie der Bürgermeister. „Es gelüstet ihn schon.“
Die Männer zogen, der Stier stieg höher; als er jedoch das Gras vor
der Nase hatte, war’s aus mit dem Appetit und mit dem Röcheln. Die
Villgrater warteten eine Weile, dann seilten sie das Tier ab. Und wie
es nun, gescheckt und mausetot, zu ihren Füßen lag, beschlossen sie
traurig, das Unternehmen im nächsten Jahr mit einem Ziegenbock
zu wiederholen. Der, meinten sie, habe einen längeren Hals. Wenn
man zu jemandem „du Villgrater“ sagte, so hatte dies einen ganz bestimmten Sinn (der indessen nicht die achtbaren Bürger unseres
Dorfes betraf, die sich Villgrater schrieben). Die Villgrater waren je[ 19 ]
doch, wenn es darauf ankam, auch schlagfertig und wortgewandt.
Als der Sillianer Dechant eines Tages beim Brevierbeten ein Bübl in
schweren, wasserscheuen Lodenhosen vor sich sah, fragte er: „Na,
Bübl, woher kommst du denn?“
„Aus Villgraten.“
„Aha, du bist so ein dummer Villgrater?“
„So dumm müssen wir nicht sein, Hochwürden“, antwortete der
Bub. „Wir haben erst einen zum Studieren schicken müssen und der
ist Pfarrer geworden.“
Das waren die Villgratergeschichten, die der Großvater und die
Großmutter uns erzählten. Villgraten war für uns ein wundersamer
Ort, halbwegs zwischen Märchen und Wirklichkeit, dessen grasbewachsenen Kirchturm wir gerne einmal gesehen hätten, auch auf die
Gefahr hin, uns durch solche Wünsche als dumme Villgrater auszuweisen.
Österreich war für mich in jenen Jahren, ehe ich zur Schule ging,
Maria Luggau mit den feierlichen Gewölben und dem strahlenden
Muttergottesaltar, dem schönsten, den man sich denken konnte, und
Villgraten mit seinen lustigen Menschen, über die es so viele seltsame Geschichten gab. Österreich waren die Zucker­hüte, welche die
Großmutter, im Kittelsack versteckt, heimlich über die Grenze
schmuggelte – für uns Kinder. Österreich waren der Schnupftabak
des Paters Kassian, das Feuerzeug des Vetters Michl, Vaters BauernZeitung und der fein duftende Zigarrenrauch, der als lichte Wolke
über dem Stubentisch schwebte, wenn der Vetter Franz „von drüben“
zu uns kam. Und in diesem Rauchwölkchen thronte der gute Kaiser,
halb Großvater und halb weißbärtiger lieber Gott, huldvoll lächelnd,
genauso wie er in der oberen rechten Ecke jener Fotografie abgebildet war, die den Vater in Kaiserjägeruniform zeigte.
Noch eins wusste ich: Österreich war verboten.
„Versteckt ’s Österreichische!“, schrie die Großmutter vom Brunnen
ins Haus, wenn sie mehr als zwei Finanzer daherkommen sah. Wir
versteckten alles, Feuerzeug, Sacharin und Zigaretten, sogar die
Spielkarten, denn auch die brauchten einen staatlichen Stempel und
für den Stempel war eine Steuer zu zahlen.
„Das hält sich nicht!“, brummte der Großvater, während er die Karten in den Nähkorb räumte. „Es kann sich nicht halten.“
[ 20 ]
Über das neue Dorf und die alten Bauern
Draußen, außerhalb des Tals, galten die Sextener als „besondere Rasse“. Man sprach halb verächtlich, halb respektvoll von der „Republik
Sexten“. Und was man der besonderen Rasse in dieser Republik nachsagte, war nach den allgemeingültigen Maßstäben nicht eben löblich:
Geschäftstüchtigkeit, Opportunismus, Schmuggel, politische Unzuverlässigkeit. Lang vor dem Weltkrieg hatte ein bedeutsamer Tiroler
Autor geschrieben, die Sextener wären überhaupt Italiener. In Wahrheit waren die Sextener nichts weniger als dies, obschon sie wie die
italienischen Nachbarn drüben im Cadore Frösche aßen, und im
Weltkrieg hatten sie ja auch allen gezeigt, wohin sie wirklich gehörten.
Trotzdem waren – und sind – sie anders als die Nachbarn: eben ein
von den Grenzen, den Sprach- und Staatsgrenzen, geprägtes Volk.
Sie haben gelernt, dass Sprachen zum Miteinanderreden nicht minder taugen als zum Streiten und dass man jenseits der Grenzen auch
wieder auf Menschen trifft. Was man draußen den Sextenern besonders übelnahm, waren aber das neue, schöne Dorf, der stolze Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges, der Wohlstand und
schließlich die Geschäftigkeit, welche Wiederaufbau und Kriegsentschädigungen dem Tal beschert hatten.
Das Dorf sah, verglichen mit anderen, älteren und vordem glücklicheren, wirklich prachtvoll aus. Großteils neue Häuser, blitzblanke
Hausfronten, ein großzügiger Platz und breite, wenngleich noch staubige Straßen. Das Glück der neuen Häuser war ihm widerfahren,
weil es vorher, im Krieg, das Unglück gehabt hatte, von der italienischen Artillerie in Schutt und Asche geschossen zu werden. Und
dieses Unglück wiederum war ihm zugestoßen, weil Sexten vorher,
im Frieden, das Glück gehabt hatte, Grenztal zu sein (vom Jahr 1866
an, als Österreich nach einem gewohnterweise gewonnenen Krieg
dank den Preußen und durch Vermittlung des dritten Napo­leon Venetien und Friaul an Italien verloren hatte). Und nun kam zum
Glück der neuen Häuser, der neuen Kirche und der neuen Schule
auch noch jenes, dass Sexten wiederum Grenztal war, in verkehrter
Richtung freilich, sodass auch das Glück sozusagen einen verkehrten
[ 21 ]
Drall erhielt. Früher war die Grenze über den Kreuzberg und die
reichlich unwegsamen Dolomitengipfel und -kare verlaufen; jetzt zog
sie sich über die Verlängerung des Karnischen Kamms bis zur Helmspitze. Für die Schmuggler war das kein schlechter Tausch. Sie hätten ganze Viehherden über den Helm treiben können, wären nicht so
viele Finanzer und Carabi­nieri im Tal gewesen.
Eines musste man den Italienern nämlich lassen: so knausrig der
neue Staat seine Bürger mit Rechten bedachte, so großzügig war er
auf dem Gebiet der Exekutive. Allein in Sexten saßen, mitten im
Frieden, zeitweise annähernd so viele Carabinieri, Finanzer und später Milizler, wie im Mai 1915 – als Italien in den Krieg eingetreten
war – Österreicher und Sextener zur Verteidigung des gesamten
Frontabschnitts aufgeboten werden konnten. Damals hätten die Italiener, so erzählten die alten Leute, mit Landauern vom Kreuzberg
durchs Tal nach Innichen fahren können, so dünn war die Front
besetzt­. In den beiden Festungswerken, am Mitterberg und am Eingang zum Fischleintal, stand kein einziges Geschütz, doch entzündete man mehrmals täglich Feuer, um den Italienern starke Besatzungen mit gewaltigem Küchenbedarf vorzutäuschen.
Aber es waren nicht nur die vielen Finanzer, die „Filzläuse“, die die
neuen Grenzen odioser erscheinen ließen als die einstigen. Die alte
Grenze war eins gewesen mit der Sprachgrenze: hüben hatte man
Deutsch geredet, drüben Italienisch; und manche Väter hüben und
drüben hatten die Buben ausgetauscht, um sie die andere Sprache lernen zu lassen. Obschon die alte Grenze zwei Völker schied, war sie
doch recht durchlässig gewesen. Von der Nemes-Alm konnte man jederzeit hinübergehen in die „walsche Kaser“, wo die notigen Bauern
aus dem Comelico ihre Wiesen und Weiden hatten, und dort einen
lauen Juliabend vertratschen. Und über den Kreuzberg kamen scharenweise Italiener aus dem Cadore zur Arbeits­suche ins Österreichische. Jetzt aber, da die Grenze mitten durch die jahrhundertealte
Nachbarschaft ging, mitten durch die Landschaft unserer Geschichten, unserer Wallfahrten und unserer Verwandtschaften, gab es diese
Durchlässigkeit nicht mehr. Grenzscheine waren teuer und rar, zeitweise gab es überhaupt keine oder man bekam sie nur gnadenhalber in
besonders dringenden familiären Fällen. Auch das war ein Zeichen der
neuen Zeit, dass der Wahnsinn der Kriegsfronten in den Frieden hinein prolongiert wurde.
[ 22 ]
Die Sextener achteten zunächst nicht darauf. Die nackte Not der
Abbrändler, das Elend der Bauern, die bei der Heimkehr verwüstete
Häuser, leere Ställe und verheerte Felder angetroffen hatten, und
schließlich der allgemeine Wunsch, endlich wieder ein Dach überm
Kopf und ein Trumm Gselchtes im Topf zu haben; das alles war in
den ersten Jahren nach Kriegsende und Anschluss stärker als das
Unheil der Grenzen und jene großpolitischen Umwälzungen, die
man in heil gebliebenen Dörfern viel intensiver empfand. Dann folgte die hektische Geschäftigkeit des Wiederaufbaus, in welcher jeder
jedem half, wie es in Notzeiten üblich ist. Jeder leistete seine Frontschichten für die gemeinschaftlichen Bauten, vor allem für Notkirche, Kirche, Schule und Gemeindehaus. Jeder baute, oft unaufgefordert und auch auf die Verköstigung verzichtend, in Robotschichten
an den neuen Häusern der Abbrändler mit, sodass ein jeder mit Fug
und Recht auf all das Neue stolz sein konnte: es hatte ja jeder mit
Hand angelegt. Gewiss, für den Wiederaufbau der zerstörten Gemeinde war auch von anderer Seite viel geleistet worden: Freunde
des Dorfes hatten in Österreich, besonders in Wien, große Geldmittel aufgebracht. Der italienische Staat griff gleichfalls tief in die Kassen und bezahlte den Sextenern die Kriegsschäden rascher als anderen, selbst italienischen Gemeinden. Aber meinen Sie, das hätte
etwas genützt, wenn sich die Sextener nicht selbst gerührt, wenn sie
wegen der politischen Umwälzungen nur Trübsal geblasen hätten?
Im Gegenteil, den Leuten im Tal gebührt das erste Verdienst an der
stolzen Wiederaufbauleistung, namentlich jenen Männern, die – entweder als Vorsteher oder in andrer Hinsicht einflussreich – den Behörden einzureden vermochten, wie wichtig der Bau neuer Häuser an
Stelle der rußigen Ruinen sei, zumal alles Neue ihren, der Behörden,
Großmut beweisen würde, die Ruinen aber die stete Erinnerung an
erlittene Unbill wachhielten. Man muss sich nur vorstellen, was einem richtigen Vieh- und Fellhändler an diplomatischen Kniffen und
heuchlerischen Schnörkeln alles einfällt, wenn er beschließt, das vorderhand ohnehin darniederliegende Gewerbe einstweilen mit der Politik zu vertauschen.
Schon in den letzten Oktobertagen von 1923 hatte Sexten, wie der
Chronist an die Zeitung in Bozen meldete, das „große Weihe- und
Dankfest beziehungsweise das Wiegenfest für Neu-Sexten gefeiert“.
Doch hatte die Bautätigkeit im Tal nach dem nämlichen Chronisten
[ 23 ]
auch im Februar 1924 „noch nicht ihren Abschluss gefunden“. Da es
an Geld nicht mangelte, ließ man sich die Sache etwas kosten: Die
Pläne stammten von erstklassigen jungen Architekten; junge Maler
und Bildhauer wurden berufen, die Kirchen in Sankt Veit und in
Moos sowie die Arkaden des Friedhofs, der sich in drei aufsteigenden Terrassen an den sonnseitigen Berghang schmiegt, auszuschmücken.
Man war wahrhaft avantgardistisch, wie sich’s für Sexten gehörte.
Die alten Bauern dachten mit einiger Wehmut an die Fresken in der
alten, im Krieg zerschossenen Kirche und an die marmorne Faltenpracht alter Apostelstatuen. Das Neue war zu neu für sie. Kein Lebender hätte beispielsweise gewagt, im Unbekannten Soldaten vom
Kriegerdenkmal einen der Toten des Dorfes wiederzuerkennen, so
sehr wäre ihm jede Ähnlichkeit mit dem wesenlos kalten Helden aus
rötlichem Sandstein als Schimpf erschienen. Aber draußen, außerhalb des Tals, trat auch der ärgste Fanatiker des Alten für den steinernen Helden ein.
Am ehesten freundeten sich die Alten noch mit den heiteren Pastelltönen des Totentanzes von Rudolf Stolz an. Wenn man vom
Kirchplatz die breite, granitene Treppe zur Kirche hinaufsteigt, erreicht man oben, vier oder fünf Stufen unter dem Niveau der ersten
Friedhofterrasse, eine Plattform, über der sich eine Kuppel wölbt.
Und hier ist man von den Bildern des Totentanzes umgeben. An
Sonn- und Feiertagen, nach dem Hauptgottesdienst, verweilten die
Männer ein paar Minuten lang unter dieser Kuppel, gerade so lange,
um die Pfeife zu stopfen oder eine Zigarette zu wuzeln; dann kam
der breite Strom dunkel gekleideter Bauern, behäbig und lärmend
und ohne Spur von Eile, die Treppen herab bis zum kleinen Kirchplatz. Viele blieben auf den Stufen stehen: da tauschte man Kundschaft über Vieh und Mensch und beredete Händel und Heiraten,
bis der Gemeindeschreiber oder, in späteren Zeiten, der Lehrer auf
der unteren Plattform neben dem hölzernen Sankt Christophorus
seine Papiere entfaltete und mit lauter Stimme verlas, was die Behörde den Untertanen an Amtlichem mitzuteilen hatte: Steuertermine,
neue standesamtliche Bestimmungen für Heiraten und Taufen,
Stierkörungen, Einschreibungen für die Volksschule und Ausmusterungen fürs Militär. Über all dem feiertäglichen Geschehen (denn
auch die Verlesung der vom Lehrer in steifes Beamtendeutsch über[ 24 ]
setzte Kundmachungen geschah stets in überaus feierlichem Tone)
schwebte wie ein milder Schatten die beinahe heitere Melancholie
des Stolzschen Totentanzes: der junge Mann, der mit frohem Mut
und vollem Ranzen in die Zukunft aufbrach; das Mädchen, das – selig lächelnd – von einem Leben voller Blüte träumte; das schlummernde Kind in den Armen der Mutter – fürchteten sie den Tod, der
hinter ihnen stand? Der Sensenmann war hier viel weniger schreckenerregend als auf anderen Bildern, die ich kannte. Sein Gerippe
war nicht von der kalkigen Blässe des toten Gebeins, es sah aus, als
wäre Leben in ihm. Und die Sense hatte nicht die unerbittliche Kälte des grauen, tödlichen Stahls. Wie hätte etwas, das lebte, das
Ende, den Tod bringen können?
Alles war hier künstlerisch sehr wohl bedacht; jedes Detail hatte
seinen Sinn in der ganzen Anlage: die Kirche, die paar Schritte
durch die unterste Terrasse des Friedhofs, die Kuppel mit dem Totentanz als der eigentliche Mittelpunkt, wo Leben und Tod, Alltag
und Feiertag, Diesseits und Jenseits einander begegneten, und von
da ausgehend die festen granitenen Stufen hinab zum Kirchplatz und
weiter, am Schul- und Finanzerhaus vorbei, zum Postplatz, wo das
Gemeindehaus stand. Welchen Weg man auch ging, ob vom Gemeindehaus zur Kirche oder umgekehrt, man war eingefügt in die
Gemeinschaft von Lebenden und Toten, man bewegte sich durch sie
hindurch; und die Natürlichkeit der Übergänge von einem Reich ins
andere bewirkte, dass man die Toten nicht als etwas Abwesendes,
Gewesenes begriff und sich selbst nicht als etwas Flüchtiges, Vorübergehendes, sondern alles als ein System aufsteigender Treppen, in
welchem jede Stufe, jeder Stein wesentlich war.
Die Tatsache, dass zur künstlerischen Ausgestaltung der zwei neuen Kirchen und des Friedhofs nicht altbewährte Meister berufen
worden waren, sondern junge Talente, die im Neuen auch Neues
wagten (wenngleich ihr Wagnis sich nicht mit der Kühnheit der großen Suchenden jener Jahre messen wollte), diese Tatsache also zeigt,
dass beim Wiederaufbau autoritative und vielleicht auch autoritäre
Männer am Werk waren, die ohne viel zu fragen entschieden, was zu
geschehen und was zu unterbleiben hatte, eine Elite, eine Oberschicht. Das Volk stand – murrend oder verwirrt oder auch nur unbeteiligt – abseits. Es wurde von niemandem nach seinem Urteil
über die schließlich doch mit Geld der Allgemeinheit bezahlten
[ 25 ]
Kunstwerke befragt. Das hatte dumpfen Unmut zur Folge und gelegentlich kam es am Wirtshaustisch auch zu bösartigen Sticheleien.
Der weißhaarige Lahner Göd (alle im Tal nannten ihn Göd) sagte
dem Vorsteher, in dessen Amtszeit der Wiederaufbau stattgefunden
hatte, vor allen Leuten ins Gesicht, auf den Kreuzwegstationen der
Pfarrkirche sei der bravste und frömmste Apostel, nämlich der Johannes, der ja auch der schönste gewesen sei, hässlich wie anderswo
der linke Schächer, und unserem linken Schächer wolle er in Gottes
Namen niemals bei Nacht begegnen. „In der Sterbestunde soll er dir
erscheinen, dein linker Schächer!“, lästerte der Göd.
Die gröbste Kritik kam aber vom Stabinger „Wilden“. Dieser trotz
seinem Übernamen gutmütige und letztlich auch kluge Kauz (er war
ledig, und die ewige Abstinenz macht mit den Jahren alle „alten Buben“ schrullig) hielt dem Pfarrer einmal auf dem Kirchplatz den
künstlerischen Unfug der neuen Kirchen vor:
„Wenn die Engel im Himmel wirklich solche Muskeln haben wie
die in der Mooser Kirche, dann, Herr Pfarrer, das sag ich Ihnen,
dann pfeife ich auf die himmlischen Freuden.“
Aber sogar der „Wilde“, der daheim die Mooser Engel als „fliegende
Rösser“ bezeichnete, schwor draußen in Innichen auf dem Markt
Stein und Bein, dass unser linker Schächer der freundlichste der Welt
und die Mooser Posaunenengel die lieblichsten des Himmels seien.
Es war ja wirklich schwer, den alten Bauern alles recht zu machen.
Sogar die neue Straße störte sie, weil nun die „Stinkteufel“, die Autos, ins Dorf kamen, vor denen die Rösser scheuten wie vor dem
Leibhaftigen. Wehmütig erzählten sie von den Zeiten vor dem Krieg,
da es den Autos verboten gewesen war, nach Sexten zu fahren, und
da ein einfacher Gemeindepolizist, das Gamatzmandl, den Generaloberst Dankl an der Lanzinger Säge aufgehalten und zum Umkehren
gezwungen hatte. „Nichts da, Euer Gnaden“, hatte er gesagt. „Nach
Sexten fährt man nicht per Auto. Nur per Ross.“ Und als das Auto
des Generals gewendet hatte, war das Gamatzmandl noch einmal
ganz nahe hingegangen und hatte – gewissermaßen zur Erläuterung
des Sachverhalts – hinzugefügt:
„Es ist wegen der Herrschaften. Die sind zu fein zum Staubschlucken. Sie ja auch, Euer Gnaden.“
Der hohe Herr hatte seine Inspektion äußerst ungehalten mit einem noblen ärarischen Pferdegespann fortsetzen müssen.
[ 26 ]
„Sakra, das waren dir Zeiten, früher!“, staunten die Alten und
sonnten sich nachträglich in der Machtvollkommenheit des Gemeindepolizisten von einst, der nicht mehr und nichts Besseres gewesen
war als sie alle und dennoch außergewöhnlich, wenn man ihn an den
neuen Verhältnissen maß.
Die neuen Verhältnisse stellten sich auch mit neuen Namen ein.
Der Hauptort, das Zentrum von Sexten, hieß fortab San Vito, das
war die wörtliche Übersetzung von Sankt Veit und soweit richtig, obschon die Pfarrkirche den heiligen Aposteln Petrus und Paulus geweiht war und der feuerlöschende Vitus nur als Subalternpatron
wirkte. Das Unterdorf, Schmieden, wurde Ferrara getauft. Und
Moos, zuinnerst im Tal, wurde je nach Laune der Behörden bald als
Moso, bald als San Giuseppe bezeichnet. Erst mit den neuen Namen
wurden die Sextener so recht des Unheils gewahr, das sich da – während sie weltvergessen mauerten und zimmerten – eingeschlichen
hatte und das sich nun ausbreitete wie die Pest.
Wie hatte das geschehen können? Hatten unsere Vorsteher und die
vermögenden Leute im Tal vielleicht die Hand auch dazu geliehen?
Die schon erwähnte moderne und autoritäre Elite von Bürgern hatte
ja im Namen der Gemeinschaft den Wiederaufbau vollbracht, die
Auszahlung der Kriegsentschädigungen in die Wege geleitet, den
Bau der Straße erwirkt, ein auch in den Zeitungen gewürdigtes Mäzenatentum initiiert und derart eine gewisse „Normalisierung“ von
oben bewirkt. Damit all dies möglich war, mussten sie sich natürlich
mit den Behörden gut stellen und diesen in mancherlei Hinsicht
auch Dankbarkeit bezeugen. Und wirklich scheint das faschistische
Unheil auf solchen Schleichwegen ins Tal gelangt zu sein. Im April
1924, bei der Parlamentswahl, statteten die Sextener ihren Dank ab:
Etliche über hundert wählten die Liste Mussolinis, nur um etwa
zwanzig mehr hielten dem „Deutschen Verband“ die Treue. Man
wählte und vergaß. Später habe ich keinen gefunden, der nach eigener Aussage 1924 nicht „deutsch“ gewählt hätte.
Doch waren damals sogar Grafen, Barone und studierte Leute einerseits den wirtschaftlichen Verlockungen, mit denen der Faschismus warb, anderseits dem Parolengetöse vom gerechten, starken
Staat, vom „Kampf gegen die Roten“ erlegen – wie hätte dies nicht
auch Leuten widerfahren sollen, die wohl ahnen mochten, dass allein das Schwarzhemd sie davor bewahren konnte, die Verwaltung
[ 27 ]
der neu aufgebauten Gemeinde, der schönsten des Landes, in fremde Hände legen zu müssen? Und lag nicht vielen das neue Haus näher als das alte Vaterland? Diese Haltung ist sicherlich nicht patriotisch im landläufigen Verstand, aber sie ist menschlich: denn die
Heimat beginnt mit dem Beheimatet-Sein und wer die Treue zum
Volk losgelöst von der Heimat verstünde, wäre ein unvernünftiger
Schwätzer oder der Patriot einer Abstraktion, eines Wahns.
Nun aber wurden die neuen Verhältnisse wahrhaftig zu bunt.
Alles im Dorf verlor seinen Namen. Der Vorsteher verlor – trotz
Wahlausgang und Schwarzhemd – sein Amt. Die alten Lehrer wurden
aus dem neuen Schulhaus vertrieben. Die Zukunft hatte begonnen.
[ 28 ]
Über Geister und außerirdische Kräfte
Wir hatten eine Nachbarin, die Threse hieß. Sie buk das beste Brot
weit und breit, und wir Kinder schlichen, sooft wir konnten, in ihre
Küche und baten um ein Stück hartes Brot:
„Threse-Mutter, bitt schön um ein paar Brücke!“ „Brücke“ sind
kleine Brocken harten Roggenbrots. Die Mutter schalt uns, wenn sie
von diesen Brotbittgängen erfuhr.
Viele Leute sagten von der Nachbarin, sie sei bös. Zu uns Kindern
war sie’s nie, auch wenn sie mit dem Vater prozessierte. Sie nahm
uns sogar gegen die älteren eigenen Kinder in Schutz, von denen vier
schon ausgeschult waren, ehe wir in die Schule kamen. Aber wenn
der Schattseiter Seppl mit dem Ross bei uns fuhrwerkte, stänkerte er
laut, dass die Nachbarin es hören musste:
„Wo eine Liese im Haus ist, braucht’s keinen Hund. Und wo eine
Threse ist, braucht die ganze Nachbarschaft keinen.“
Das war eine ausgesprochene Dummheit, denn wir hatten sogar
zwei Hunde. Die Nachbarin war Witwe. Ihr Mann war an der
Schwindsucht gestorben. Sie musste sich, auch um der Kinder willen, ihrer Haut zu erwehren trachten. Dabei mag sie mitunter übers
Ziel geschossen haben, denn ein geschliffenes Maul besaß sie, und
sie benützte es auch.
Doch was man der Nachbarin eigentlich ankreidete, betraf gar
nicht sie, sondern ihre längst verstorbenen Eltern: es war eine Geschichte, die weit zurücklag, die man sich jedoch immer noch in allen Stuben erzählte, als hätte sie sich erst gestern zugetragen, und
die als grausamer Fluch über dem Nachbarhaus hing.
Irgendwann im vergangenen Jahrhundert, als die Threse noch ein
Kind gewesen, das einzige ihrer Eltern, war über der Palmenstadt,
einem nach den vielen Palmweiden benannten Ortsteil, eine gewaltige Mure niedergegangen und hatte ein Haus verschüttet; ein Kleinhäuslerehepaar und eines der acht Kinder hatten in den Trümmern
den Tod gefunden. Die anderen sieben standen nun hilflos da und
der Herr Pfarrer nahm es auf sich, sie bei guten Leuten unterzubringen.
[ 29 ]
Mit dem Kleinsten, dem vierjährigen Adolf, sprach er eines Morgens beim Nachbarn vor. Er traf den Bauern und die Bäuerin im
Stall an; in der Nacht war ein Stierkalb zur Welt gekommen. Der
Pfarrer trug den Eheleuten sein Anliegen vor. Der Bauer, Blasius mit
Namen, stellte die Mistgabel an die Wand, nahm den Hut vom Kopf
und kratzte sich die Glatze. Er überlegte:
„Das Bübl da nehmen?“
Die Bäuerin mischte sich ein:
„Nein, nein, Hochwürden, daraus wird nichts. So dick haben wir’s
nicht.“
„Aber es ist ein gutes Werk, und der Himmel wird’s euch lohnen!“,
sagte der Pfarrer.
„Nein, Hochwürden, sag ich, so dick haben wir’s nicht, dass wir
uns so mir nichts dir nichts gute Werke leisten können. Das Bübl
nehmen? Es gibt bessere Leut im Tal. Das Bübl nehmen? Nein, Blasius, da ziehn wir schon lieber das Stierkalb auf!“
Der Blasius wagte nicht zu widersprechen.
„Recht hat sie, die Mutter. Da ziehen wir schon lieber das Stierkalb
auf.“
Der Pfarrer ging. Der Bub kam zu anderen Leuten, studierte und
wirkte später als Priester und Schriftsteller in Wien. Er wurde ein
berühmter Mann.
Als der Stier vier Jahre alt war, gabelte er die Bäuerin, die ihn von
der Tränke zum Barren treiben wollte, auf die Hörner und drückte
sie an die Mauer. Die Frau starb noch am selben Tag. Der Blasius
überlebte sie nur um ein paar Jährlein, dann erlag er einem „tückischen Lungenleiden“. Den Fleck an der Stallmauer, wo der Stier der
alten Nachbarin „die geizige Seele aus dem dürren Leib“ gedrückt
hatte, konnte man zu meiner Zeit noch sehen.
Seither war im Nachbarhaus kein Segen mehr. Das Vieh tat nicht
und die Menschen starben wie die Fliegen; sie hatten es alle „auf der
Lunge“. Und wo der Himmel so offensichtlich grollte, durften die
Menschen, die „guten Leute“, doch nicht zurückstehen. Die Nachbarin war also böse geworden ohne ihr Zutun; und obwohl niemand im
Tal wusste, ob sich damals mit dem Bübl und dem Stierkalb alles so
zugetragen hatte, wie man’s erzählte, so waren doch alle davon überzeugt, dass dieses ferne Ereignis auch ihnen das Recht gab, Steine
auf die ohnehin schon schwer Getroffene zu werfen.
[ 30 ]
Durch unsere Kindheit spukten immerzu Geister, Teufel und das
geheimnisvolle Walten überirdischer Kräfte. Wenn die Alten, von denen wir die Geschichten erfahren haben, recht hatten, dann funktionierten die überirdischen Kräfte bisweilen als transzendente, metaphysische Justizbehörde. Für mich ist dabei auch heute noch
bedrückend, dass ich all dies von Menschen gehört habe, die von der
Wahrheit ihrer Berichte überzeugt waren und die keine Flausen im
Kopf hatten. Es erschien ihnen ganz natürlich, dass eine überirdische Justiz, die ja in jedem Fall gründlicher sein musste als die irdische, die Unterlassung einer einzigen guten Tat mit einem Massensterben innerhalb der Familie der Sünder zu ahnden und die Buße
bis ins zweite oder dritte Glied auszudehnen bereit sei.
Der Vetter Michl, der Bruder des Vaters – er lebte in jenen Jahren
noch bei uns –, lachte über alle landläufigen Geistergeschichten. Für
ihn gab es keine Hexen und keinen Zauber, und er hielt auch der
Nachbarin die Stange, wenn andere Leute das alte Zeug aufwärmten. Und dennoch stieß ihm eines Tages etwas zu, das ihn bis an sein
Lebensende beschäftigte. Er war ein Fuhrmann und Jäger; da musste er schon mit beiden Füßen auf dem Boden stehen.
Der Michl hatte zwei Jagdgefährten, den Ladstätter Franz und den
Kalkbrenner Jakob. An einem Abend im Spätherbst kam der Franz
und forderte den Michl auf, am nächsten Morgen mit ihm und dem
Jakob auf die Gämsen zu gehen. Der Michl aber hatte eine Fuhre versprochen und musste die beiden allein gehen lassen. Am nächsten
Abend kam er spät, es war schon dunkel, nach Hause: verstört und
käseweiß im Gesicht trat er zu uns in die Küche. Er habe, erzählte er,
zuerst das Ross in den Stall gebracht und versorgt; dann sei er vom
Futterhaus zum Feuerhaus gegangen. Plötzlich habe er das Gefühl
gehabt, es starre ihn jemand vom Söller aus an, es geschehe einem ja
häufig, dass man spüre, auf der Haut sozusagen, wie einen jemand
anstarrt. Er habe also zum Söller hinaufgeschaut, und oben, auf dem
Geländer, sei der Jakob gesessen, die Büchse im Anschlag, und habe
auf ihn, den Michl, gezielt. Er, der Vetter Michl, habe ihm zugerufen:
„Du Narr, was fällt dir ein, das bin doch ich!“
Aber da sei der Kalkbrenner schon verschwunden gewesen, wie
von der Nacht verschluckt.
Wir zitterten vor Spannung und Furcht. Niemand wagte, durchs
Fenster hinauszusehen. Der Vater sagte:
[ 31 ]
„Aber geh! Wenn du vor dem Haus geredet hättest, hätten wir es ja
gehört.“
„Und die Hunde hätten gebellt. Sie haben aber erst gebellt, wie du
das Tor aufgemacht hast“, ergänzte die Mutter.
Der Michl schüttelte den Kopf; er habe den Jakob gesehen, und
außerdem habe der Sultan, der Wolfshund, gewinselt und nicht gebellt. Niemand von uns hätte mehr zu sagen gewusst, ob der Sultan
wirklich gewinselt hatte. Doch da fiel der Großmutter ein, was längst
einem anderen hätte einfallen können:
„Wenn’s der Kalkbrenner gewesen war, was du gesehen hast, Michl,
dann hätte es ja der Geist vom Kalkbrenner sein müssen. Aber der
Kalkbrenner lebt ja. Es kann also nicht sein Geist gewesen sein.“ Dabei blieb es für den Abend. Schlotternd vor Angst krochen wir Kinder
in die Betten. Am Morgen kam die Großmutter von der Frühmesse:
„Sie haben das Sterbegebet für den Jakob gebetet“, sagte sie. „Er ist
gestern auf der Jagd in eine Lawine gekommen.“
Der Kalkbrenner hatte sich also doch beim Vetter Michl „angemeldet“. Der Michl ließ für die arme Seele eine Messe lesen und wehrte
sich mit Händen und Füßen dagegen, sein Erlebnis als „Geistergeschichte“ einstufen zu lassen. Aber es half nicht viel.
Das „Anmelden“ ist aber eine Sache für sich, die nach Auskunft
gescheiter Leute, auch unseres Pfarrers, mit dem Geistern nichts zu
tun hat.
Insgesamt scheinen diese Geschichten – abgesehen von ihrem Fabulierwert, der darin bestand, dass der Erzähler sich als mehr oder
minder unmittelbarer Zeuge einer außergewöhnlichen Begebenheit
aufspielen konnte – in der bäuerlichen Gesellschaft eine ethische
Funktion erfüllt zu haben. Das zunächst nur „nicht alltägliche“ Ereignis wird durch Ausschmückungen und Ergänzungen so manipuliert,
dass es zum „außergewöhnlichen“, „übernatürlichen“ wird, und dann
leitet man daraus moralische Schlüsse ab. Diese betreffen in erster
Linie wohl den Menschen, welchem die besondere Begebenheit zugestoßen ist, sie erlangen aber durch die Art, in der sie vorgebracht
werden, allgemeine Gültigkeit. Die Geschichten werden damit Illustrationen zu Verhaltensmaßregeln. So ist es nicht verwunderlich, dass
die folgende über den Tod der Sternwirtskellnerin meiner Schwester
und mir von der Nachbarin mit mahnend erhobenem Finger erzählt
wurde, als sie uns einmal im Friedhof beim Blumenpflücken ertappt
[ 32 ]
hatte. Beim Sternwirt saßen, wie es an Sonntagabenden üblich war,
zu später Stunde noch einige Bauern in der Gaststube und tranken.
Die Kellnerin war ein großes, kräftiges Weibsbild mit einem Mundwerk wie ein Schlosshund. Gegen Mitternacht häkelte sie einen reichen Bauern, der die ganze Zeit mit seinen Heldentaten im Krieg
aufgeschnitten hatte:
„Na, wenn du schon so schneidig bist, wie du sagst, warum gehst
du dann nicht auf den Friedhof und holst ein Kreuz von einem Grab?
Geh, hol’s und bring’s in die Gaststube, da her!“
Die Männer lachten. Der reiche Bauer wusste nicht, was er sagen
sollte:
„Ich? Jetzt um Mitternacht? Auf den Friedhof?“
„Ja, du!“, bohrte die Kellnerin. „Traust dich oder traust dich nicht?
Bei Tag kann das jedes Kind.“
„Du gefällst mir. Zur Geisterstunde ein Kreuz vom Friedhof holen,
wo wir erst vor drei Wochen die Nonna begraben haben; du gefällst
mir, ein Grabkreuz holen, um Mitternacht!“
Der reiche Bauer war kleinlaut geworden. Die Nonna war seine
Großmutter gewesen; manche Leute in Sexten sagten Nonna zur
Großmutter, andere Nahndl.
Die Kellnerin lachte spöttisch.
„Maul aufreißen und die Hosen voll haben.“
„Traust du dich?“ fragte der Bauer.
„Wenn’s etwas tragt! Was tragt’s?“
Der Bauer zog seine Brieftasche, legte protzig einen Hunderter auf
den Tisch und schrie, plötzlich wieder herrisch-selbstbewusst:
„Da, an Hunderter tragt’s. Gehst du? Wenn du gehst, da ist der
Hunderter.“
Die Kellnerin ging. In der Runde wurde es still. Der Hunderter lag
auf dem Tisch: der König, der italienische, lächelte säuerlich von der
Banknote. Es dauerte keine zehn Minuten und die Frau trat mit einem Grabkreuz, einem Holzkreuz für arme Leute, in die Stube.
„Bravo! Die traut sich! Die ist kalt!“, schrien die Bauern durcheinander.
„Her mit dem Hunderter!“, sagte die Kellnerin, lehnte das Kreuz
an den Tisch und ließ den Geldschein im Kittelsack verschwinden.
„Schäm dich vor der!“, meinte einer zum Bauern, der den Hunderter spendiert hatte.
[ 33 ]
„Ich mich schämen? Hast du die Nonna begraben oder ich? Kann
ich mir ein Sakrileg leisten? Was heißt da: schäm dich!“
Er legte einen Fünfziger auf den Tisch. Seine Augen schimmerten
feucht. Er lallte:
„Den bekommst du, wenn du das Kreuz zurückträgst und wieder
ins Grab steckst.“
„Gib her!“, erwiderte die Kellnerin. Sie nahm das Geld und steckte
es ein. Dann verließ sie mit dem Kreuz die Gaststube.
Die Männer warteten. Es schlug Mitternacht.
Die Männer tranken und lärmten. Schließlich tauchte die Wirtin
auf, um nach dem Rechten zu sehen und Sperrstunde zu machen;
vielleicht, meinte sie, werde die Kellnerin mit den Gästen nicht fertig. Zögernd berichteten die Gäste, was vorgefallen war. Der reiche
Bauer räsonierte:
„Das Luder ist mit meinem Geld auf und davon. Ich zeig sie an,
das Luder!“
Als mehr als eine halbe Stunde vergangen war, wurden alle unruhig. Die Wirtin überredete die Männer, auf den Friedhof zu gehen
und nachzusehen. Sie gingen, alle mitsammen. Als sie zum Friedhofstor kamen, sahen sie einen dunklen Haufen auf einem Grab ohne
Kreuz. Es war die Kellnerin; sie lag mit dem Gesicht nach unten auf
dem Grabkreuz, tot.
Die Nachbarin erzählte weiter:
„Es war das Grab der Huterischen, einer ehrbaren ledigen Jungfrau. Meint ihr, die gute Seele hätte sich diesen Frevel gefallen lassen, die arme Haut? Sie hat herausgegriffen aus dem Grab und das
Luderweib an den Füßen gepackt. Und da hat der Teufel die Kellnerin geholt, die sakrilegische. Was den Toten gehört, gehört den Toten.“
Dann mahnte sie:
„Betet ein Vaterunser für die armen Seelen und stehlt nie wieder
Totenblumen!“
Ich hörte die Geschichte von der Sternwirtskellnerin noch oft: seltsamerweise waren sich die Erzähler nur über die Frauensperson einig, die Namen der am Geschehen beteiligten Bauern wechselten
dagegen; es wollte offenbar keiner solche Leute in den Fall verwickeln, mit denen er gut stand. Gerade das aber bewirkte bei mir
nicht nur Zweifel an der Wahrhaftigkeit, sondern auch eine allmähli[ 34 ]
che Verschiebung der Sympathien. Zuerst hatte ich in der sakrilegischen Kellnerin nichts als das Teufelsweib gesehen, das alle in ihr
sahen. Nach und nach erschien sie mir aber als Opfer. Und als ich
größer war, bat ich unsern Gemeindearzt, von dem ich wusste, dass
er die Tote untersucht hatte, mir den Sachverhalt zu erläutern. Dr.
Habeler sagte:
„Es war ein Herzschlag. Die Frau – sie war aufs Geld aus wie der
Teufel auf die unsterbliche Seele – muss schon in großer Erregung
auf den Friedhof gekommen sein. Dort versuchte sie, das Kreuz so
rasch wie möglich ins Grab zu stecken, sie musste ja zurück zum
Sternwirt, Sperrstunde machen. In der Eile verfing sich ihr langer Rock in der Spitze des Holzkreuzes: ich habe den Rock der Toten
untersucht, er war innen und außen erdig und oberhalb des Saumes
zerrissen. Dabei muss sie derart erschrocken sein, dass buchstäblich
ihr Herz stehenblieb. Wenn gleich ein Arzt dagewesen wäre …“ Dr.
Habeler sprach nicht zu Ende, was er dachte.
Ich trumpfte daheim in Anwesenheit der Nachbarin mit dem Wissen des Arztes auf. Die Nachbarin schalt mich wieder:
„Der Bub fragt?! Der getraut sich zu fragen?! Merk dir, bei so etwas
fragt man den Pfarrer und nicht den Doktor. Was weiß ein Doktor
schon von der ewigen Ruhe!“
Und, an die Mutter gewandt, fügte sie hinzu:
„Der fragt! Da kannst du noch etwas erleben!“
Dr. Habeler fand keinen Glauben.
[ 35 ]
Über eine Wahl und was ein Bauer darüber erzählt
Ich ging noch nicht zur Schule, als ich die ersten Spottlieder und
-gedichte auf die „Walschen“ lernte. Es war der Nachbar Peppe, der
sie mir beibrachte, der jüngste Sohn der Nachbarin. Die Lieder und
die Spottverse lauteten:
Noi siam’ piccoli balilla,
der capo squadra ist der Müller,
die andern sind nur Scheißer,
und der ärgste ist der Meisser.
Oder:
Giovinezza, walscher Fetzer!
Buona sera, walscher Plärrer!
Wir sangen diese Verse zur Melodie bekannter faschistischer Lieder
und bekamen von den Eltern Ohrfeigen dafür. Die Existenz dieser
Art primitiver Volksliteratur zeigt indessen, dass der Faschismus sich
im Dorf solid etabliert hatte, dass es einheimische Faschisten gab,
dass der einheimische Müller die Balilla und der einheimische Meisser die Giovani Italiani anführte.
Als ich viele Jahre danach von einem Mann, der’s hätte wissen
müssen, zu erfragen versuchte, wie der Faschismus ins Tal gekommen war, erwiderte er:
„Ich könnt’s nicht sagen. Auf einmal war er da.“
Sicherlich hätte er mehr zu sagen gewusst, wenn er gewollt hätte;
doch wollte selbst dieser sorgsam ausgewählte Gewährsmann, der
nie das Schwarzhemd angezogen hatte, mit gewissen Dingen nicht
herausrücken. Der Faschismus war insofern da, als es Leute gab, die
der Partei und deren verschiedenen Organisationen angehörten,
doch verhielt es sich damit ähnlich wie mit den italienischen Aufschriften; das Gemeindehaus trug die Aufschrift „Municipio – Comune di Sesto“; das Gemeindewappen, die Drei Zinnen mit einer
[ 36 ]
Gämse, war um ein Fasciobeil bereichert, „Panificio“ war der Bäcker,
„Cassa Rurale“ die Raiffeisenkasse, „Latteria Consorziale“ die Genossenschaftssennerei, und die diversen „gemischten Warenhandlungen“ hießen „Generi misti“ – doch war dies alles nur Äußerlichkeit, nur Anstrich, hinter welchem – die Gemeinde ausgenommen
– Menschen und Dinge so blieben, wie sie stets gewesen waren. Ja es
ließe sich sogar sagen, dass die Menschen, je greller der neue Anstrich war, umso mehr trachteten, das zu bleiben, was sie gewesen
waren und was zu sein man ihnen abgewöhnen wollte.
Es gab im Tal wohl einheimische Faschisten, aber keinen einheimischen Faschismus; es gab Menschen, die bei der Partei waren,
doch existierte – im tirolischen Bereich – „die Partei“ nicht; und
obendrein schloss man sich der Partei nicht aus einer bestimmten
Gesinnung (eher wohl aus Mangel an Gesinnung) an, sondern aus
Erwägungen der Nützlichkeit oder der elementaren Sicherheit.
Die „besseren Leute“, die Händler, Hoteliers, gehobenen Professionisten und dergleichen, waren fast durchwegs „bei der Partei“, und
niemand hätte gewagt, es ihnen zu verargen. Sie trugen an Werktagen das Wappen am Rockrevers (manche nannten es die „Wanze“),
an Nationalfeiertagen zogen sie zum zivilen Gewand auch das
Schwarzhemd an; sie lasen die faschistischen Zeitungen, Provincia di
Bolzano oder Alpenzeitung, und hatten intimen, gleichrangigen Umgang nicht nur mit dem Parteisekretär im Tal, sondern auch mit den
großen Tieren „im Lande“. Diese besseren Leute hatten früher die
Macht im Dorf besessen oder zumindest auf ein profitables Verhältnis zu jenen, die die Macht innehatten, Wert gelegt. Nun, da sie und
ihresgleichen von der direkten Machtausübung ausgeschlossen waren, konnten sie auf das besondere Verhältnis zu den Behörden, den
Faschisten eben, erst recht nicht verzichten. Das war, wie jedermann
einsah, ganz natürlich. Und obendrein gehörten die in Gemeinde
und Provinz herrschenden Italiener ja auch ihrerseits zu den „besseren Leuten“.
Kleine Leute durften auf solche Toleranz nicht hoffen.
Für diese gemeinhin als Pofel (der Begriff meint gleicherweise Pöbel und das mindere letzte Gras des Jahres) bezeichneten Menschen,
die Kleinhäusler mit nur einer Kuh oder zwei Ziegen im Stall, die
Taglöhner und Arbeiter, war das Parteibüchl letztlich nichts anderes
als ein Brotbüchl; denn nach den Gesetzen von damals hatte nur
[ 37 ]
derjenige Anspruch auf Arbeit und Lohn, der bei den Einheitssyndikaten eingeschrieben und folglich auch Parteimitglied war. Und dass
die kleinen Leute die Kinder zu den Balilla schickten, hatte ebenfalls
rein materielle Gründe: nur Angehörige der faschistischen Jugend
bekamen die Schulbücher gratis. Außerdem wurden Balilla und Piccole Italiane mit Uniformen ausgestattet (die Buben mit einem
schwarzen Hemd und einer feldgrauen kurzen Hose, die Mädchen
mit einem schwarzen Rock und einer weißen Bluse), sodass die Eltern sich die Anschaffung eines Gewandes ersparten. Manche Kinder zogen diese Hosen oder Röcke auch an, wenn sie zur Schule gingen. Viele Eltern jedoch schämten sich dieser Uniform wegen für die
Kinder: sie sparten sich lieber das Geld für ein zweites Paar Hosen
vom Mund ab, doch wurde die „Werktagshose“ dann insofern geschont, als man die Kinder beim Viehhüten, beim Beerenklauben
und bei anderen unsauberen Arbeiten die Balilla-Hose anziehen ließ.
Die bloß „guten Leute“, die Mehrzahl der Bauern also, standen bei
alldem abseits. Sie gingen nicht zur Partei. Sie ließen ihre Kinder
nicht bei den Balilla und den Piccole Italiane einschreiben; sie verzichteten auf Gratislesebücher und Gratishosen. Die Eltern verboten
uns sogar das Spielen mit gewissen Kindern:
„Die sind bei den Walschen!“
Dieses Verbot betraf jedoch nur den Umgang mit Kindern der kleinen Leute, die „bei den Walschen waren“. Mit den Kindern der besseren Leute dagegen hätten wir ohne weiteres spielen dürfen, wenn
sie gewollt hätten, auch wenn ihre Väter das Wappen trugen und die
Buben mit den Balilla marschierten.
Die doppelbödige Moral des Dorfes wurde hier in vollem Umfang
offenbar. Erst später fiel mir auf, wie sehr die besseren Leute nicht
nur im Politischen eine ethische Ausnahmestellung genossen. Wer
die „besseren Leute“ im Tal waren, ließ sich mühelos feststellen,
wenn man die schönen Arkaden des Friedhofs entlangschritt und die
Namen der Familien las. Da ruhten sie, unter den von namhaften
heimischen Künstlern geschaffenen Gemälden und Standbildern, gewissermaßen in Logenplätzen auf den Jüngsten Tag wartend, der für
sie sicherlich kein Tag des Zorns sein konnte; und da würden auch
jene „Besseren“ ruhen, die jetzt unter uns weilten, sobald es dem
Himmel in seinen unerforschlichen Ratschlüssen gefallen würde, sie
in die ewige Heimat abzuberufen. Sie waren hoch über uns bloß
[ 38 ]
„gute“ Leute erhaben, in jener wie in dieser Heimat. Starb einer von
ihnen, dann gingen alle zum Begräbnis, mindestens ein erwachsenes
männliches Mitglied jeder Familie im Dorf, wiewohl es selbstverständlich war, dass er, der „bessere“ Verblichene, solang er gelebt hatte, nur bei Seinesgleichen zum Begräbnis gegangen war und eine große Gnade daraus gemacht hatte, wenn er einmal wegen der
Beerdigung eines minderen Anverwandten eine knappe Stunde hatte
opfern müssen.
Zugleich wurde ich eines seltsamen Missverhältnisses gewahr:
jene, die die schönsten Arkadenplätze auf dem Friedhof besaßen, waren vielfach die nämlichen, die als letzte zum Gottesdienst kamen
und als erste wieder aus der Kirche verschwanden. Sie schwänzten
die Predigt und huschten genau zwischen Epistel und Evangelium
durch das große hintere Portal herein; bei der Wandlung brachten sie
das Knie nicht auf den Boden; und kaum war die Kommunion vorbei, hatten sie schon die Hand im Weihbrunnkessel, und draußen
waren sie. Nach diesem kurzen Gesichtsbad stellten sie sich breit auf
den Kirch- oder Postplatz und warteten auf das Volk, dessen Grüße
sie huldvoll nickend entgegennahmen. Trotzdem war auch der Herr
Pfarrer eher in ihren Häusern zu Gast und im Wirtshaus eher an ihren Tischen zu finden als an jenen der gewöhnlichen „guten“ Leute.
(Die Städter freilich pflegten in ihrem Dünkel alle Sextener, die „besseren“ Inbegriffe, über denselben Kamm zu scheren; sie unterschieden höchstens zwischen besseren und schlechteren Brieftaschen.)
Dieses Intermezzo hat mit dem Faschismus scheinbar nichts zu
tun. Doch wird man den Faschismus und überhaupt alles Politische
nicht begreifen, wenn man diese seltsame Doppelbödigkeit nicht im
Auge behält.
Im Gegensatz zu den „besseren Leuten“ lasen wir daheim nur die
Tiroler Bauernzeitung, solang man sie ins Land ließ, und später den
Volksboten, „das Bötl“ genannt, und das Katholische Sonntagsblatt.
Andere Zeitungen hätten wir uns in jenen mageren Jahren auch
nicht leisten können. Später, als es uns besser ging, beschlossen die
Eltern, die Dolomiten, die dreimal wöchentlich erschienen, zu abonnieren. Als die Mutter einmal eine mit einem Holzhändler verheiratete Jugendfreundin besuchte, sah sie dort zum ersten Mal in ihrem
Leben die faschistische Alpenzeitung, ein großformatiges, täglich erscheinendes Blatt. Von da ab jammerte sie jedes Mal, wenn wir Eier
[ 39 ]
verkauften und sie sorgsam, Ei für Ei, in schützendes Papier hüllen
mussten, oder wenn sie am Samstag die lärchenen Böden rieb, um
das viele gute und große Papier der „walschen deutschen Zeitung“.
Und so wurden die Dolomiten abbestellt und dafür die Alpenzeitung
abonniert. Doch dauerte das Glück mit dem vielen großen Papier
nicht lang. Nach ein paar Wochen wurde dem Vater von verschiedenen Seiten bedeutet, dass es sich für Bauersleute nicht schicke, die
„walsche deutsche Zeitung“ zu lesen. Der Vater erörterte die Frage
mit der Mutter, und bald darauf waren wieder die Dolomiten im
Haus. Es war nicht die „walsche“ oder die „faschistische“ Zeitung,
die – in unserer Hand – unliebsames Aufsehen erregte, sondern die
nicht standesgemäße Zeitung: ein kleiner Bauer, der die Alpenzeitung
las, machte sich der sozialen Desertion nach oben schuldig, er maßte
sich etwas an, was nur „besseren Leuten“ erlaubt war.
Schrecklich kompliziert war das alles. Nur von oben, mit den unkundigen oder verblendeten Augen der faschistischen Behörde gesehen, nahm sich alles wunderbar einfach aus. Damals, im März 1929,
wurde in Italien das Parlament wieder neu gewählt. Es war keine
Wahl im gewöhnlichen Sinn, sondern ein sogenanntes Plebiszit für die
eine, die einzige Partei, die es gab und geben durfte, die faschistische.
Der Wähler bekam zwei Stimmzettel, einen grünweißroten, der
„ja“ bedeutete und gut war, und einen weißen, der, sofern er in die
Urne geworfen wurde, „nein“ zu Mussolini und allem Drum und
Dran hieß: ein Zettel für antifaschistische Helden. Niemand zweifelte dran, dass faschistische Schnüffler erfahren würden, wer mit dem
guten und wer mit dem bösen Zettel gewählt hatte. Kurzum, ich
habe in der Zeitung das Sextener Ergebnis jener Wahl nachgesehen:
es waren 249 Ja und wohlgezählte zwei Nein. Helden waren die Sextener also nicht, doch war das Ergebnis insgesamt nicht besser und
nicht schlechter als im übrigen Land, in Südtirol meine ich. Sonst
hätte auch der Präfekt nicht am Abend des Wahltags an Mussolini
telegrafieren können: „Obwohl es bereits spät ist, … spielen Musikkapellen ihre Freudenhymnen, deren Echo über die Grenzen dringt,
um eine neue siegreiche Etappe auf dem Triumphzug des faschistischen Italien anzuzeigen.“
Ein alter Bauer, Hansl mit Namen, der das Geschehen von 1929
als relativ junger, aber doch schon gereifter Mann erlebt hat, erzählte
mir über die Wahl:
[ 40 ]
„Wie ich gewählt hab? Teufel, beinahe hätten sie mich erwischt,
um ein Haar, die Luder! Ich hab mich natürlich erkundigt: den Vorsteher hab ich gefragt, der hat nichts gesagt, schau wie du zurechtkommst, hat er gesagt; der Trojer, der in Toblach, der junge, hat mir
abgeraten, ich soll nicht hingehn, hat er gemeint, keiner sollte hingehn, hat er gemeint; vielleicht hat er recht gehabt, der Trojer, vielleicht. Den Pfarrer hab ich gefragt, aber der hat sich nicht auskundschaften lassen, weil andere dabeigestanden sind, und wenn einmal
andere dabei gewesen sind, hat keiner geredet.“ Diese vielen Wiederholungen pflegen die Bauern in ihre Reden einzuflechten, wenn sie
intensiv über das, was sie sagen, nachdenken. Sooft das Hirn eine
Atempause braucht, legen sie eine Schleife in ihre Rede ein und vermeiden derart, sich zu verhaspeln oder Unbesonnenes zu sagen. Der
Bauer fuhr fort:
„Das ganze Gefrage hat mich nicht gescheiter gemacht. Wähl ja,
wähl nicht, das hätte ich auch ohne die gescheiten Leute getroffen. Ein paar haben sich etwas Gescheiteres durch den Kopf gehen
lassen: Die haben die Weiberleut am Morgen das Vieh füttern lassen
und selbst sind sie zur Frühmesse gegangen; dann haben sie die Weiber zum Spätgottesdienst geschickt und haben daheim das Haus gehütet. Das waren die Gescheitesten. Ich bin zum Gottesdienst gegangen, es war mir gar nicht eingefallen, nicht zum Gottesdienst zu
gehn, und geraten hat’s mir auch keiner. Also bin ich gegangen, und
nachher stehen wir wie immer auf dem Postplatz, der Pfeifer, der
Reider, der Wurzer, der Glatzer und ich, es wär ja aufgefallen, wenn
wir uns gleich vom Kirchplatz weg verdrückt hätten und nicht auf
dem Postplatz gestanden wären. Auf einmal kommen zwei Carabinieri und der Gemeindediener, alle in Uniform und mit Revolver und
so, und sagen, jetzt heißt’s wählen, votare, sagen sie, avanti votare,
und drängen uns, und wir drauf si, si, va bene, schon gut, votare, die
Höllostia! Also gehn wir, ich weiß nicht mehr recht, ob in die Schule
oder ins Gemeindehaus; wir sind also gegangen, ins Schulhaus, jetzt
weiß ich’s, wegen dem Häusl, alle sechs oder sieben oder wieviel wir
halt waren, mit den Carabinieri, sind wir gegangen. Der Wurzer diskuriert mit den Carabinieri, weil er erst bei den Alpini gewesen ist.
Ich denk nach, was ich tun soll. Teufel noch einmal, wie wir beim
Tor sind, fällt’s mir ein. Wie Schuppen ist’s mir von den Augen gefallen. Gott sei Dank. Drinnen im Schulhaus sag ich: Permesso, ich
[ 41 ]
muss einmal, sag ich und mach’s recht dringend und verdrück mich
ins Häusl. Die andern sind oben in die Klasse hinein. Ich, im Häusl,
hab mich eingesperrt und hab zwischendurch das Wasser rinnen lassen, zwei- oder dreimal, und bin eingesperrt geblieben, und hab
dann wieder hinausgehorcht auf den Gang. Wie ich gehört hab, dass
alles still ist, draußen auf dem Gang, hab ich aufgesperrt und bin gegangen. Stolz wie ein Kaiser. Beim Tor steht der Gemeindediener;
ich lach ihm ins Gesicht. Tutto fatto, sag ich, buon giorno! Er nickt
und lacht und sagt auch buon giorno, und ich hab geschaut, dass ich
fortkomm. Nur nicht erwischen lassen, hab ich mir gedacht. Sie haben mich auch nicht mehr erwischt. Tutto fatto, haha!“ Er lachte vergnügt.
„So hab ich sie dranbekommen, die Höllostia, die vermaledeiten.
Eine Wahl soll das gewesen sein? Was hätt’s denn da zu wählen gegeben? Nichts hätt’s zu wählen gegeben, rein gar nichts. Keine Spur
von einer Wahl! Keine Spur von einer Wahl, sag ich! Die hätten wir
wählen wollen, die sie für uns ausgewählt haben. Kann man das
Wahl nennen? Nein, sag ich. Aber den Hansl haben sie nicht drangekriegt, den Hansl nicht, die Malefizhunde!“
[ 42 ]
Über die Taferlklasse und zwei Klosterfrauen
Gäbe es mehr Gerechtigkeit in der Welt, dann müsste eine Straße in
Sexten nach Schwester Blanka benannt sein. Schwester Blanka: ihr
Name umschloss alles Schreckliche und Wunderbare, das sich für
uns mit der Vorstellung der Schule verband. Und aller Trost, alle Liebe, die wir von der Schule erhofften, hieß Schwester Kreszentia.
Die beiden waren ein ungleiches Paar. Schwester Blanka klein,
sehnig, mit stechenden, klugen Augen im hageren, faltenlosen Gesicht und mit den nervösen Bewegungen eines jungen Rosses.
Alles, was sie tat und sagte, teilte sich in einer seltsamen, mechanischen Weise der bald wie eine Drohung, bald wie ein liebliches
Türmchen hoch über das Pult aufragenden weißen Haube mit. Man
brauchte nur das Schwanken und Wippen und Nicken der Haube zu
beobachten, um zu wissen, was im Gesicht der Schwester Blanka
vorging.
Sie hieß Blanka, wohlgemerkt, nicht Bianca, denn sie war Tiro­lerin.
Schwester Kreszentia war groß, breitschultrig, heiter und beleibt.
Man sah ihr von Kopf bis Fuß an, dass ihr die Küche anvertraut war
und dass sie Freude an diesem Dienst hatte. Ihr Gesicht bestand aus
vielen kleinen lachenden Fältchen, ihre Augen waren lustig wie
Mäuseäuglein und schwarz wie Kohle. Schwester Blanka war die
Lehrerin der ersten Volksschulklasse. Sie handhabte Griffel, Kreide,
Bleistift, Feder und Rohrstab mit der nämlichen Fertigkeit. Die wenigen „Patzen“, die sie mir mit dem Rohrstab verabfolgte, schmerzen
heute noch (andern mag es ebenso ergehen), und die demütigende
halbe Stunde, die ich im Angesicht der ganzen Klasse auf einem
Holzscheit knien musste, ist vielleicht die schwärzeste halbe Stunde
meines Lebens. Vorsichtig, um die Schwester Blanka ja nichts merken zu lassen, verrückte ich das Scheit mit den Knien auf die Breitseite, so war es etwas bequemer; aber der Schwester entging nichts;
noch bevor ich meine Operation beendet hatte, war sie da und
drückte mir wieder die spitzeste der drei Scheitkanten unter das
Knie. In der Pause aber kam Schwester Kreszentia und steckte mir
heimlich einen Apfel zu.
[ 43 ]
Die barmherzigen Schulschwestern waren seit vielen Jahrzehnten
in Sexten. Alle alten Leute waren „bei den Schwestern“ und beim
„Herrn Lehrer“, der jetzt nicht mehr lehren durfte, in die Schule gegangen. Nach der Art, wie jemand das deutsche L oder K schrieb,
konnten die Leute auch nach so vielen Jahren noch genau unterscheiden, bei welcher Schwester der Betreffende die Ausbildung als
Abc-Schütze erhalten hatte. Es gab da eine Stiftung, die den Klosterfrauen Wohnung und Unterhalt sowie dem Stammhaus eine bestimmte Summe Geld sicherte, wodurch die Kosten für die Ausbildung der Schwestern zu Lehrerinnen abgegolten und die
Heranbildung neuer Schulschwestern ermöglicht werden sollte.
Während die italienischen Behörden die einheimischen Lehrpersonen so gut wie überall aus „ihren“ Schulen geworfen hatten (sie waren teils in rein italienische Gebiete versetzt, teils pensioniert worden), gestand man den Barmherzigen Schwestern bei uns und
anderswo vorderhand noch das Recht zu, die ersten Volksschulklassen zu unterrichten. Die Ungewissheit ihrer Zukunft bewirkte, dass
sie sich ihrer Aufgabe mit besonderer Genauigkeit entledigten, um
der italienischen Lehrerin der zweiten Klasse wohlerzogene und des
Italienischen einigermaßen kundige Absolventen der Taferlklasse zu
übergeben und sich derart des weiteren Vertrauens der Schulbehörde
zu versichern.
Es war ein vergebliches Bemühen. Die Schulbehörde, ganz und gar
damit beschäftigt, das in den zehn Jahren schon gestiftete Durcheinander durch buchstabengetreue Erfüllung jedes römischen Räusperns und Spuckens zu vermehren, ahnte gar nicht, welchen pädagogischen Schatz sie da als letzte Reserve gegen die bedrohlich
ansteigende Flut der Unbildung besaß. Oder sie wollte es nicht sehen. Und so wurde mein erstes Schuljahr das letzte der Schwestern
Blanka und Kreszentia und all der andern, die es da und dort in Südtirol noch gab. Im Sommer zogen sie aus der kleinen Wohnung im
Dachgeschoß der Schule aus, nur insgeheim von Bürgern und Bürgerinnen, von Bauern und Bäuerinnen, von Kleinhäuslern und Pofel
bedankt und mit allem möglichen beschert, aber von niemandem,
wie es sich gehört hätte, offiziell verabschiedet – mit Reden, Gedichten und einem pathetischen Chor, wie das sonst üblich ist. In die
Wohnung der Schwestern zog die örtliche Garnison der Miliz ein,
von der keiner zu sagen vermochte, wozu sie gut war.
[ 44 ]
Kurzum, Schwester Blanka ließ uns den ganzen Ernst des Lebens
spüren, des ihren wie des unsern; sie lehrte uns schreiben, lesen,
rechnen, zeichnen, beten und gehorchen; sie belohnte uns mit Fleißzetteln (roten, grünen, blauen und gelben) und bestrafte uns mit Patzen und Scheiterknien oder mahnenden Briefchen an die Eltern,
wenn manche es gar zu arg trieben. Die Fibel war italienisch; was
wir lasen und sahen, war italienisch; was wir rechneten, war italienisch. Für ein Kind, das seine ersten Buchstaben schreiben, die ersten Sätze formulieren und auf diese Weise denken und reden lernen
soll, ist es nicht einerlei, ob der Lehrer aus seiner Welt kommt und
somit seine Vorstellungswelt kennt oder ob er von dieser heimatlichen Welt keine Ahnung hat und sich auch gar nicht um den Zugang
zu ihr bemüht.
Schwester Blanka nahm uns gewissermaßen an der Hand und
führte uns behutsam vom „Haus“ zur „casa“, von der „Kirche“ zur
„chiesa“, vom „Apfel“ zur „mela“, vom „Esel“ zum „asino“, vom
„Hund“ zum „cane“ – die neuen Begriffe blieben zwar fremd und widerborstig, aber sie waren nicht feindselig, weil die gute Schwester
nie das Gefühl aufkommen ließ, dass die eine Sprache besser sei als
die andere oder dass man etwa eines nicht sagen dürfe und ein anderes sagen müsse. Sie achtete den gesetzlich vorgeschriebenen absoluten Primat des Italienischen, und sie lehrte uns zugleich, die Muttersprache zu achten, indem sie uns das Wunder der Sprache überhaupt
erschloss.
Wie schwierig das war, werden nur jene erahnen, die wissen, dass
für viele Kinder in unserer Klasse auch die Muttersprache Fremdsprache war. Man stellt sich eine Schulklasse in einem Bergdorf als
etwas Einheitliches, Einförmiges vor: Kinder nicht nur gleichen Alters, sondern auch aus dem gleichen Milieu kommend, durch die
Enge der Gemeinschaft miteinander verbunden, annähernd gleich
begabt und willig. Wie wenig entsprach unsere Klasse einer solchen
Vorstellung! Der geistige Abstand, der das Kind des Einschichtbauern von jenem des Kaufmanns in der Talsohle trennt, ist bei weitem
größer als der Abstand zwischen dem Sohn des Generaldirektors und
dem des Hilfsarbeiters in der städtischen Schule. Da waren Kinder,
die hoch oben vom Berg kamen, mein Freund vom Hanserhof zum
Beispiel oder die Läusekramerin (sie hieß Aloisia, aber der Übername klebte an ihr wie das Ungeziefer, dem sie ihn verdankte), in deren
[ 45 ]
Häusern man nur die dürftige Sprache der Einsamkeit sprach: ein
paar hundert Dialektworte, die ausreichten, um ein Selbstgespräch
beim Hüten in Gang zu halten oder einen Plausch mit dem Nachbarn über Feld, Wald und Vieh. Warum stieg denn gerade diesen
schweigsamen Berglern, wenn sie, einmal erwachsen, am Sonntagnachmittag ins Gasthaus kamen und sich mit denen „von unten“ in
Händel einließen, das Blut so rasch zu Kopf? Warum trachteten sie,
mit Faust und Muskelkraft auszutragen, was sich hätte ausreden lassen? Ganz einfach: weil sie fühlten, dass ihnen die Worte, die
sprachliche Gewandtheit fehlten, um etwas auszureden, weil sie den
Reflexen der Muskeln und der dem Tier abgelauerten Geschicklichkeit beim Raufen mehr vertrauen konnten als der Folgerichtigkeit ihres Denkens und der Überzeugungskraft ihrer Sprache.
Schwester Blanka kaute diesen Kindern vom Berg jedes Wort, Silbe
um Silbe, vor. Sie verdeutschte ihnen geduldig den Sinn jedes Begriffes in der Muttersprache und geleitete sie erst, wenn dies geschehen
war, tastend auf einen schwankenden Steg, der über den Abgrund der
finsteren Fremdheit hinweg am andern Ufer auf den nämlichen Begriff traf, nur in einer anderen Sprache, der italienischen.
Von den allein statthaften italienischen Fibeln wurde uns keine Hilfe zuteil. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Sprache des Elternhauses der Schlüssel zu jeder anderen Sprachwelt, die Vorstellungen der Kindheit der Schlüssel zu jeder anderen, größeren
Vorstellungswelt sind. In Rom wusste man, dass Stadtkinder anders
anzureden waren als Landkinder, mit anderen Begriffen, anderen
Bildern und Liedern; deshalb gab es ja auch zwei Sorten von Schulbüchern, die einen für „centri rurali“, für die Landgemeinden, die
anderen für „centri cittadini“, die Stadtgemeinden. Was man aber offenbar nicht begriff oder nicht wahrhaben wollte, war, dass der Unterschied zwischen tirolischen und toskanischen, zwischen piemontesischen und sizilianischen Kindern nicht minder groß und nicht
minder wesentlich ist als jener zwischen Stadt- und Landkindern.
Wir hatten von allem und jedem unsere ganz bestimmten Vorstellungen: „das Haus“ war für uns ein Tiroler Haus mit einem schönen
Giebel – die Häuser der Fibel waren flach, niedrig, mit roten Ziegeldächern. Unsere Kirche war Einheit von Kirche und Turm – in der
Fibel stand der „campanile“ abseits des Gotteshauses, und die Glocken schwebten sozusagen im Freien. Unser Pferd trug ein schönes,
[ 46 ]
mit Federkielstickereien geschmücktes, aber nicht pompöses Geschirr und zog einen grün gestrichenen Leiterwagen – das Geschirrzeug der Fibelrösser erinnerte uns nicht nur infolge der großmächtigen Scheuklappen an die lächerlichen Verkleidungen der Maskerer
zur Fastnachtszeit -, und den kuriosen Karren, deren Räder höher
waren als ein großer Mann, standen wir vollends ratlos gegenüber.
Die Äcker der Fibel waren unendliche Weiten, Meere von Furchen,
die sich in fernen Horizonten verloren, doch waren die Furchen, wie
es uns schien, schlampig gearbeitet, denn bei uns wurde jeder Acker
nach dem Pflügen mit Haue und Egge sorgsam eingeebnet, sodass
niemand den ursprünglichen Verlauf der Furchen mehr ahnen konnte. Der Jäger der Fibel sah aus wie ein Wilderer, der Hund wie ein
Schaf, der Bauer wie ein Maurer oder Wegmacher. Und wo wir einen
Christbaum oder eine Krippe erwartet hätten, begegneten wir der
„Befana“ (die sich zu allem Überfluss „Befana fascista“ nannte) und
einer Schar von Dudelsackbläsern. Was war ein Dudelsack? Hatten
die Hirten im Stall von Bethlehem mit Dudelsäcken musiziert? Das
Wort „zampógna“ tat der Zunge wohl, aber da niemand von uns je einen Dudelsack gesehen noch seinen Klang vernommen hatte, wussten wir nicht, dass dieses „zampógna“ den sanften, wehmütigen
Wohlklang der Dudelsackmusik als melodisches Echo nachklingen
ließ. Beim Dudelsack war auch Schwester Blanka mit ihrem Latein
am Ende und die Sache mit der „Befana fascista“ war ihr ganz offensichtlich peinlich. Die „Befana“ ist das italienische (und überhaupt
romanische) Christkind. Dass die weihnachtliche Bescherung zum
Fest der Heiligen Drei Könige, zur Epiphanie – und „Befana“ ist
nichts als eine Verballhornung von Epiphanie –, stattfindet, hat seine
innere, biblische Logik: schließlich waren es ja die Drei Könige, welche dem Christkind Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten. Doch
war es ein gewaltiger politischer Unfug, die alte „Befana“ der italienischen Kinder gewissermaßen ins Schwarzhemd zu stecken, sie als
„faschistisch“ zu bezeichnen und, wie es in einem Lesebuch geschah, Mussolini zum Vermittler zwischen den braven Kindern und
der „Befana“ zu ernennen. Sie kam auch zu uns in die Schule, die
„Befana fascista“: sie brachte uns Baumwollsocken, die viel zu groß
waren, Handschuhe, die zu dünn waren, Bücher, die „Balilla del sasso“ oder so ähnlich hießen und die wir nie lasen. Man wollte uns das
Christkind durch die „Befana“ austreiben, aber so bescheiden und
[ 47 ]
sparsam unser Christkind bei der Bescherung auch war, zu einem
Krieg zwischen Christkind und „Befana“ ließen wir es gar nie kommen.
All dem Widersinn der Einheitsschule, Einheitsfibel, Einheitssprache und Einheitswelt konnte nur eine die Gegensätze geduldig ausgleichende, alles Unvereinbare versöhnlich scheidende und das Unfassbare fassbar deutende Fantasie abhelfen, wie Schwester Blanka
sie besaß. Sie vermochte ein Abendrot am Meer in unsere Berge,
hinter Haunold und Schuster, zu zaubern, einen mächtigen Dampfer
dermaßen zu verkleinern, dass er über unseren Mühlenbach, die
Wiere, schaukeln konnte, ohne an Fassungsvermögen zu verlieren,
die winterlich braune Stoppelflur der Campagna in den weichen
Frieden des Schnees zu hüllen und die seltensten Früchte in feuerrote Berberitzentrauben oder schwarzblaue Wacholderbeeren zu verwandeln. Wir lasen von Pinien und wähnten uns unter Föhren. Wir
begriffen allmählich, dass Pappeln und Zypressen ebenso natürlich
zu bestimmten Landschaften und Menschen gehören wie Eschen,
Weiden und Fichten zur unsern und zu uns. Da die Schwester unsere kleine Welt und deren Spiegelbild in uns kannte, vermochte sie
auch die große, unbekannte Welt mit unseren Augen zu sehen, mit
unserm Staunen zu messen und mit unsern Begriffen darzustellen –
voller Liebe zu uns und voller Ehrfurcht für die schönen fremden
Dinge. Allein dafür hätte sie einen würdigen Abschied verdient. Was
wir Kinder an ihr besessen hatten, merkten wir erst, als sie nicht
mehr da war. Italienischen Lehrpersonen anvertraut, denen bei uns
alles fremd war, vom Herrgott bis zum Namen, verloren wir zugleich
an Traum und Wirklichkeit.
[ 48 ]
Über Nationalfeiertage, Lehrer und Schüler
Als im nächsten Herbst die Schule begann, waren die Schwestern
Blanka und Kreszentia nicht mehr da. Aus dem freundlichen Reich
der Schwester Kreszentia im Dachgeschoß der Schule drang der den
meisten von uns noch fremde, säuerlich-würzige Geruch von gekochtem Paradeisersugo und das aufdringliche Lärmen Karten spielender
Männer.
Die Milizgarnison von Sexten hatte das neue Quartier bezogen
und ihre Tätigkeit aufgenommen. An der Mauer des Schulhauses,
neben der Tür, durch die man zur Miliz gelangte, prangte die Aufschrift:
Credere
Obbedire
Combattere
VII. E. F. Mussolini
E. F. heißt Era Fascista, faschistische Zeitrechnung. Unsere Lehrerin, die, auf dem Pult thronend, ihre Nägel lackierte, brachte uns
diese neue Zeitrechnung als ersten, grundlegenden Beitrag zur
staatsbürgerlichen Erziehung bei. Über die Aufgaben, die wir daheim
zu machen hatten, mussten wir das Datum schreiben: Sesto, 27 ottobre 1930/VIII. E. F.
„Jetzt schaffen dir diese Malefizsakra doch richtig auch noch unsere rechtgläubige Christenzeit ab!“, fluchte der Vater.
Die Mutter, die Mussolini viel weniger hart ins Gebet nahm, seit
dieser im Februar 1929 Frieden mit der Kirche gemacht hatte, ordnete kurzerhand an:
„Das schreibst du einfach nicht. Mussolini ist ein Christ, sogar der
Papst hat ihn empfangen, und ein Christenmensch bleibt bei der
christlichen Zeit.“
Das Foto, das Mussolini mit einem Kardinal bei der Unterzeichnung der Lateranverträge zeigte, hatte die Mutter sehr beeindruckt.
Aber die Sache mit der „neumodischen Zeitrechnung“ missfiel ihr.
[ 49 ]
Wie sie es angeschafft hatte, schrieb ich das Datum ohne „VIII. E.
F.“. Die Lehrerin ergänzte es mit roter Tinte und gab mir eine Zwei,
obwohl ich sonst keinen Fehler gemacht hatte. Die Mutter äußerte
sich von da ab nie wieder zum Thema christgläubiger und neumodischer Zeitrechnung.
Der Anfang der Era Fascista, der Tag Null der neuen Zeitrechnung, war der 28. Oktober 1922, angeblich jener Tag, an welchem
der Marsch auf Rom stattgefunden, an welchem – um unsere Lehrerin zu zitieren – Mussolini hoch zu Ross an der Spitze des faschistischen Revolutionsheeres in Rom eingerückt war. Wir haben uns –
aus Bequemlichkeit oder infolge des kurzen Gedächtnisses der
meisten – so sehr an die faschistische Legende gewöhnt, dass uns
die Wahrheit hinter der Legende einfach abhandengekommen ist.
Vielleicht wäre es auch mir so ergangen, hätte ich nicht das Lesebuch des schon ausgeschulten Nachbarbuben, des Peppe, besessen,
in welchem die Geschichte vom Marsch auf Rom ganz anders dargestellt war als in unseren Lesebüchern. Das alte, reichlich derangierte
Buch hieß II sentiero, „Der Pfad“, und nach dem der „faschistischen
Erhebung“ gewidmeten Lesestück, das Italo Balbo, einer der Führer
des Marsches auf Rom, selbst verfasst hatte, war am 28. in Rom rein
gar nichts vorgefallen, jedenfalls nichts Faschistisches; da war keine
Rede von einem siegreichen Revolutionsheer und einem hoch zu
Ross reitenden Mussolini. Am 29. hatte bis zum späten Nachmittag
noch „große Unsicherheit“ geherrscht, bis dann, gegen Abend, die
Kunde kam, der König habe „Mussolini mit der Regierungsbildung
betraut“. Erst „am nächsten Morgen, am 30., fuhren wir alle nach
Rom“.
Ich musste dem Vater das Lesestück ein paarmal übersetzen, Wort
für Wort, so gut ich’s zuwege brachte; er ermahnte mich, nichts auszulassen. Seit man ihm im Krieg, im Spital in Wien, Geschichts­
bücher zu lesen gegeben hatte, war die Geschichte seine heimliche
Liebe. Er wandte auf alles Geschehen seine elementare Bauernmathematik an, die nicht zulässt, dass man Erdäpfel mit Gerste addiert
und aus der Summe einen Sack Roggen gewinnt.
„Schau dir die Falotten an“, ereiferte er sich. „Die machen dir einen Festtag, wo kein Heiliger ist!“
Er rekapitulierte, was ich ihm übersetzt hatte: „Also, am 28. Oktober ist nichts geschehen, vom Marsch, meine ich; auch am 29. haben
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sie nur darauf gewartet, dass man ihnen erlaubt, marschieren zu dürfen; und am 30., nachdem der Mussolini beim König gewesen ist,
sind sie endlich marschiert.“ Damals wussten weder der Vater noch
ich, dass sie gar nicht marschiert, sondern in Sonderzügen und Lastautos nach Rom gebracht worden waren. Was den Vater empörte,
war letztlich auch nicht die heldische Legende, mit welcher der Faschismus sich aufgeputzt hatte, sondern die Unverfrorenheit, mit der
die Lesebücher von 1930 leugneten, was jene von 1927 als Wahrheit
gelehrt hatten.
Am Anfang der Era Fascista stand also einerseits ein Nichtereignis,
anderseits eine jener eitlen Posen, die Mussolini anzunehmen pflegte,
wenn er’s mit Frauen, zumal mit großen, zu tun bekam. Bis 1924 hatte – wie ich mich später unterrichten ließ – kein Mensch in der Partei
oder im Land daran gedacht, eine faschistische Zeitrechnung zu inaugurieren. In jenem zweiten Jahr nach der faschistischen Machtergreifung aber schenkte Mussolini der Schauspielerin Emma Gramatica
eine Fotografie mit eigenhändiger Widmung und markanter Unterschrift: Benito Mussolini, Roma, am Soundsovielten, Jahr II. Era Fascista (E. F.). Die Idee war ihm offensichtlich plötzlich durch den Kopf
geschossen wie so viele vor- und nachher, doch da er sich in sie verliebt hatte, wurde aus der momentanen Eitelkeit eine Mode und aus
der Mode ein Gebot: und damit galt die Era Fascista als neue, zunächst noch der christlichen nebengeordnete Zeitrechnung, später als
allein gültige und erlaubte, bis sie eines Tages, im Jahre XXI., verschwand, ebenso unvermittelt, wie sie in Umlauf gesetzt worden war
– eine falsche Münze, von der Geschichte eingezogen …
Wie dem auch sei. Der 28. Oktober wurde gefeiert wie ein ­echter
Neujahrstag: wir hatten schulfrei, die Geschäfte hielten geschlos­sen,
in den Zeitungen standen Artikel über Rückblick und Ausblick. Wir
Kinder hatten gegen dieses herbstliche Vizeneujahr absolut nichts
einzuwenden. Der 28. Oktober war der Beginn einer ersten, leider
nicht ganz geschlossenen Ferienwoche nach dem bitteren Schulanfang am l. Oktober. Auf den 28. folgten am l. und 2. November Allerheiligen und Allerseelen und dann der 4. November, der Tag des
Sieges, an dem wiederum Nationalfeiertag und folglich schulfrei war.
Gelegentlich rutschte auch ein Sonntag so geschickt in diese Feiertagsreihe hinein, dass wir gleich drei oder vier Tage nacheinander
von der Schule befreit waren.
[ 51 ]
In der Erinnerung empfinde ich diese Tage zwischen dem 28. Oktober und dem 4. November als eine Art Karwoche im Herbst –
wenn der Rauch von Erdäpfelkraut beißend über die Stoppeläcker
kroch und das Vieh träge auf den kahlen Feldern graste. Der Morgentau schmeckte nach Reif und der Regen nach Schnee. Und auch
den Feiertagen, den kirchlichen wie den staatlichen, fehlte die Heiterkeit.
Drei Tage vor diesen Festen stiller Einkehr wurde nun der 28. Oktober als der Neujahrstag eines Zeitalters gefeiert, das, außer für seine neumächtigen, neuadeligen und neureichen Protagonisten, niemals eine „gute alte Zeit“, wie unsere Eltern sie besaßen, werden
würde: ein protzig lärmender Tag mit Balilla-Aufmarsch, flatternden
Trikoloren um den Postplatz, Behördengeschäftigkeit, Gesang und
Musik. Und nur zwei Tage nach den stets ein wenig beklemmenden
Totenfeiern auf den Kriegsfriedhöfen oberhalb des Bades und in unserm Wald unterm Gsell (die wenigen Frauen weinten; die Männer
lasen die fremdartigen Namen auf den Grabkreuzen – Milos, Bogdan, Milan, Janos, Vasili, Ivan – und tasteten sich daran ins „Früher“
zurück; von den Fichten fielen schwere Tropfen ins Gebetbuch des
Pfarrers und von den Lärchen rieselten blass goldene Nadeln), nur
zwei Tage also nach diesen Feiern, in denen wir jener Toten gedachten, die zur Verteidigung unserer Berge, unseres Dorfes, unserer
Häuser und Felder gefallen waren, feierten „wir“ am 4. November den
Sieg über eben diese Toten, den Sieg über unsere Väter, die Vergeblichkeit des Opfers der einen und der Leiden der andern. Wieder flatterten die Trikoloren. Die Alpini rückten von den Baracken aus und
marschierten zum Postplatz, wo die Militärkapelle die triumphalen
Märsche schmetterte, hastig, als fürchtete der Herr Major an der
Spitze des Bataillons, die Töne könnten den Sieg versäumen. Auch
die Zivilbehörden waren wieder da, in Parteiuniform und Medaillenschmuck, wie die Zeit es gebot, nur die einheimischen Notabeln, die
sich am 28. Oktober im Schwarzhemd unter dem zivilen Mantellodengrau auf dem Platz eingefunden hatten, übten an diesem Nationalfeiertag Zurückhaltung, vielleicht auch deshalb, weil der Volksmund, wie wir wissen, etliche von ihnen mit dem reichlich
unmotivierten Anschluss unserer Gemeinde an Italien in Zusammenhang brachte. Mit Tschindarassa und Bumdarassa marschierte die
Alpinikapelle danach wieder zu den Baracken zurück. Die Bauern
[ 52 ]
nahmen die zusätzlichen Feiertage als ein Geschenk Gottes hin. Sie
feierten nicht. Sie ließen auch die Kinder nicht feiern. Sie waren vielmehr dankbar dafür, dass die Kinder ihnen gehörten und dass man
zum Marsch auf Rom und zum Tag des Sieges Arbeiten verrichten
konnte, die ohne die schulfreien Kinder hätten aufgeschoben werden
müssen. Man drosch das letzte Korn, ehe Mäuse und Spatzen die
Ähren leer fraßen; man brachte Mist auf die Felder, die im Frühjahr
angebaut werden sollten. Am Abend schrieben wir Kinder rund um
den Stubentisch im armseligen Licht einer sparsamen Birne, müder
und widerwilliger als gewöhnlich, unsere Hausaufgaben:
Was bedeutet uns der 28. Oktober?
Was sagt uns der 4. November?
Was wir schrieben, war halb Lesebuchgeschichte, halb stammelnde Heuchelei: ein Spießrutenlaufen durch unsere Gefühle. Hauptsache war, dass man Mussolini, den Duce, nicht vergaß.
Der Marsch auf Rom: das war Mussolini.
Der Sieg: Mussolini.
Italien: Mussolini.
Die Zukunft: Mussolini.
Und wir? Was waren wir?
Um diese Zeit, vier Wochen nach Schulanfang, waren wir – mit
ganz wenigen Ausnahmen – für die Lehrpersonen, die italienischen,
noch schlicht:
„Du Rothaariger!“
„Du mit dem grünen Pullover!“
„Du dort, in der dritten Bank beim Fenster!“
Unsere Namen waren für ihre an italienische Laute gewöhnten
Zungen stachelig wie Disteln und Dornen.
„Fe-if-óffer!“, rief die Lehrerin, wenn sie den Pfeifhofer meinte.
Wenn sie „Apáker“ sagte, sollte der Happacher aufstehen. Der Lanzinger, der von uns den Übernamen Lancia erhalten hatte, da er von
unerreichbaren Autos träumte, wurde von ihr als „Lanzintscher“ angesprochen. Und als sich das Fräulein Lehrerin eines Tages – wieder
beim Nägel lackieren – entschloss, endlich einmal auch meine Base,
die Tschurtschenthaler hieß, beim Namen zu nennen, geschah dies
so:
„T-schù … (Sie spreizte die schon lackierten Finger auseinander
und hob verzweifelt die Augen unter dem braunen Bubikopf.) Bah!?
[ 53 ]
T-schurt … Mamma mia, che nome ostrogotico! Va a farti friggere!
Das kann doch niemand aussprechen. Steh schon auf, Anna, ja, jene
Anna in der Mittelreihe, hinter der Rosa.“
Die Rosa hieß Hackhofer, aber auf das Abenteuer mit den zwei ließ
sich das Fräulein gar nicht erst ein. Die ganze Aufmerksamkeit gehörte nun wieder dem Zeigefinger der linken Hand: drei, vier kurze
Pinselstriche, dann hob sich das rundliche Gesicht wieder.
„Also, Anna, willst du zur Tafel kommen oder nicht? Steh doch
nicht da wie ein Bauerntölpel!“
Nun, wir waren Bauernkinder und schämten uns dessen auch
nicht. Für sie, die Lehrerin, aber waren wir Tölpel, dazu verdammt,
ewig Tölpel zu bleiben. Welchen Sinn konnte es haben, uns etwas
beibringen zu wollen? Unsere Namen zu lernen? Zuerst lachten wir,
wenn die Lehrerin die Namen misshandelte. Wenn sie Augen, Zähne und Zunge verdrehte, um das „Ler-get-boh-rer“ ratenweise, mit
falschen Lauten und unrichtiger Betonung über die Lippen zu spucken, erschien uns dies am Anfang komisch. Dann aber fiel uns allmählich auf, dass ihr nicht alle Namen gleiche Schwierigkeiten bereiteten (was verständlich war) und dass der gleiche Name, der ihr
im einen Fall weh tat, als hätte sie einen Igel verschluckt, im andern,
wenn ein Mitschüler aus besserem Haus ihn trug, süß und rund wie
ein Zuckerl von der Zunge rollte. Und da fühlten wir uns verhöhnt.
(Im Frühjahr rächten wir uns: der Lancia, der rothaarige Tone und
ich praktizierten der Lehrerin vor dem Unterricht eine lebende
Blindschleiche ins Pult. Den Schreck und das Geschrei hätten Sie
erleben sollen!)
Ich beneidete die Kinder der „besseren Leute“, und zwar nicht nur
deswegen, weil die Lehrerinnen und Lehrer ihre Namen vom ersten
Tag an kannten und auch beinahe richtig aussprachen. Nie hätte
eine Lehrperson gewagt, den Namen einer besseren Familie als „ostgotisch“, das heißt als barbarisch zu bezeichnen; nie hätte sie zu einem solchen Kind „Va a farti friggere“ gesagt, was nichts anderes
hieß als „Geh zum Kuckuck“ oder „Der Teufel soll dich holen“. Die
Eltern hätten sich beschwert; sie hätten gewusst, wo und wie man
sich beschweren musste, und sie hätten auch keinen vermittelnden
und das meiste verfälschenden Dolmetsch gebraucht, da die besseren Leute im Tal durchwegs Italienisch konnten. Unsere Minderwertigkeit wurde uns also schon beim Namen vor Augen gerührt. Die
[ 54 ]
Kinder der besseren Leute sprachen ein schöneres Deutsch als wir
(Schriftdeutsch, wie wir meinten, obwohl es nur ein lackierter Dialekt war); sie vollführten Knickse vor der Lehrerin; sie hatten daheim
deutsche Märchenbücher und aßen in der Pause Wurstbrote; sie
spielten mit Rollern, aufziehbaren Autos, sprechenden und schlafenden Puppen; sie wussten, wer der heilige Nikolaus und das Christkind waren, und wussten im Vorhinein auch, was diese ihnen bringen würden; sie setzten sich, wenn sie von der Schule nach Hause
kamen, an einen schönen Tisch, unter ein hell leuchtendes Licht
und widmeten sich in aller Ruhe ihren Aufgaben, während wir Holz
hacken, den Ofen heizen und die kleinen Geschwister versorgen
mussten, bevor wir uns zu den Aufgaben setzen konnten; und wenn
wir die Aufgaben gemacht hatten, hieß es, die volle Milchkanne auf
den Buckel oder auf den Schlitten packen und in die Sennerei gehen.
Bei diesen Kindern galt als possierlich, was uns als rüpelhaft angekreidet wurde, als klug, was man uns als frech oder vorlaut übelnahm. Kurzum, sie genossen zum Vorzug der größeren geistigen
Wendigkeit und sprachlichen Fertigkeit auch noch den Vorzug der
Geburt und des Standes ihrer Eltern – und es war sozusagen natürlich, dass die Zeugnisse, die diese Kinder am Ende des Jahres erhielten, nur unter anderem auch die Leistungen der Schüler berücksichtigten, im Übrigen aber unter dem Gesichtspunkt abgefasst waren,
dass besseren Familien kein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden
durfte. Einen derartigen Verstoß gegen alles, was sich im Dorf gehörte, hätte sich übrigens wohl auch Schwester Blanka nie erlaubt; und
der Herr Lehrer von früher, der jetzt von der Schule ausgesperrt war,
setzte, wenn er das Erstkommunions-Erinnerungsfoto anfertigte, die
paar besseren Mädchen mit den fußlangen weißen Kleidern und die
Söhnchen in den langen Hosen stets in die vorderste Reihe, wie die
dörfliche Hierarchie es gebot.
Da ich ein guter Schüler war und zweimal als Klassenbester sogar
bronzene „Goldmedaillen“ bekam, wurde ich in besseren Familien
zuweilen so behandelt, als gehörte ich zu ihnen. Trotzdem blieb der
Abstand spürbar. Wenn die Mütter zu mir sagten: „Es heißt, dass du
ganz gut lernst!“, obwohl ich doch sehr gut lernte, besser jedenfalls
als ihre Kinder, so klang das beinahe wie ein Vorwurf und so, als
würden meine guten Noten als Anmaßung betrachtet. Ich redete mir
zwar ein, dass solche Fragen ein Lob sein sollten, zurückhaltend, wie
[ 55 ]
es sich für bessere Leute ziemte, doch gelang es mir nie, mich ganz
davon zu überzeugen.
Meine „Goldmedaillen“ bewogen auch die Lehrer, sich meinen Namen – der freilich weniger Schwierigkeiten bereitete als viele andere
– zu merken und richtig auszusprechen. Umso mehr litt ich unter
dem, was man den Namen meiner Freunde antat.
Die meisten unter ihnen waren Bauernbuben oder Kinder von
Kleinhäuslern und Familien aus jenen Kreisen, die man als die
„Dorfarmut“ bezeichnen müsste, aus dem Pofel. Die Pofel-Kinder
hatten manches mit den Kindern der besseren Familien gemeinsam:
sie verfügten wie diese zumeist über etwas Taschengeld, über selbstverdientes freilich, da sie ohne weiteres (was uns verboten war) gegen
ein kleines Trinkgeld gewisse Dienste verrichteten, Koffer trugen,
wenn der Post-Tone mit der Kutsche kam, alleinstehenden Menschen Milch und Brot ins Haus brachten oder in besseren Häusern
das Holz in die Küche schleppten. Der eine oder andere von ihnen
wagte auch, am Sonntag auf dem Kirchplatz den Tauf- oder Firmpaten vor anderen Leuten um ein kleines Geldgeschenk anzubetteln.
Sie waren in jeder Hinsicht lebenstüchtiger, wortgewandter, geschickter; die Grenzen der Schicklichkeit waren bei ihnen von Haus
aus viel weniger eng gezogen als bei uns und die Zucht weniger
streng. Ihre Hefte und Bücher hatten meist Eselsohren, ihre Federn
patzten beinahe von selbst, doch wenn es auf Handfertigkeit und
Findigkeit ankam, waren sie, die den Großteil ihres Lebens auf der
Gasse verbrachten, uns allen – Bauernkindern und „besseren“ Kindern – überlegen. Ich bewunderte sie. Und sie schienen mich zu bemitleiden, weil ich „gut lernte“. Sie ahnten vielleicht, dass es sich für
sie nicht lohnte, „gut zu lernen“; ihre Eltern waren ja niemand.
Im Lauf der Jahre bildete sich infolge der von der Lehrerschaft verschuldeten, wenn nicht gar geförderten negativen Selektion eine
Schar von Sitzengebliebenen heraus, welche die Volksschule in der
dritten, zuweilen auch in der zweiten Klasse beendeten. Die Lehrer
waren froh, die lästigen „Esel“ loszuwerden. Manche Bauern meinten, die Kinder wären ihnen als Arbeitskraft wichtiger denn als
Schreiber, Leser und Rechner, und behielten sie im Herbst bis tief in
den November zu Hause, um sie dann im Frühjahr zur ersten Feldarbeit wieder aus der Schule zu nehmen.
„In der Schule lernen sie eh nichts!“, sagten sie.
[ 56 ]
Und den Buben aus den untersten Schichten erging es kaum besser. Wenn die Frühjahrsarbeit begann, brauchte das Dorf Arbeitskraft, und Kinder waren auch im Taglohn billiger zu haben als die
Erwachsenen; anderseits waren die Eltern für jeden Centesimo
dankbar, den ein Bauer ihre Buben verdienen „ließ“. Man sagte tatsächlich „verdienen lassen“, als wäre Arbeit eine Gnade.
Schwester Blanka und der Herr Lehrer von früher hätten solchen
Unfug wohl zu verhüten gewusst. Sie hätten den Bauern ins Gewissen reden können, sie hätten möglicherweise auch den Bürgermeister eingespannt, um Eltern zur Räson zu bringen, die ihre Kinder
nicht oder zu spät zur Schule schickten oder die Buben und Mädchen so sehr mit Arbeit überhäuften, dass das Lernen beim besten
Willen zu kurz kommen musste. Vor allem hätten sie auch Freude
am Lernen wecken können, da es ihnen möglich gewesen wäre, jeden nicht nur beim richtigen Namen anzureden, sondern auch richtig zu packen, aus den sogenannten „Schwächen“ Talente ans Licht
zu fördern.
So aber wurde die Unlust der Lehrer und ihre lokale Unerfahrenheit vielen zum Verhängnis fürs Leben. Nicht dass die Menschheit
um Genies gebracht wurde. Darauf kommt’s nicht an! Doch sind
Menschen daran gehindert worden, Menschen zu werden: denn ein
Mensch, der seine Gedanken in keiner Sprache klar zu Ende denken
und in verständliche Sätze bringen kann, ein Mensch, der nicht imstande ist, einen verworrenen Gedanken einigermaßen richtig zu Papier zu bringen, kann heutigentags nicht als vollwertig gelten. Meine
sitzengebliebenen Freunde von einst können keinen deutschen Brief
schreiben, das durften sie nicht lernen. Sie können keinen italienischen Brief schreiben, das konnten sie nicht lernen, weil sie nicht
einmal Deutsch konnten. Sie begreifen das Deutsche nur halb, der
Sinn vieler Worte ist ihnen fremd; und sie begreifen das Italienische
gerade so weit, dass der Richter ihnen den Dolmetsch vorenthalten
und solcherart das Gesetz streng nach dem Gesetz beugen kann. Sie
verstehen nur zum Teil, was sie lesen, doch sind sie imstande, ihre
Unterschrift zu leisten, wo immer dies erforderlich ist – auf Schuldscheine wie auf Schuldbekenntnisse. Aber war es nicht gerade das,
was das System brauchte, Menschen, die nicht dachten, nicht artikulierten, aber willig alles unterschrieben? Es war ja einer da, der für
alle dachte, für alle sprach und für alle immer recht hatte.
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Viele Väter gaben diesem Einen in ihrer grauen, muselmanischen
Passivität und in ihrer trägen Verantwortungslosigkeit auch da noch
recht, wo es um die Zukunft ihrer Kinder ging.
Die neue Lehrerin der ersten Klasse war ein ältliches, blasses
Fräulein aus dem Trentino; sie hatte graues, glattgestriegeltes Haar
und wässerige Augen; in der Kirche kniete sie stets vorne in der ersten Bank. Von der Lehrerin der dritten Klasse wusste niemand, woher sie war; sie trieb es, wie die unsere, mit einem Alpinioffizier. Die
Mutter munkelte allerhand; der Vetter Michl meinte, mit jemandem
müssten die Mädchen ja reden und ihren Spaß haben. Der Lehrer
der Vierten trieb am liebsten Gymnastik. Er war Offizier gewesen
und ließ den Buben, die etwas angestellt hatten, in der Klasse exerzieren. Wenn er „Un, due, un, due!“, kommandierte, hallte es durchs
ganze große Schulhaus. Oben im Dachgeschoß droschen die Milizler
mit den Karten auf den Tisch.
Eines Tages erzählte mir ein Bub aus der vierten Klasse, der Lehrer habe gesagt, die Österreicher hätten im Krieg italienischen Kindern die Hände abgehackt und die Zungen herausgeschnitten. Daheim fragte ich den Vater:
„Vater, ist es wahr, dass ihr den italienischen Kindern die Hände
abgehackt und die Zungen herausgeschnitten habt, im Krieg?“
Der Vater starrte mich an: „Was?“
Ich wiederholte die Frage.
„Wer hat das gesagt?“
„Der Lehrer von der Vierten hat’s in der Schule gesagt.“
Der Vater war Kriegsinvalide. Die rechte Hand war steif. Ich hatte
kaum ausgesprochen, als ich Vaters „tadelige“ Rechte im Gesicht hatte; beinahe hätte mich die Ohrfeige zu Boden geworfen.
„Der Lügner! Der Ehrabschneider! Der Malefizhund, der sakramentische!“, fluchte er.
Die Ohrfeige hatte wohl dem Lehrer gegolten.
[ 58 ]
Über lausige Zeiten, Krisen und Konkurse
Es war eine lausige Zeit, damals.
Wir hatten Arbeit, wir hatten zu essen, aber wir hatten kein Geld.
Die meisten Bauern im Tal hatten kein Geld und den Holzhändlern
erging es kaum besser. Wir hatten weit über zweihundert Lire bei einem Holzhändler gut, einem einheimischen, und an die sechzig Lire
für ein Kalb bei einem Viehhändler.
Aber wenn der Vater sie am Sonntag auf dem Postplatz suchte, um
das Geld einzutreiben, gingen sie ihm aus dem Weg; und wenn sich
die Begegnung nicht mehr vermeiden ließ, speisten sie ihn mit fünf
Silberlire ab. Auf den Fünfliremünzen war ein stilisierter Adler abgebildet; wir Kinder nannten diese Münzen die „Schwalbelen“.
Der Vater meinte, wenn er das Geld auch weiterhin nur in Schwalbele-Raten eintreiben könne, werde sein Guthaben bis zum Jüngsten
Gericht reichen, und er werde möglicherweise noch dort, unter den
schwarzen und weißen Schafen, den Holz- und den Viehhändler suchen müssen. Er beschloss, die nächste Muselpartie dem italienischen Holzhändler im Nachbardorf zu verkaufen, da dieser regelmäßiger und in größeren Beträgen zahlte.
In der Schule verlangten Lehrerinnen und Lehrer immer wieder
Geld von uns, ein oder zwei Lire, bald für das Zeugnis, bald für ein
Buch oder für eine patriotische Sammlung; einmal sammelten wir
sogar für die Gefechtsflagge eines Kriegsschiffes, das den Namen
Bolzano erhalten sollte. Da wir kein Geld hatten, mussten wir mit Eiern zahlen. Die Lehrerinnen richteten sich rasch auf dieses ungewohnte Zahlungsmittel ein. Sie stellten den Papierkorb aufs Pult,
nahmen unsere Eier, wickelten sie vorsichtig aus dem Papier und taxierten sie:
„Vierzig Centesimi für dieses Ei? Siehst du denn nicht, wie klein es
ist? Da kann ich nur dreißig geben. Sag der Mutter, du musst noch
zehn Centesimi bringen oder ein Ei, und ich geb dir zwanzig Centesimi heraus.“
Wir genierten uns. Was ging uns dieses Gefeilsche an? Die besseren Kinder legten ihre Lira hin und vollführten einen höflichen
[ 59 ]
Knicks; die armen brauchten nichts zu zahlen; wir hatten nicht nur
kein Geld, sondern auch noch den Ärger mit den Eiern. Die Mutter,
das wussten wir, würde sich mit den dreißig Centesimi nie zufrie­
dengeben, vielleicht mit fünfunddreißig, und die Lehrerin würde
weiter auf den dreißig bestehen. Wir schämten uns in den Boden hinein.
„Die Krise kommt, wie’s Amen im Gebet kommt sie, sag’ ich dir!“,
prophezeite der Taufpate. „Und wenn sie da ist, putzt sie alle, zuerst
die Walschen und die Reichen; die Walschen haben keinen richtigen
Nährstand, so wie wir, und wo kein Nährstand ist, da räumt die Krise zuerst auf.“
Obwohl der Taufpate zuinnerst im Tal wohnte, in einem neuen
Haus in Moos, denn das alte war im Krieg zusammengeschossen
worden, kam er ab und zu am Sonntag nach dem Gottesdienst zu
uns und blieb auch zum Mittagessen. Danach blieben sie noch eine
Weile sitzen, der Taufpate (er hieß Konrad), der Vater und der Vetter
Michl; diesmal war auch der Vetter Franz da, ein gutmütiger Riese,
der sich bücken musste, wenn er bei uns in die Stube trat. Er war Eisenbahner drüben in Österreich, in Sillian; und der Taufpate behauptete, der Vetter Franz sei ein Roter.
„Wenn’s die Reichen putzt, putzt’s uns auch!“, sagte der Vater.
„Wenn die Händler uns nicht mehr zahlen können, sind wir hinten
offen wie die walschen Kinder.“
Dieser einprägsame Ausdruck bezeichnete jenen wirtschaftlichen
Zustand, in dem es hinten und vorn nicht mehr zusammenging.
Der Vetter Franz dachte ähnlich:
„Bevor’s den Reichen wirklich weh tut, kommen wir alle dran, ob
Bauer oder Arbeiter. Gut, wenn ein Geldsack in Konkurs geht, fressen ihn die anderen, die größeren Geldsäcke, auf; in summa ändert
sich nichts. Aber wenn sie dir nichts mehr bezahlen und abkaufen?
Oder wenn du arbeitslos bist und nichts mehr zu fressen hast? Die
Krise ist genau die Kraxe für unsere Buckel.“
„Für unsre nicht. Der Nährstand ist der Nährstand. Der wird immer zu essen und zu leben haben, wie er immer zu arbeiten hat. Und
den Arbeitslosen, den verhungerten, geschieht’s recht – was haben
sie in die Stadt ziehen müssen, den Roten nachlaufen, unzufrieden,
wie sie sind. Der Bauer ist der Gesundborn des Volkes, habe ich gelesen. Dagegen kommt keine Krise auf!“
[ 60 ]
Der Vetter Franz lachte schallend. Der Taufpate hatte die letzten
Sätze in steifem, feierlichem Schriftdeutsch deklamiert.
„Gesundborn hin oder her, ein paar Hunderter wären gesünder!“,
schloss der Vater die Debatte.
Der Vetter Franz holte Zigaretten, Zigarren und Tabak hervor, es
quoll aus allen Taschen. Der Taufpate bekam sein Teil davon. Er
zündete sich sofort eine Zigarette an; gierig sogen wir den feinen österreichischen Rauch ein, der sich in silbernen Ringen hinauf zum
Herz-Jesu-Bild kräuselte. Mit einem Mal schien nun auch der Taufpate besorgt:
„Uns kann ja, wie gesagt, nichts passieren. Wir haben, Krise hin,
Krise her, zu arbeiten, und solang wir arbeiten, werden wir zu essen
haben. Geld? Haben unsere Alten Geld gehabt? Die Krisen haben immer nur die Professionen erwischt, die Hutmacher zum Beispiel, im
vergangenen Jahrhundert, lang vor dem Krieg. Und was sind sie geworden, die Hutmacher, wie die Industrie ihnen das Geschäft verpatzt hat? Bauern sind sie geworden. Und was werden die Steinmetzen werden, wenn jetzt die Kunstmühlen kommen und keine Steine
mehr gebraucht werden? Bauern natürlich. Aber der Schwindel mit
der ‚battaglia del grano’ oder wie das heißt, mit diesen Preisen fürs
schönste und meiste Korn, ist eine Gaunerei, die der Mussolini sich
gegen unsern Tiroler Nährstand ausgerechnet hat. Wem, meinst du,
dass das hilft? Uns nicht, klar, dass es uns nichts hilft. Den Großgrundbesitzern hilft’s, denen, die Felder haben, dreimal so groß wie
Sexten, sie wissen gar nicht, wo sie anfangen und aufhören. Frag den
Metzger Christl, der war Bursch bei so einem, bei einem Major, frag
ihn: Felder hat der, sag’ ich dir, dreimal so groß wie Sexten, und die
Arbeiter kennt er nicht einmal, frag’ den Christl, die hausen wie die
Zigeuner in Hütten, gedroschen wird mit Lokomotiven auf dem Feld,
und er, der Major, streicht die Preise von der vermaledeiten ‚battaglia’
ein und rührt keinen Finger, die Arbeiter sehen nichts davon, und die
Reichen kaufen das billige Zeug von dem und haben für unser Zeug
kein Geld mehr übrig. So wollen sie uns umbringen, den gesunden Tiroler Nährstand, so wollen sie uns an den Kragen. Und die Reichen,
die das billige Zeug von unten kaufen, sind Hochverräter, wie die Sozi
sind sie, Hochverräter, die dem Nährstand an den Kragen wollen.“
Wenn der Taufpate (er war ein bescheidener Bauer und im Nebenberuf ein mittelmäßiger Bauernschneider) einmal ins Politisieren ge[ 61 ]
riet, war es sinnlos, ihn zu unterbrechen. Er wünschte zwar nichts
sehnlicher, als unterbrochen zu werden, denn dann hätte er streiten
können, aber meistens tat ihm niemand den Gefallen. Auch jetzt
hörten ihm die Männer schweigend zu. Es läutete zum Nachmittagsrosenkranz. Der Vetter Michl zündete sich noch eine Österreichische an, während er sinnierend sagte:
„Die Krise hat uns alle beim Kragen. Da hilft nur eins: fest zusammenheben, wie die Henne, damit sie’s Ei nicht verliert!“
Sie zogen die Röcke an, setzten die Hüte auf und gingen ins Dorf.
Nur der Vetter Franz blieb zu Hause; er musste bald zum Zug, und
die Mutter wollte ihm noch etwas für die Kinder mitgeben, Speck
und Wurst und ein paar andere Kleinigkeiten.
Krise, Konkurs, Ruin, Bürgschaft: das waren die neuen Begriffe,
die wir damals hörten und lernten. Was sie eigentlich bedeuteten,
wussten wir nicht, doch erfassten wir immerhin das eine, dass sie
uns kein Geld brachten, sondern eher von dem wenigen, das ins
Haus kam, noch etwas abzwackten. Das schon aschgraue, faltige Runengesicht des Großvaters verzog sich zu einer schmerzlichen Grimasse, hinter der erschreckend deutlich die Umrisse des Totenkopfes sichtbar wurden, als der Vater einige Tage nach dem Gespräch
mit dem Taufpaten und dem Vetter Franz vom Dorf die Kunde nach
Hause brachte:
„Der Rogger-Jörgl ist ins Rutschen gekommen.“
Der junge Rogger-Jörgl (der alte, der Freund des Großvaters, war
im vorangegangenen Winter gestorben) besaß den größten und
schönsten Hof in der ganzen Außerbauernschaft: wie ein Herrensitz
saß das Haus in einer grünen Mulde an der Sonnenseite, auf halber
Höhe über der Talsohle. In den hellen Fenstern spiegelten sich die
übersonnten Gipfel von Schuster, Gsell und Haunold, und die Behäbigkeit der sauber gestrichenen, die Breite der lichten Hausfront edel
hervorhebenden Söller war für mich der Inbegriff des Wohlstandes.
Der Jörgl war kein gewöhnlicher Bauer, er war ein Bauer mit Kopf.
Er rechnete und tüftelte, er war aufgeschlossen für alles Neue, und
wenn die andern Bauern, die gewöhnlichen, zum Ausdruck bringen
wollten, wie etwas richtig gemacht werden müsste, mit Kopf und
Verstand, dann sagten sie: „Der Rogger-Jörgl macht da so und so!“
Gewiss, der Jörgl verkehrte viel in Gasthäusern, er hatte häufig in
Bruneck oder „im Land“ zu tun, er spielte gern Karten und liebte es,
[ 62 ]
das große Wort zu rühren. Doch da er ein Musterbauer war, sah man
ihm solche und andere Schwächen nach. In Jörgls Futterhaus war alles sauber wie bei uns nur in den Kammern; in seinem Stadel stand
die neue, in Deutschland gebaute Dreschmaschine, ein gewaltiges,
rot-gelbschwarz angestrichenes Ungetüm, das von einem gleichfalls
deutschen Elektromotor angetrieben wurde und eine eingebaute
Windmühle besaß, die vollkommen automatisch die Spreu vom Korn
schied. Auch Jörgls Pflüge und Eggen waren aus Deutschland importiert. Wenn man ihn reden hörte (und er konnte reden wie ein Ad­
vokat), musste man glauben, Deutschland sei ein Wunderland: das
einzige Land, sagte er, wo man Landwirtschaft „technisch, wissenschaftlich und fortschrittlich“ betreibe. Vor zwei Jahren hatte er den
Kuhmist abgeschafft und die Felder mit Kunstdünger gedüngt. Die
Bauern schüttelten ungläubig den Kopf: Dieses graue Pulverzeug in
den braunen Säcken sollte besser sein als ehrlicher, in Jahrhunderten
bewährter Kuhmist? Aber der Jörgl hatte im nächsten Juni wahrhaftig schöneres, höheres und fetteres Gras, im Herbst waren seine
Kornfelder eine einzige goldene Pracht.
„Zähl nach, wenn du zählen kannst, wie viele Halme bei mir auf
der Quadratklafter stehen und wie viele bei dir, wie viele Körner meine Ähren haben und wie viele deine!“, schnitt der Jörgl in der „Post“
auf. Zum „Mondschein“ ging er kaum noch, dort waren ihm die Leute
zu minder. Stolz verkündete er seinen Zuhörern, er habe nun in Österreich eine ganz spezielle Sorte von Luzerneklee entdeckt und den
Samen bestellt, eine Sorte, die es auch bei uns „tun“ werde, obgleich
hier in dem gottverlassenen Tal drei Viertel des Jahres Winter und das
verbleibende Viertel ein halbwegs passabler Herbst herrsche.
Es gab Bauern, die dem Jörgl die Tüchtigkeit neideten und trotzdem nicht wagten, es ihm nachzutun, und andere, die ernstlich an
seinem gesunden Ratschluss zu zweifeln begannen. Die einen wie
die anderen hatten recht. Denn was der Jörgl tat, war gewiss richtig,
und früher oder später würden auch alle anderen Maschinen, neue
Pflüge, Kunstdünger, Motoren und derlei neumodische Dinge anschaffen; nur wie er’s anpackte, war übereilt, falsch und für seine
Schuhnummer, wiewohl sie groß war, eben doch zu groß.
Die Gläubiger – Banken, Sparkassen und Private – ließen dem
Jörgl nicht einmal mehr die Zeit, den neuen Luzernesamen zu säen.
Im Frühjahr „pfatschte“ er, wie man bei uns zu sagen pflegt, das
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heißt: er ging in Konkurs. Haus, Vieh, Feld und Wald wurden mit
allem Hausrat versteigert. Betten, Tische, Maschinen, Spiegel, Kästen, Pflüge, Wagen, Rossgeschirre – alles wanderte zu anderen Bauern. Die Versteigerungen zogen sich wochenlang hin; und wenn die
Bauern mit dem einen oder andern billig erstandenen Stück nach
Hause gingen, waren sie stolz, als hätten sie eine Trophäe der Unvernunft erobert. Sie hatten die Sachen nicht gekauft, weil sie wohlfeil waren oder weil sie ihnen dienlich sein konnten, sondern weil
sie vom Jörgl stammten, von einem der Ihren, der mehr hatte sein
wollen als sie und deshalb „gepfatscht“ war. Die Sachen symbolisierten in ihren Augen die Strafe für wirtschaftliche Unvernunft und
hochmütigen Ausbruch aus einer geheiligten Ordnung, in welcher
der Mensch wohl denken durfte, das Lenken aber Gott allein vorbehalten blieb.
Die Bezeichnung eines Konkurses als „Pfatschen“ war sozusagen
die wörtliche Übersetzung dieser Mentalität. „Pfatschen“ heißt: mit
einem lauten Knall platzen, wobei der Knall nicht die majestätische
Donnergewalt eines Böllers erreicht. Der Begriff enthält also zur Tatsachenfeststellung zugleich auch die moralische Wertung. Was
„pfatscht“, ist ja nicht wirklich geladen gewesen, sondern nur aufgeblasen: „Pfatschen“ meint somit das geräuschvolle Entweichen der
Luft aus der aufgeblähten Persönlichkeit (ein Vorgang, der auch einer
wirtschaftlich völlig ungeschulten Kinderfantasie durchaus fassbar
war), Ergebnis und Lohn der Hochstapelei, gerechte Strafe für aufgeblasenen Dünkel.
Die Versteigerungen waren für den Jörgl ebenso viele Begräbnisse.
Aller Stolz von einst war mit einem Schlag zunichte geworden. Haus
und Feld wurden vom Sommerbauern gekauft, vor dessen Anwesen
im Dorf, beim hinteren Aufgang zum Friedhof, die einzige Linde im
Tal stand. Spät im Juli, manches Jahr auch erst im August, überflutete der dunkle Duft der Lindenblüten den ganzen Bereich um Friedhof und Kirche und die Baumkrone summte wie von hundert Bienenschwärmen. Es gab keinen feineren Duft in meiner Kindheit;
nicht einmal der Finanzer, der der Nachbartochter den Hof machte
und den man den „Zimantigen“ (den nach Zimt Duftenden also) oder
den „Parfümeler“ nannte, roch so gut.
Der Jörgl bezog zunächst mit der Familie ein Quartier in Sexten, ein für ihn demütigendes Intermezzo, dann übersiedelte er nach
[ 64 ]
Österreich, wo er wieder von vorne anfing, bescheidener, klüger und
bedächtiger, aber auch, wie man hörte, beständiger.
Der alte Post-Tone, der dem Jörgl verübelte, dass er nie mit ihm,
mit Ross und Kutsche, nach Innichen zum Bahnhof gefahren war,
sondern stets nur mit dem Auto, sagte zu mir, als er mich einmal für
Gotteslohn mitfahren ließ:
„Ja ja, der Jörgl. Er hat gemeint, er muss den schönsten Spielhahn
schießen, und heimgekommen ist er gerupft.“
Der Jörgl blieb gleichwohl noch Jahre lang mitten unter uns. Obwohl alles mit Putz und Stiel verkauft worden war, reichte das Geld
nicht aus, um die Schulden, die der Jörgl gemacht hatte, zu tilgen; es
mussten also auch jene Leute herhalten, die dem Jörgl für die Darlehen Bürgschaft geleistet hatten. Man unterschied sie in Dreschmaschinen-Bürgen, Pflug-Bürgen, Kunstdünger-Bürgen, und diese Bürgen brauchten nun, damit sie nicht auch selbst „pfatschten“, ihrerseits
wieder Bürgen. Auch der Vater unterschrieb solche Bürgschaften,
wenn man ihn darum bat. Wer wollte einem bedrängten Nachbarn
oder Verwandten nicht helfen, Haus und Hof zu retten?
Dieses unentwirrbare Geflecht von Entlehnungen und Bürgschaften,
von „Pfatschen“ und Versteigerungen, von „Ins-Rutschen- Kommen“
und „Hinten-offen-Sein“, dies alles war, wenn ich recht begriff, „die
Krise“, von welcher der Taufpate behauptet hatte, sie werde kommen
wie das Amen im Gebet, nur den Nährstand werde sie verschonen.
Mitten in der Krise starb der Großvater. Wir trugen ihn an einem
klirrend kalten Aprilmorgen zur letzten Ruhe. Auf den Feldern rundum lag glitzernd der Reif, und das Ross, das den schön geschmückten Wagen mit dem Sarg zog, hatte kleine Eiszäpfchen ums Maul
und um die Nüstern. Vor dem Wagnerhaus hielt der Zug. Hier warteten die Priester, der Herr Pfarrer, der Kooperator und fünf Franziskaner aus Innichen sowie ein geistlicher Vetter mit einer schönen Tenorstimme, der das Libera sang. Vier Nachbarn nahmen den Sarg
vom Wagen und trugen ihn auf den Schultern weiter. An der Mauer
des Wagnerhauses war eine neue Aufschrift: „Noi sognamo l’Italia
romana“ – „Wir träumen vom römischen Italien!“ Unterwegs schlossen sich dem traurigen Zug immer mehr Menschen an, vor allem
Männer; der Großvater war Pfarrkirchenrat gewesen und der Vater
sang im Kirchenchor. An den Häusern mit den italienischen Aufschriften – „Municipio“, „Panificio“, „Albergo“, „Scuole elementari“ –
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vorbei beteten Männer und Frauen laut den Seelenrosenkranz,
deutsch, als wäre die ganze Umgebung eine unwirkliche Kulisse, die
uns nichts anging. Die Finanzer standen am Gartenzaun und nahmen die Hüte ab. Weinend legten meine zwei jüngeren Schwestern
und ich im Friedhof unsere kleinen Blumensträuße – blasses Heidekraut vom Waldrand – auf das frische Grab, um das der Naz, der
Toten­gräber, geschäftig humpelte. Der Großvater war für lange Zeit
einer der letzten, der unter seinem ehrlichen Namen ruhen durfte;
auf dem schön geschmiedeten Grabkreuz stand zu lesen: „Nikolaus
Gatterer, Bauer zu …“
Das Totenmahl fand beim „Mondschein“ statt. Wir Kinder durften
nur die Verwandten begrüßen, dann brachten uns Großmutter und
Mutter nach Hause. Am Nachmittag soll es sehr lustig geworden sein.
Als der Vater am Abend mit dem Taufpaten und dem Vetter Michl
nach Hause kam (der Taufpate wollte sich mit ihm wegen einer
Bürgschaftsangelegenheit beraten), erzählte er, es seien wiederum
drei beim „Abhausen“: ein Steinmetz, ein Holzhändler und jener
Großkaufmann am Dorfplatz, dessen Haus, wie alte Leute behaupteten, aus den seinerzeit beim Festungsbau dem österreichischen
Ärar gestohlenen Steinen erbaut worden sein soll. Der Großvater des
jetzt vor dem „Pfatschen“ stehenden Kaufmanns war damals Lieferant gewesen.
„Der Herrgott weiß schon, wo er’s blitzen lassen muss!“, meinte die
Mutter.
Wir waren, Gott sei Dank, von keinem der drei Konkurse betroffen, aber den Taufpaten hatte es beim Steinmetzen erwischt. Er
brauchte dringend einen Kredit und eine Bürgschaft. Der Vater zögerte: „Du musst wissen, Konrad, ich hab’ schon wegen der Schlächterei zu zahlen und wegen dem Stindler-Franz. Und dann, wenn’s
einmal besser zusammengeht, sollten wir ein Futterhaus bauen.“
Die Frauen hörten aufmerksam zu. Der Taufpate schwieg.
Unser Futterhaus war uralt, um 1500 herum gebaut und obendrein
auf moosigem Boden; die Mauern waren morsch, und im Frühjahr
sprudelten da und dort im Kuh- und im Schafstall fröhliche Quellen
aus dem Boden. Nachdenklich fuhr der Vater fort:
„Wenn die Walschen damals, im sechzehner Jahr, besser geschossen hätten, fünf Meter weiter, wenn sie geschossen hätten, und wir
hätten heut ein neues Haus!“
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Tatsächlich klafften fünf Meter vor dem Futterhaus noch immer
zwei große Granattrichter.
„Versündige dich nicht!“, tadelte die Großmutter. „Ein neues Haus
macht nur Neid und Streit!“
„Denk an den Jörgl!“, mahnte die Mutter.
Der Taufpate entwickelte wieder seine Krisentheorie; die neuen
Konkurse schienen ihm recht zu geben, es war kein Bauer dabei.
„Uns, dem Nährstand, kann nichts passieren“, schloss er.
„Deinem Nährstand vielleicht, aber uns Bauern schon. Jetzt heißt
es zusammenheben!“, beendete der Vater den Diskurs. Der Taufpate
war verärgert.
„Aha!“, sagte er. „Du hältst es also mit den Walschen, die uns an
den Kragen wollen?!“
Er ging und schlug das Haustor krachend hinter sich zu.
[ 67 ]
Über das einfache Leben und manches seither
Abgekommene­
Wir Kinder waren damals noch eingesponnen in eine Welt, die, denke ich heute dran, nicht von dieser Welt schien. Es war alles einfach,
bescheiden, wohlgeordnet. Jedes Ding hatte seinen Sinn, jeder Tag
seinen Gang und jede Woche ihre Ordnung, jahraus, jahrein. Es
wäre schwer zu sagen, ob der Ablauf der Wochen und Monate mehr
von der jahrhundertealten Übung bestimmt war oder ob die Unerbittlichkeit der Jahreszeiten ihn vorschrieb, die als das letzte Gesetz
mit Sonne und Regen, Schnee und Eis über allem waltete.
Bebte in den Menschen etwas von jener inneren Unrast, ohne die
nichts sich verändern kann und alles ewig so bleiben müsste, wie
Gott es einmal gerügt und die Stumpfheit der Generationen es erhalten hat? Unrast gab es genug, auch Zorn, Hass, Habsucht, Feindschaft, Neid und Streit, aber alles doch nur um einen Grenzbaum,
um einen Markstein auf dem Feld, um einen Zaun, einen Weg oder
ein zweifelhaftes Servitutsrecht; das Wesen der Dinge durfte durch
nichts in Frage gestellt werden. Vielleicht hütete man dieses Letzte,
das aus so vielen Kleinigkeiten des täglichen Lebens und aus hunderterlei Nichtwahrnehmbarem gefügt war, auch deshalb so eifersüchtig, weil das Neue sich allenthalben bedrohlich breitmachte.
Vielleicht stritt und prozessierte man auch deshalb um jeden Stein,
jeden Strauch und jede Klafterbreit Weges, weil man das Bedürfnis
nach Bewegung und nach öffentlicher Betätigung empfand, aber einerseits am Überbrachten nichts zu bewegen wagte, anderseits von
jeder sinnvollen öffentlichen Betätigung ausgeschlossen war. War
auch die Welt aus den Fugen geraten, waren Falschheit, Meineid
und Betrug im Bauerndorf heimisch geworden, innerhalb der Zäune,
die unser Haus, mehr symbolisch als wirklich, gegen die Welt und
das Neue abschirmten, durfte nichts verrückt werden.
Wir aßen am Sonntag Knödel, am Montag Polenta, am Dienstag
Knödel, am Mittwoch Polenta, am Donnerstag Knödel, am Freitag
Polenta, am Samstag irgendetwas Besonderes (Schlutzkrapfen, Erdäpfelnudeln, Mus, geröstete Nockerln oder Gebackenes wie „Niege[ 68 ]
len“, Hasenohren oder Buchteln) und am Sonntag wieder Knödel.
Am Morgen gab es jeden Tag Milch oder Kaffee: die Milch war gut
und rahmig, aus unserem Stall, der Kaffee hingegen war ein Gebräu
aus gerösteter Gerste und gebratenen Feigen. Zum Neuner kam Einbrennsuppe auf den Tisch, zur Marende Kaffee, wie am Morgen mit
frischem oder hartem Bauernbrot, und das Abendessen schließlich
bestand fünfmal in der Woche aus Fleischgerste (Gerstensuppe mit
geselchten Schweinsrippen oder -haxen und Speckschwarten), nur
am Mittwoch und Freitag wurde Fastengerste gekocht: Gerstensuppe mit großen braunen Bohnen.
Diese eherne Küchenordnung wurde nur von den Feiertagen umgestoßen, die aber genauso ihre Ordnung hatten. Vor Weihnachten
und Ostern wurde geschlachtet, jeweils ein Schwein, alle zwei Jahre
auch eine Kuh; die halbe Kuh gab man einem Nachbarn weiter, der
einem dafür im nächsten Jahr, wenn man selbst kein Rind schlachtete, eine halbe Kuh überließ, sodass man stets Rindernes zum Einsuren und Selchen hatte. War geschlachtet worden, aß man wochenlang Polenta und Knödel mit gulyasartig zubereiteten
Schweinsrippen: „Totsche“ hieß das Gericht, dessen Name schon die
Verwandtschaft mit den jenseits des Kreuzberges, bei den Italienern,
üblichen Kochsitten verriet. Dort nannte man das Zeug „Tocio“ (und
von dort stammte auch unser „Mungge“: Polenta, mit heißer Milch
übergossen, viel Käse darauf, das Ganze mit kochendem Butterschmalz eingeschmalzen und mit Schnittlauch bestreut). In den Tagen und Wochen nach dem Schlachten wurden Schweiß oder Blutknödel gekocht, mit großen Brocken frischen, weißen Specks darin,
und Leberknödel. Nur das Hirn des geschlachteten Tieres blieb für
den ins Haus kommenden Metzger und für die Eltern reserviert. Wir
Kinder durften nie davon kosten:
„Das tut euch im Kopf nicht gut!“, sagten die Großen.
Die umfängliche, nur durch das Zahlen der Konsumsteuer getrübte Zeremonie des Schlachtens fand ihre Fortsetzung im Suren und
Selchen des Speckes und der Henkel sowie im Würstemachen. Für
die Würste hatte die Mutter ein besonderes, ererbtes Misch- und
Würzrezept, das sie bis auf den heutigen Tag als Geheimnis hütet.
Da auch die Selchkunst bei uns mit jener Gewissenhaftigkeit und
Geduld betrieben wurde, die sie erfordert – besonders hinsichtlich
der Auswahl des Holzes und der Abstufung der Wärme –, waren un[ 69 ]
ser Speck und unsere Würste im ganzen Tal und weit darüber hinaus
berühmt.
Am Heiligen Abend, wenn man mit einer alten Pfanne voller Glut
und wohlriechendem Weihrauch, betend und Weihwasser sprengend
durch alle Dielen des Futterhauses und alle Kammern des Feuerhauses zog, erwartete uns eine Speise, die dieses schönsten Festes wahrhaftig würdig war. In einer großen Schüssel war zuunterst eine Lage
gekochtes, gut mit Knoblauch gewürztes Sauerkraut, darüber eine
dünne Lage gerösteter Erdäpfel, darüber eine stärkere Schicht gekochtes, schweinernes Surfleisch, darüber wieder Kraut, und so weiter – neun, zehn Schichten hoch, und die stärksten davon die fleischernen.
Am Abend des Karsamstags aßen wir geweihtes Fleisch: gekochten
jungen Schinken, Schweinsbraten, Rindszunge, Würste, kaum angeselcht, die am Nachmittag in der Kirche die traditionelle Weihe erhalten hatten, mit den Ostereiern und dem Kren, der in unserem
Kräutergarten hinter dem Futterhaus wuchs.
Wenn Ostern richtig fiel, nicht zu früh und nicht zu spät im Jahr,
dann war dies auch die große Zeit der Frösche. Da waren die Nächte
erfüllt von lärmendem Gequake und wenn man von unserem Söller
in einer Mondnacht zum Teich unter unserem Haus blickte, sah man
dort das gespenstische Phosphoreszieren von Hunderten feuchten
Froschrücken. Die Leute draußen im Tal vermochten nicht zu begreifen, dass Froschhaxen Leckerbissen sind, sie schimpften uns
Walsche, weil wir Frösche fingen und aßen. Wenn wir sehr viele gefangen hatten, kochte die Mutter am Karfreitag Froschsuppe, reich
mit Zwiebeln und anderen Zutaten gewürzt.
Und da pfiffen wir erst recht auf alle „draußigen“ Sitten. Sitten
sind ja immer nur dadurch geheiligt, dass andere sie heilig halten
und einem vorschreiben wollen.
Wer von diesen großen und kleinen Schlachtfreuden liest, könnte
am Ende den Eindruck gewinnen, wir hätten damals Fraß und Völlerei betrieben. Außer an den erwähnten Feiertagen und den Kirchtagen, deren es drei gab (den kleinen zu Sankt Veit, den großen zu Peter und Paul und den Mooser Kirchtag zu Josephi), änderte sich an
den Hauptspeisen nichts, es wechselten nur die Zuspeisen, es blieb
bei Knödeln, Polenta, Knödeln, Fleischgerste und Fastengerste, denn
die bäuerliche Philosophie teilt dem Essen und allem Essbaren nur
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eine Aufgabe zu, nämlich die, Leib und Seele zusammenzuhalten.
Ein anderer Maßstab gilt nicht. Dieses unumstößliche Gesetz der
Zweckmäßigkeit wird auch durch die Rangordnung beim Essen bestätigt. Zu der Zeit, da die Großeltern noch lebten, waren bei uns
Teller nur beim Knödelessen und für kleine Kinder im Gebrauch;
sonst kamen Pfanne oder Schüssel mitten auf den Tisch, und jedermann löffelte daraus. Nach dem infolge des Hungers stets schlampigen und beinahe gierigen Tischgebet wurde der Löffelreigen von den
„Arbeitsleuten“ eröffnet. Der erste, der mit dem Löffel in die Pfanne
oder die Schüssel fahren durfte, war der Vater; nach ihm kamen der
Knecht und die Dirn an die Reihe; wenn Fuhrleute, Handwerker
oder Taglöhner im Haus waren, hatten die Männer Vorrang vor der
Dirn, die Frauen dagegen mussten warten, bis die Dirn den ersten
Löffel zum Mund geführt hatte. Und wenn die Leute alle ihren
Rhythmus schon gefunden hatten, fügten sich die Kinder in den
Löffeltanz ein: sie stellten sich unter der Bank auf die Zehen, hoben
das Gesäß und beugten sich nach vorne, um mit den Löffeln überhaupt die Pfanne zu erreichen, doch hielten sie dann bei dem sich
rasch entwickelnden vergnügten Wettessen tüchtig mit.
Wenn der Vater mit einem satten „Ich hab’ genug!“, den Löffel aus
der Hand legte, hatten die Kinder dem Beispiel zu folgen. Nur Arbeitsleute aßen weiter, bis Schüssel und Pfanne leer waren.
Das Recht, die in der Gerstensuppe gekochten Schweinsknochen
abzunagen, wurde, wenn die Großen darauf verzichteten, bald an
dieses, bald an jenes Kind abgetreten, je nach den Meriten des Tages.
„Das Fleisch vom Bein und das Gras vom Stein ist das Beste!“
lehrt eine Bauernregel, die uns Kindern bestimmt ebenso einging
wie den diebischen Ziegen vom „Göd“.
Wenn Sie mich nun fragen wollten, wann und wo die Mutter zu
essen pflegte, ich wüsste darauf nicht zu antworten. Sie aß unsichtbar, während der Arbeit, zuweilen am Herd sitzend und einige Bissen
lang sich ausruhend. Das eigentlich Feierliche an einem feiertäglichen Essen war, dass auch die Mutter ihren Platz am Familientisch
einnahm, dass sie sich die Zeit dafür stahl; dafür musste eines von
uns Kindern darauf achten, dass Hennen- und Schweinefutter auf
dem Herd rechtzeitig gar wurden. Warum ich diese Essensgeschichten so ausführlich dargelegt habe? Man wird es begreifen, wenn man
[ 71 ]
weiß, dass hier, an der Essensfront, wenn man so sagen kann, das
Fremde zunächst in unser Leben einbrach und dass mancher unserer Essensbräuche von den anderen, den Italienern, übernommen
wurde. Das erste, was Finanzer und Carabinieri bei uns lernten, war
nicht „Grüß Gott“ oder „Helf Gott“, sondern „Speck“ und „Wurst“.
Die Männer der Forstmiliz teilten sich das Anzeichnen der zum
Schlagen bewilligten Bäume so ein, dass sie zum Neuner und zur
Marende bei Bauern waren, deren Selchküchen sichere Gewähr für
guten Speck boten. Und manche der neuen Beamten trieben ihre
Liebe zu den fleischgewordenen, verbotenen weißroten Landesfarben
von einst so weit, dass sie jedem Petenten, ehe sie sich seinen Fall
überhaupt anhörten, den in Zeitungspapier verpackten Bestechungsspeck mit kundiger Nase aus dem Rucksack rochen. Erst wenn das
schmierige Paket aus der Nähe berochen, aufs Gewicht hin taxiert
und in einer Lade verstaut war, holten sie aus einer anderen den Akt.
Auf der anderen Seite der nationalen Barriere verhielt es sich nicht
anders. In den dreißiger Jahren zogen nach und nach Makkaroni,
Spaghetti, Paradeisersugo, Parmesankäse, Risotto und bunte Minestroni in die Bauernküchen ein. In den Kräutergärten wurden bis dahin unbekannte Gemüsesorten gepflanzt; und jedes Mal wenn ein
Franziskaner vom Innichner Kloster bei uns einkehrte, gab ihm die
Mutter ein Brieflein an den Bruder Gärtner mit, in dem sie diesen
fürs kommende Frühjahr um bestimmte Pflänzchen und Samen bat.
Der Durchbruch an der Küchenfront warf alle traditionellen Essensordnungen über den Haufen; wir aßen Pasta asciutta oder Risotto
statt Polenta und Mus, die Minestroni ersetzten die Gerstensuppe,
nur die Speckknödel retteten sich, ja, diese schier vollkommene, runde Speise – angefertigt aus dem besten Mehl, dem besten Speck, aus
Würsten, Rindsgeselchtem, Milch und Eiern – schlug ihrerseits Breschen in die italienische Küchenmauer; sogar beim Gemeindediener
aß man gelegentlich Knödel, wiewohl diesem in unserer Gemeinde
die Erfüllung einer besonders delikaten Mission der Italianität aufgetragen war.
Der alte Herr Staudinger, der „Mondschein“-Wirt, gab, halb im
Ernst, halb im Spaß, den Weiberleuten die Schuld am Zerfall der alten Ordnung. Die Frauen, sagte er, seien das schwächste Glied in jeder Gemeinschaft, neugierig und nach allem Neuen gelüstend. Nur
der Bauer weigere sich mannhaft, zu essen, was er nicht kenne, bis
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das Weib ihn mit appetitlichen Düften umgarne und durch systematisches Aushungern unters Makkaroni-Joch zwinge. Beim Kochen
und Essen habe es angefangen und nun könne niemand sagen, was
die Flut des Neuen alles noch fortspülen werde. Jene Bauern, die alles Überlieferte rein erhalten wollten, müssten fortan die Küchenfenster verrammeln und alles Weibliche entweder aus dem Haus jagen oder mit Ketten an die Herdstange schließen. Während er solche
Ratschläge zum Besten gab, feixte der Herr Staudinger boshaft zu
den Bauern hinüber, die in den Fensternischen karteten, und strich
sich vergnügt über den silbergrauen Spitzbart. Gewiss war, was er
sagte, nur Spaß.
Aber reiner Spaß war’s doch nicht. Während nämlich das neue Küchenzeug ins Haus kam, flog das altmodische Bettzeug (Strohsäcke,
buntkarierte Tuchent- und Polsterüberzüge, vor allem aber die rupfenen Leintücher aus selbstgesponnenem, bäuerlich gewebtem Alpenflachs) aus dem Haus. Man hörte auch damit auf, Flachs anzubauen:
immer seltener sah man im Sommer in einer Ecke eines Korn- oder
Erdäpfelackers den blauen Traum des blühenden kleinen Flachsfeldes und im Frühling die weiße Pracht der von den Bäuerinnen in die
Sonne gelegten, jung gewebten Linnenbahnen. Der ölhaltige Flachsoder Leinsamen wurde fürderhin beim Müller gekauft: wie hätte
man ohne Leinsamen Kälber aufziehen und allerlei Wunden bei
Mensch und Tier häuslich heilen können? Das rupfene Tuch aber
wurde durch baumwollenes Zeug aus der Fabrik ersetzt. Manche erblickten darin ein Indiz für die zunehmende Verweichlichung unserer Leute; der Taufpate beispielsweise wurde nicht müde, für alles
Rupfene zu kämpfen, freilich nur platonisch, denn daheim hatte
auch er sich schon dem Weiberregiment gefügt. Und wirklich meinte
man, wenn man vom einem „gekauften Leintuch“ auf ein hausgemachtes, rupfenes übersiedelte, aus einem milden Ölbad auf ein
quälendes Reibeisen geraten zu sein. Indessen hätten die Bauersleute
das Stechen, Beißen und Kratzen der rupfenen Leintücher und
Hemden sicherlich weiterhin auf sich genommen, zumal sie ja nie
zuvor die sanfte Weichheit des gekauften Tuches am eigenen Leib
erfahren hatten, wenn nicht letzten Endes wirtschaftliche Erwägungen gegen die Fortsetzung des Flachsanbaus gesprochen hätten. Die
Verweichlichung könnte mithin, sofern sie überhaupt vorlag, nur Folge, nicht Ursache der hier dargestellten Entwicklung gewesen sein.
[ 73 ]
Trotzdem wurde – und dies erscheint mir wesentlich – mit dem
Rückgang des Flachsanbaus ein Stück der alten dörflichen Gemeinschaft zerstört. Wenn die Samenkapseln vom abgeernteten Flachs
entfernt waren, wurden die Flachsstämmchen zunächst an einer
sonnseitigen Leite zum Garwerden ausgebreitet: Regen, Tau und milde Herbstsonne zersetzten nach und nach die harte äußere Hülle der
Stämmchen. War dies geschehen, so kam der große Tag des Brechelns: In einer großen gemauerten Grube am Waldrand wurde Feuer gemacht; über der Grube lag ein Rost aus dicken Holzstangen. Auf
diesem Rost wurde der Flachs leicht angeröstet, ehe er in die Hände
der Brechler und Brechlerinnen geriet. Die Brecheln waren tischhohe Holzgestelle, deren oberer Teil eine harte Scheide bildete, in welche die am einen Ende festsitzende hölzerne „Klinge“ hineingepresst
wurde, damit einem Taschenmesser nicht unähnlich. Die letzten
Reste der äußeren, wertlosen Hülle des Flachses wurden so entfernt
und die blonde Flachsfaser befreit. Während sich die Körbe mit dem
langen schönen „Haar“ füllten, dröhnte das emsige Schlagen der Brecheln durchs herbstliche graue Tal. Jeder Bauer brauchte zum Brecheln ein Dutzend und mehr Taglöhner, auch Nachbarn kamen zum
Aushelfen: es war ein emsiges Getratsche und Gerede, alles wurde
da, indes die Brecheln sich lärmend hoben und senkten, besprochen
und durchgehechelt, vom ledigen Kind bis zum Viehpreis, vom alten
Vorsteher bis zum neuen Podestà. Der eigentliche Höhepunkt des
Tages war jedoch das gemeinsame Mittagessen, zu dem das Brechelmus, ein köstliches Gericht aus Erdäpfeln und Rahm, aufgetischt
wurde.
Die Flachs-Röstgruben sind längst zerfallen. Die Kinder von heute
wissen, wenn sie ein solches Loch sehen, nichts mehr damit anzufangen. Sei’s drum. Worauf es aber ankam, war, dass der Bauer, als
er aufhörte, Flachs zu bauen, auch eine der wenigen Gelegenheiten
im Jahr verlor, Menschen um sich zu scharen, Nachbarn zur Arbeit
zu gewinnen, wofür auch er sich wieder von den Nachbarn gewinnen
ließ. Das Ergebnis war nicht nur ein einsamer Tag mehr im Jahr, sondern auch der Verlust jener zwischenmenschlichen Dimension, die
allein ums Brechelfeuer herum sich Jahr für Jahr erneuert hatte,
wenn die finsteren Schwärme der Krähen über den Äckern den Winter verhießen und die feuerroten Beerendolden der Eberesche im
fahlen Licht der Nebeltage leuchteten.
[ 74 ]
Solang die Krise währte und die Bürgschaften uns böse krächzend
wie gefräßige Dohlen umflatterten, hielt man bei uns zu Haus am
guten Brauch der Stör fest. Der Schuhmacher und der Schneider kamen je eine Woche oder auch zehn Tage zu uns ins Haus, um alles
Alte zu flicken und zu erneuern und neue Gewänder, Mäntel, Hosen, Joppen und Schuhe anzufertigen. Die Meister und ihre Gesellen
aßen für sich allein am Stubentisch; die Mutter kochte auch eigens
für sie, und zum Neuner und zur Marende wurden Speck und Wurst
aufgeschnitten. Der Schuhmacher, ein großer Mann mit vielen Kindern, der allzu früh an Schwindsucht starb, ließ stets ein wenig
Speck und Wurst auf dem Teller übrig; das sei für die Kinder, sagte
er zur Mutter. Er wusste, dass wir Speck und Wurst nur in den Knödeln zu essen bekamen. Da er ein so gutes Herz für uns hatte, mochte ich ihn gern, obgleich die Schuhe aus seiner Meisterhand vorne
zwickten und hinten Blasen und Hautflecken bewirkten.
Der Schneider war ein Mann voller Schnurren und, wiewohl nur
Bauernschneider, nicht ohne ästhetisches Gefühl: er und ich versuchten gemeinsam – und stets erfolglos – der Mutter einzureden,
dass meine kurzen Hosen ein wenig kürzer sein sollten, nicht ganz so
kurz wie die Hosen der Buben der besseren Leute natürlich, dies
wäre mir vermessen erschienen, aber doch annähernd so kurz und
nicht bis zum halben Knie reichend. Der Schneidermeister füllte im
Übrigen unsere Köpfe dermaßen mit Geistergeschichten und erdichteten Kriegsabenteuern (so wollte er in Galizien zwei aufs Bajonett
gespießte Kosaken an dem geschulterten Gewehr einen Tagmarsch
weit getragen und eine Medaille dafür bekommen haben), dass wir
vor lauter Aufregung Schulbücher und Hausaufgaben vergaßen. Diese Handwerker halfen uns sparen. Häufig fügte es sich auch, dass
die Schuhe, die sie für uns Kinder gemacht, und die Mäntel oder
Hosen, die sie für uns geschneidert hatten, nach dem Ende der Störwoche einfach verschwanden. Fragten wir danach, so sagte die Mutter scheinheilig:
„Die muss das Christkind mitgenommen und versteckt haben.“
Und wirklich waren die verschwundenen Sachen zu Weihnachten
oder früher schon, zu Nikolaus, wieder da, und wir freuten uns über
die Geschenke, als sähen wir sie zum ersten Mal.
Auch nachdem wir aus den rupfenen Hemden geschlüpft waren,
die auf der Haut gezwickt und gebissen hatten wie ein Heer von
[ 75 ]
Ameisen, lebten wir altmodisch und genügsam wie eh und je. Die
Holzhändler knauserten weiter mit dem Geld. Das Milchgeld blieb
in der Sparkasse für die Bürgschaften, oder es musste zum Kaufmann getragen werden, weil wir Schulden hatten. Vielleicht waren
wir sogar arm, obwohl wir Haus und Hof, Feld und Wald besaßen.
Doch merkte außer uns niemand etwas davon. Ist im Dorf Besitzlosigkeit schon eine Schande, so gilt Armut als ein abscheulicher Zwitter aus Strafe Gottes und Liederlichkeit, mag sie noch so unverschuldet sein. Der größte Schimpf, den man einem antun kann, ist, ihn
Hungerleider zu nennen. Und jene Armut, die sich ihre Würde bewahrt hat, rächt sich dafür, indem sie die Reichen, die Besitzenden
Hungerleider schimpft – einmal um die eigene asketische Verachtung für die irdischen Güter kundzutun (lieber arm und satt, als mir
Geld und Gut zusammenhungern!), zum anderen, um die selbstgefällige Nächstenliebe der Besitzenden zu bestrafen, die die Wohltat als
Bestätigung der Wohlhabenheit benötigt. Nie hätten meine Eltern
damals zugegeben, dass es ihnen vorn und hinten nicht zusammenging. Im Gegenteil: je wohlhabender der Besuch, der ins Haus geschneit kam, desto mehr und Besseres tischte die Mutter auf, Speck
und Wurst und Sennereikäse und Wein und Weizenbrot, und wenn
der Gast höflich abwehrte, ohnehin nur pro forma, weil es sich so gehörte, dann drängte sie ihn, tüchtig zuzugreifen.
„Wir haben’s ja. Uns fehlt’s an nichts. Wir haben das jeden Tag. Wir
lassen uns nichts abgehen, müsst ihr wissen. Jeden Tag haben wir
das.“
Natürlich ging all das, was der Gast verzehrte, den Hausleuten ab.
Nur fiele es einem Bauern oder einer Bäuerin nie ein, sich das einzugestehen. Eher bedauert man die einem wirklich Armen erwiesene
Wohltat als das dem Wohlhabenden, dem Vermögenden vorgesetzte
reiche Mahl. Das Bewusstsein, diesem den Reichtum der Speisekammer vor Augen geführt zu haben, vermag sogar den schalsten
Gerstenkaffee in ein betörendes Getränk zu verwandeln.
Nein, wir waren nicht arm. Wir hatten genug zum Leben und zum
Sterben. Wir waren nur bescheiden, wenngleich diese Bescheidenheit genau dem entsprach, was die Mittel erlaubten und somit gar
keine war. Doch wer wollte Bescheidenheit ertragen, wenn er sie sich
nicht als Tugend anrechnen dürfte?
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Nachwort
Es wäre mir als Verrat erschienen, wenn ich meine „schöne Welt“
nicht bei ihrem ehrlichen Namen genannt, wenn ich mein Sexten
hinter einem Fantasienamen versteckt hätte. Weshalb auch hätte ich
es tun sollen? Sexten braucht sich seiner Vergangenheit und seiner
letztlich doch „lieben Leut“, die Sie nun kennen, nicht zu schämen.
Da ich aber das Tal nenne, musste ich um der Menschen willen bei
den Menschen schwindeln. Die Namen und die subjektiven Attribute der handelnden Personen sind also vielfach verändert worden: wer
Veit heißt, hieß nicht Veit, wer als Schuhmacher bezeichnet wird,
war nicht Schuhmacher, wer als Taufpate figuriert, war zumindest
nicht mein Taufpate. Dieses Schwindeln bei Namen und Attributen
war unerlässlich, damit ich in allem Übrigen bei der Wahrheit bleiben konnte. Ich habe überdies einige Begebenheiten, die sich an anderen Orten, in anderen Tälern zugetragen haben, in die Sextener
Kulisse verlegt, dies jedoch nur dann, wenn ich mir guten Gewissens
sagen konnte, dass sie sich ebenso gut „bei uns daheim“ hätten zutragen können. Es war obendrein mein Bestreben, durch gewisse Pointierungen der objektiven Wahrheit zu dienen, nicht sie zu verfälschen
oder zu verschleiern.
Eine zusätzliche Erklärung mag der häufig gebrauchte Terminus
„walsch“ („welsch“, „walisch“ usw.) erfordern, zumal dieser Begriff
nicht selten als beleidigend oder gar schmähend empfunden wird. In
unserem Sprachgebrauch bezeichnet „walsch“ (nur ältere Leute sagten zu meiner Zeit noch „walisch“) alles benachbarte Fremde, also
die Italiener, und zwar ohne jede im positiven oder negativen Sinn
wertende Implikation. „Welschtiroler“ meint nicht „schlechter“ oder
„minderer“ Tiroler, sondern einfach „italienischer“ Tiroler, so wie der
„welsche“ Schweizer schlicht der „französische“ Schweizer ist. „Er ist
walsch“, „er redet walsch“ heißt somit „er ist Italiener“, „er redet italienisch“, und es heißt keinesfalls, der Betreffende sei ein minderwertiges Subjekt welcher Gattung immer. Natürlich kann das „walsch“
im Munde unserer Leute auch in abwertendem oder beleidigendem
Sinne gebraucht werden (wann dies’ im Buch der Fall ist, ergibt sich
aus den Zusammenhängen), doch kommt das bei uns in Sexten, an
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der unmittelbaren Sprachgrenze, viel seltener vor als im nationalistisch verseuchten ferneren oder sehr fernen Hinterland.
Der Begriff „walsch“ lebt im ursprünglichen Sinn auch im „Welsh“
für die Kelten von Wales (Großbritannien) oder in dem die Franzosen Belgiens bezeichnenden „Wallonen“ fort. Im Übrigen stimmen
alle großen Konversationslexika darin überein, dass unser „walsch“
oder „welsch“ (althochdeutsch „wahlisch“, mittelhochdeutsch „wählisch“) in grauer Vorzeit den keltischen Stamm der Volken (Volcae)
meinte und dass es dann allmählich den Sinn von „fremdländisch“,
besonders im Hinblick auf romanische Völker (Franzosen und Italiener), annahm.
c. g.
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