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Wie der Herr Graf den Tag strecken wollte
Der Herr Graf begab sich eines Tages auf die Felder, um nachzusehen, wie seine
Leute arbeiteten. Sie waren fleissig von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
Doch dem Grafen genügte das nicht. Er rief daher seine Leute zusammen und
sagte ihnen: „Ihr leistet während eines Tages zu wenig. Wir werden den Tag
strecken müssen. Wem das gelingt, der bekommt ein Goldstück.“
Ein Jüngling meldete sich und erklärte, er wolle eine Maschine bauen, mit der
man den Tag strecken könne. Der Graf freute sich, und der Jüngling ging ans
Werk. Er nahm ein riesengrosses Wagenrad, setzte sich auf eine Achse, befestigte eine Kurbel daran, und die Maschine war fertig. Der Graf schüttelte den
Kopf und sagte: „Aber das ist doch nur ein Rad mit einer Kurbel.“
„Stimmt“, meinte der Jüngling, „doch ist es eine gute Maschine. Ihr müsst aber
selber an der Kurbel drehen, sonst wird der Tag nicht gestreckt. Und ihr müsst
vom Morgengrauen bis zum Abend drehen!“
„Nun gut“, sagte der Graf, „ich werde es ausprobieren.“
Als am Morgen die Leute zur Arbeit gingen, packte der Herr Graf die Kurbel und
drehte sie ohne Unterlass. Das Rad war gross und ging schwer. Der Herr Graf
begann ordentlich zu schwitzen. Das Kreuz schmerzte ihn, er spürte die Hände
nicht mehr und konnte kaum den Abend erwarten. Als die Sonne endlich unterging, kam der Jüngling vorbei und fragte: „Nun, Herr Graf, war der heutige Tag
nicht länger?“ „Und ob er länger war! Er war so lang wie eine Woche. Ich dachte
schon, er würde überhaupt nicht enden. Es ist wirklich eine gute Maschine. Aber
könnte sie nicht jemand anders drehen?“
„Das wäre sicher möglich, aber dann würde der Tag nicht gestreckt.“ Der Graf
dachte nach und sagte: „Schade. In diesem Fall ist es aber besser, der Tag bleibe so kurz, wie er gewesen ist.“
Und das Goldstück? Das musste er natürlich bezahlen.