Kapitalismus und danach. Ein kulturalistischer Erklärungsversuch dazu, wie es ist und wie es sein könnte – in unternehmenstheoretischer Absicht. Betriebswirtschaftslehre (als mögliche Wissenschaft von und damit Theorie der Unternehmung) und Kapitalismuskritik gehören von der Realgeschichte dessen, was sich seit der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert international als “Business Administration”, in Deutschland theoretisch wesentlich anspruchsvoller als Betriebswirtschaftslehre dingfest machen lässt, keineswegs zusammen. In ihrer Abgrenzung von der Volkswirtschaftslehre war und ist diese wissenschaftliche Disziplin eher als implizite Rechtfertigungswissenschaft kapitalistischer Marktwirtschaften zu kennzeichnen, nur selten als explizite: Schmalenbachs Gemeinwirtschaftlichkeit ließ seinerzeit gegen Rieger Zweifel daran aufkommen, dass es nur um den Gewinn der Unternehmer ginge – aber ausdrücklich ohne jeden Bezug auf damals intensiv geführte Diskussionen über sozialistische und kommunistische Wirtschafts- und Gesellschaftsweisen. Und das Hineinschwappen erneuter fundamentaler Kapitalismuskritik in Folge der 68er Bewegung in die Betriebswirtschaftslehre beschränkte sich auf wenige Jahre: das Projekt Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL) 1974 war nach wenigen Jahren schon deshalb gescheitert, weil es statt einer unabhängigen kapitalismuskritischen Option den Versuch darstellte, eine solche auf die Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) festzunageln. Kaum später begannen allerdings dann solche Positionen sich auch in der Betriebswirtschaftslehre herauszubilden (zunächst jenseits der professoralen Ebene), die über die ökologische Herausforderung von Wirtschaft und Gesellschaft neue Fundamente für eine kapitalismuskritische Theorie der Unternehmung zu legen begannen. Die folgenden Thesen stellen eine Weiterführung dieser Tradition dar. 1. Irgendwie unbestritten unter fast allen, die sich heute nüchtern Rechenschaft ablegen über den Zustand der Welt, scheint die Einsicht zu sein, dass die mit Idee und Organisation der kapitalistischen Marktwirtschaften verbundenen Hoffnungen und Erwartungen in einem solchen Ausmaß nicht eingelöst wurden, dass die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegende Veränderungen erfordern. Mit den Worten Hartmut Rosas: „Das der Entfaltung ökonomischer Potenz und der Entwicklung technischer Möglichkeiten gleichsam eingeschriebene Versprechen und die von den Verteidigern des Kapitalismus von Adam Smith bis Ludwig Erhard immer wieder beschworene Erwartung, die Effizienz der ‚Marktwirtschaft’ werde die Bedeutung und Dominanz der ökonomischen Sphäre als ‚Reich der Notwendigkeit’ für die Lebensführung der Menschen immer weiter reduzieren, so dass die Lebensgestaltung im Alltag wie im Blick auf die Biographie und das Zusammenleben nach ästhetischen und philosophischen, kulturellen und solidarischen, vielleicht aber auch nach religiösen oder ökologischen Motiven ein- oder ausgerichtet werden und damit das ‚Reich der Freiheit’ instanziiert werden könne, wurde bitter enttäuscht.“ (Rosa 2013, 402) Keynes sprach im Jahr 1928 vor Studenten in Cambridge über „wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ und stellte dabei die Vermutung auf, es werde „die Lebenshaltung der fortschrittlichsten Länder in 100 Jahren vier- bis achtmal so hoch sein..., als sie heute ist.“ Er führte das zu der Schlussfolgerung, es werde „unter der Annahme, dass keine wichtigen Kriege und keine erhebliche Vermehrung der Bevölkerung stattfinden, die Lösung des ökonomischen Problems in 100 Jahren zum mindesten in Sicht sein.“ Und in der Niederschrift dieser Rede wird es gegen Ende pathetisch: „Ich sehe also für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und gewissesten Grundsätzen der Religion und herkömmlichen Tugend zurückzukehren: dass Geiz ein Laster ist, das Verlangen von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld verächtlich, und dass diejenigen, die sich am wenigsten um den Morgen sorgen, am wahrsten in den Pfaden der Tugend und maßvoller Weisheit wandeln. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und werden das Gute dem Nützlichen vorziehen.“ (Keynes 1956, 264) Das im 21. Jahrhundert nach Meinung von Keynes also gelöste ökonomische Problem wird also als gleichsam reines Problem materieller Versorgung und daran via Einkommensgenerierung hängendem Arbeitszwang gedacht. Das hat bekanntlich nicht funktioniert und kann offenkundig nicht funktionieren, weil wie schon von Marx analysiert der systemische Zwang zur permanenten Kapitalverwertung sich sämtliche gesellschaftlichen Bereiche unterwirft und die Funktionsmechanismen der modernen Wirtschaftsgesellschaften darauf angelegt scheinen, dieses Steigerungsspiel auch unendlich fortsetzen zu müssen. Eben daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines kulturalistischen Zugangs: das Ökonomische ist eben nicht separierbar. Wir haben es mit einer schier unendlichen Vielfalt kultureller Praktiken zu tun, die sich u. a. vordergründig als ökonomische Praktiken artikulieren und als praktizierte Wertschätzungen zu verstehen sind (die praxistheoretische Einbindung des Begriffs der Werte ist wichtig, und bemerkenswerterweise geht es in Keynes’ pathetischem Schluss um abwägende Wertschätzungen). Was wir Gesellschaft nennen, ist nichts anderes als das Spielfeld, auf dem der Wettbewerb dieser Praktiken ausgetragen wird. 2. Aus dieser real existierenden Vielfalt ergaben und ergeben sich Probleme theoretischer wie praktischer Gesellschaftskritik. Gesellschaftstheorien wie erst recht soziale und politische Bewegungen scheinen darauf angewiesen, Komplexität weitgehend zu reduzieren. Lange vor Luhmann und seinen binären Kodierungen war dies schon ein Problem der Marxschen Theorie und ihrer konzeptionellen Folgen. Die Definition einer als besondere gekennzeichneten Wirtschafts- und Gesellschaftsformation unter dem Begriff Kapitalismus wirft aber noch ein weiteres Problem auf, Rahel Jaeggi ordnet es in die Schublade „ethische Kritik am Kapitalismus“ ein: „Auch die ethische Kritik sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass nicht immer klar ist, welche der von ihr aufgewiesenen Symptome tatsächlich spezifisch kapitalistischer Natur sind. Geht es hier wirklich um Kapitalismus oder nicht vielmehr um die Moderne generell?“ (Jaeggi 2013, 344) Hier wäre sogar noch weiterzugehen: sind möglicherweise gesellschaftskritisch thematisierte Verhältnisse nur kulturanthropologisch und evolutionstheoretisch zu rekonstruieren, ist also in Bezug auf bestimmte Tatbestände die Zuordnung zu einer als besonders ausgezeichneten Gesellschaftsformation möglicherweise irreführend? Ist darüber hinaus gehend die gesellschaftstheoretische Konstruktion von Etappen der Menschheitsgeschichte eine Konstruktionsleistung, die wir grundlegend in Frage stellen müssen? Und sollten geschichtsphilosophische Spekulationen vielleicht eher zurückgehalten oder unterlassen werden, weil sie als Ausdruck von Befindlichkeiten ihrer Autoren irreführende Schließungen vornehmen, statt der prinzipiellen Offenheit gesellschaftlicher Zukünfte wirklich gerecht zu werden? 3. Ein wesentliches Defizit vieler vorgängiger Gesellschaftskritiken ist jedenfalls ein zu hoher, daher schlechter und im Ergebnis falscher Abstraktionsgrad. In meinem 2011 veröffentlichten Aufsatz mit Nana habe ich das am Begriff des Kapitalismus aufgezeigt (Karlstetter/ Pfriem 2011, 64 ff.) Jaeggi macht die Unzulänglichkeit einer Definition über wenige Kriterien noch einmal deutlich, wenn sie (1) Privateigentum an Produktionsmitteln, (2) freien Arbeitsmarkt, (3) Orientierung an Gewinn statt Bedarf und (4) Marktmechanismus zu hinreichenden Kriterien erklärt, dann auch noch mit dem Zusatz, Kapitalismus und Marktwirtschaft seien eng miteinander verbunden, aber nicht identisch. (Jaeggi 2013, 323) Die real existierende und eben nicht auf zwei Klassen o. ä. reduzierbare Heterogenität der Akteure ist jedenfalls in der Marxschen Theorie und erst recht in vielen einschlägigen darauf bezogenen Konzeptionen danach sträflich unterschätzt worden. (Wie weit Marx selber der Versuchung anheimgefallen ist, die Ökonomie als einen separierbaren Gegenstand zu behandeln, darüber kann ohne Ende gestritten werden. Dafür zwischen einem philosophischen Marx I und einem ökonomischen Marx II zu unterscheiden – so Pagano 2007, stellt selber sicher wieder eine zu grobe Vereinfachung dar.) Die mit marxistischen oder im weiteren Sinne linken Gesellschaftstheorien verbundene Abstraktionshöhe (bisweilen in Verbindung mit dem an sich redlichen Versprechen, die künftige Gesellschaft nicht ausmalen zu wollen) hatte eine Entleerung von konkreten Inhalten in einem Ausmaß zur Folge, dass auch ihnen weitgehend der Vorwurf der Weltlosigkeit gemacht werden muss (zu dieser im Anschluss an Welsch 2012 entwickelten Kritik s. Pfriem 2013) Noch weniger Erklärungskraft haben natürlich alle solchen Konzeptionen von Ökonomik, die sich über die historischen und kulturellen Bedingungen ihrer universalisierenden Modelle noch nicht einmal Rechenschaft ablegen. 4. Die Heterogenität von Akteuren bedeutet, erst recht die unter dem Begriff Moderne zusammengefassten Gesellschaften im Maße des Möglichen auch auf der quasi-objektiven Seite in ihrer Heterogenität zu analysieren (multiple modernities, Eisenstadt 2000) Im Sinne der von Giddens prägnant herausgearbeiteten dialektischen Beziehung zwischen Handeln und Struktur (Giddens 1988) sind die Projektion von Wünschen und Sehnsüchten der Menschen und die Herausbildung von Entwicklungspfaden rekursiv miteinander verknüpft – über kulturelle Praktiken, die nicht als vor allem intentionales Handeln verstanden werden dürfen. In Umkehrung der Reihenfolge (nicht des Sinngehalts) von Marxens Formulierung aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte, die Giddens für sein Hauptwerk zum Ausgangspunkt nimmt, machen die Menschen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten Umständen, aber trotz Überlieferung und Vorhandensein ihrer Handlungsbedingungen machen sie als Gattungswesen eben ihre eigene Geschichte. Unser Verständnis von kulturellen Praktiken, zu denen auch als ökonomische gekennzeichnete Praktiken gehören, stellt also eine Brücke dar zwischen zwei heterogenen Konstellationen: jenen auf der Akteursseite und jenen auf der Seite, die wir als Gesellschaft oder gesellschaftliche Verhältnisse beschreiben. Wie gebrochen und sowieso unbewusst auch immer, lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ergebnis menschlicher Sinngebungen verstehen. Normative Gesellschaftskritik hat das zu berücksichtigen und darf nicht auf schlichte Weise der Idee folgen, die Menschen wollten „eigentlich“ etwas ganz anderes. Mit Begriffen wie Kultur und kulturalistisch versuchen wir die sich verändernde Heterogenität auf beiden Seiten und in den Wechselwirkungen beider Seiten zu erfassen. Entgegen Befürchtungen wie von Dirk Baecker, der Kulturbegriff umfasse alles und sei deshalb unbrauchbar, lässt er sich unter Rückgriff auf den ursprünglichen Bedeutungsgehalt sehr wohl markieren: als von Gewohnheiten, Absichten, Kenntnissen, Erfahrungen etc. getriebene Praxis der Pflege des Umgangs mit den Bedingungen und Herausforderungen des menschlichen Handelns, bei der unterschiedliche (auch direkt positive oder negative) Wertschätzungen zum Ausdruck kommen. 5. Die so genannte Realgeschichte ist insofern als Kulturgeschichte zu rekonstruieren, als Geschichte von praktizierten Wertsetzungen. Wenn wir bei aller Vorsicht gegenüber historischen Etappenbildungen die heutige Stufe der kulturellen Evolution so charakterisieren, dass trotz aller wiederkehrenden Beschwörungen von Gut und Böse die Menschheit die Zeit hinter sich gelassen hat, in der die sieben Todsünden (Schulze 2006) oder die antiken Kardinaltugenden regulative Kraft für menschliches Handeln besaßen, scheint die Lösung zum Problem zu werden: die Befreiung bzw. Loslösung von solchen Bindungen hat eine normative Leere hinterlassen, deren Füllung ungewisser denn je ist. Die „Selbstschöpfung der Gesellschaft“ könnte scheitern, statt endlich genügend Freiräume für sich zu haben. Der britische Historiker John Gray hat für den heutigen Stand der kulturellen Evolution eine sarkastische Feststellung getroffen, die sich bei manchen alten aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Menschen längst schon beobachten lässt: „Der moderne Kapitalismus ist ungeheuer produktiv. Aber sein Hauptauftrag lautet nicht mehr Produktivität, sondern die Langeweile in Schach zu halten.“ Könnte dies auf die modernen Wirtschaftsgesellschaften (als Ausdruck von Überalterung) möglicherweise auch zunehmend zutreffen? 6. Irene sei Dank, arbeiten wir seit einiger Zeit von Eisenstadts Idee der multiple modernities her kommend mit dem Begriff der kulturellen Prozesse, aus deren Verschränkung heraus moderne Gesellschaften zu analysieren sind. Für mich ist dabei inzwischen besonders bedeutsam, dass diese Prozesse für sich und in ihren Verknüpfungen nicht nur selbstverständlich Veränderungen unterliegen, sondern auch einer zielgerichteten Dynamik: alle verkörperten einmal Befreiung und Verbesserung der menschlichen Lebensqualität, und bei allen hat sich mittlerweile das anfängliche Licht in viel Schatten verwandelt. Mit anderen Worten: die heutige Ausprägung dieser Prozesse bedeutet für eine zunehmende Zahl von Menschen Belastungen, Leid, Verlust an Freiheit und Lebensqualität. Salopp formuliert, haben wir mit Irene bei 5 Prozessen angefangen (Technisierung, Verwissenschaftlichung, Beschleunigung, Medialisierung und Subjektivierung). Verwissenschaftlichung betrifft sowohl die Entmündigung von Laien durch Experten wie auch die Entmündigung des Gefühls durch den kalkulatorischen Verstand. Beschleunigung führt auf der subjektiven Seite zum Verlust von Gelassenheit. Auf meinen Vorschlag hin haben wir im letzten Sommersemester für das Modul Unternehmen und kultureller Wandel zwei Prozesse hinzugefügt: Kommerzialisierung und Individualisierung. Wie man u. a. bei Polanyi (1978) und Hirschman (1987) nachlesen kann, aktuell und für die heutigen Verhältnisse bei Sandel (2012), lässt sich die Herausbildung von Verhältnissen, die Marktförmigkeit von allem und jedem nach vorne zu bringen, selbst als dramatischer kultureller Prozess rekonstruieren. Und die Individualisierung eigenständig zu markieren, scheint mir im Sinne von Beck (1986) sinnvoll, weil die Vereinzelung (Auflösung familiärer Bindungen und Strukturen auch zunächst als Befreiung daher kommend) und der Verlust an Orientierung sachlich noch einmal voneinander zu trennen sind. Gefühl und Praxis, die individuelle Konkurrenz gegen andere verschärfen zu müssen, hängen mit beidem zusammen. Christian hat dann vorgeschlagen, dass eigentlich auch Verrechtlichung und Globalisierung als eigenständige kulturelle Prozesse ausgezeichnet werden sollten. Sicher sollten wir uns hüten, immer neue Prozessbegriffe hinzuzufügen, aber ich stimme diesem Erweiterungsvorschlag zu und möchte sogar noch einen weiteren Prozess markieren, womit wir dann bei der schönen Zahl 10 angelangt wären: die Naturvernichtung als Bezähmung der Wildnis (vgl. Schama 1995). Dreck ist Materie an der falschen Stelle, hat Ernst Bloch irgendwo formuliert, und für die modernen Menschen scheint es nur falsche Stellen zu geben. Das heißt, bemerkenswert sind hier weniger die harten Fakten von Zerstörung von Biodiversität, die wir zu Recht nicht aufhören zu kritisieren, sondern der kulturelle Drang, Ordnung und Sauberkeit zu schaffen, den man an der deutschen Vorgartenkultur in manchmal erschreckender Weise beobachten kann. Auch die beiden Vorschläge von Christian scheinen mir überzeugend. Verrechtlichung ist ein Spezifikum der Moderne, das wesentliche Teile unseres Lebens bis hinein in den Alltag stark prägt. Auch hier standen – gegen die Willkürherrschaft von Adel und Klerus – die Vorteile einmal im Vordergrund, während inzwischen die negativen Aspekte stark zugenommen haben. Für die räumliche Entgrenzung (Globalisierung) gilt dasselbe: wo die „Erfahrung der Ferne“ (Leed 1993) einmal Bereicherung menschlicher Empfindungen und Wahrnehmungen war, verschwimmen dem heutigen Fernreisetouristen eher die Unterschiede. Bei diesen 10 unterscheidbaren Prozessen sollten wir es dann wohl belassen. 7. Eine auf die Erfassung möglichst universaler Gesetzmäßigkeiten und um der vermeintlichen Exaktheit auf Quantifizierung gerichtete Wissenschaft wird Geschichte als Kulturgeschichte im oben beschriebenen Sinne niemals begreifen können. Unser kulturalistischer Zugang hingegen bietet die Möglichkeit, Prozesse, Qualitäten und Fähigkeiten als wesentliche Dimensionen von Geschichte analysieren zu können. Die gerade erweitert definierten kulturellen Prozesse materialisieren sich als strukturelle Prozesse (Beispiel Autogesellschaft). Es bilden sich also Entwicklungspfade und Pfadabhängigkeiten heraus. Gesellschaftliche Wertsetzungen materialisieren sich in Qualitäten und Qualitätsverlusten (Beispiel Zerstörung von Biodiversität durch industrialisierte Land- und Ernährungswirtschaft wegen angeblicher Versorgungsvorteile). Und diese kulturellen Prozesse führen zur Entwicklung von Fähigkeiten und zum Verlust anderer (Beispiel Lebensmittel nicht mehr kennen und nicht mehr kochen können). 8. Zu allen diesen konzeptionellen Elementen passt nach meinem Dafürhalten hervorragend, den aristotelischen Begriff und Gedanken von phronesis zu revitalisieren und damit natürlich auch unter heutigem Blickwinkel zu verstehen und anzuwenden. Mit der Idee von phronesis „wird der Begriff der Klugheit um die Dimension aufgewertet, die ihr in der Neuzeit abhanden gekommen ist: die Dimension der Lebensführung auch unter moralischen Gesichtspunkten.“ (Luckner 2005, 7) Damit kann die erst zu modernen Zeiten gedachte (und gerade in der Ökonomik gepflegte) schematische Gegenüberstellung von Eigennutz und Moral überwunden werden: das im auch moralischen Sinne bessere Leben ist regulativ betrachtet das bessere Leben, auch wenn es situativ und in Einzelfällen immer wieder anders erscheint. Tugenden sind keine Eigenschaften (wie jüngst wieder missverstanden von Halbig 2013), sondern moralische Gestaltungkräfte (vgl. Lautermann 2009). Damit passt die Tugendethik ausgezeichnet zum prinzipiell offenen Umgang mit Zukunft, nicht nur in moralischer, sondern auch in sachlich erfolgsorientierter Hinsicht. Wenn wir Tugenden nicht als Eigenschaften in die Person hineinlegen, sondern als moralische Gestaltungskräfte von der Person her in Bezug auf ihr Tun denken, wird auch deutlich, dass phronesis (vor dem Hintergrund der Kritik an der Weltlosigkeit ökonomischer Rationalität) heute als Weltklugheit verstanden werden sollte. Wohlverstandene Selbstorientierung ist deshalb nichts in sich Gekehrtes, sondern selber grundsätzlich weltzugewandt. Nur im Austausch von sich mit der Welt lässt sich üben (Sloterdijk 2009), werden – auch leibliche! – Erfahrungen gesammelt (vgl. Fuchs 2008) und können sich Befähigungen entwickeln (vgl. Sen 2010). 9. Wenn bei allen kulturellen Prozessen die Schattenseiten gegenwärtig weiter zunehmen: was könnte eine Kehre bewirken? Bei allen kulturellen Prozessen lassen sich eben wegen dieser Schattenseiten inzwischen auch Gegenbewegungen identifizieren. Subsistenzaktivitäten, Reparieren statt Wegwerfen, Nutzen und Tauschen statt Kaufen, fremdbestimmte Leistungen selbst in die Hände nehmen (wie bei Energiegenossenschaften), gemeinschaftsorientierte Formen des Wirtschaftens, Wiederentdeckung der Nähe, Herstellung von Vertrauen statt Verträgen und neue Formen aktiver Naturgestaltung stehen dafür. In solchem Akteurshandeln bottom up, nicht in einem neuen großen Gesellschaftsvertrag wie vom WBGU vorgestellt, liegt eine Zukunft von möglichen Veränderungen. Wenn solche kulturellen Gegenbewegungen zu sozialen bzw. politischen Bewegungen werden, bestehen prinzipiell auch Bedingungen dafür, dass sich transformative Formen des Wirtschaftens herausbilden, so wie wir das in den vergangenen Jahrzehnten in den Bereichen Bio-Lebensmittel und regenerative Energien beobachten konnten. Das reicht wie dort bis in den Status der Unternehmensgründung und –entwicklung, schließt aber gerade auch solche Formen ein, die sich absichtsvoll und auf Dauer der Marktförmigkeit entziehen. 10.Also Prinzip Hoffnung (Bloch) statt Prinzip Verantwortung (Jonas). Denn woher soll die Verantwortung kommen? Doch nur daher, dass sich genügend Menschen auf den Weg machen mit der für sie selber hinreichend starken Hoffnung, ihre Hoffnungen in diesem Leben auch einlösen zu können. Die Zeiten, in denen man sich für ein anderes aufopferte, sind nun einmal vorbei. Damit höre ich erst einmal auf. Quellen: Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt Castoriadis, C. (1984) Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (1)1 – 29 Fuchs, Th. (2008): Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Zug Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt-New York Halbig, Ch. (2013): Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt Hirschman, A.O. Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt Jaeggi, R. (2013): Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? Drei Wege der Kapitalismuskritik, in dies.: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin Karlstetter, N./ Pfriem, R. (2011): Zukunft ist möglich. Zur denkbaren Evolution dessen, was wir als Kapitalismus bezeichnen, in Pfriem, R.: Eine neue Theorie der Unternehmung für eine neue Gesellschaft, Marburg Keynes, J.M. (1956): Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, in Rosenbaum, E.: Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme. Ausgewählte Abhandlungen von John Maynard Keynes, Tübingen Lautermann, Ch. (2009): Virtue Business Ethics. Was die internationale Diskussion der kulturalistischen Unternehmensethik bieten kann, in (Hg.) Antoni-Komar u. a.: Neue Konzepte der Ökonomik. Unternehmen zwischen Nachhaltigkeit, Kultur und Ethik, Marburg Leed, E.J. (1993): Die Erfahrung der Ferne, Frankfurt-New York Luckner, A. (2005): Klugheit, Berlin Pagano, U. (2007): Karl Marx after New Institutional Economics, Evol. Inst. Econ. Rev. 4 (1): 27 – 53 Pfriem, R. (2013): Weltlosigkeit überwinden. Zur Kritik des (nicht nur ökonomischen) modernen Menschenbildes und was daraus folgen könnte, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu) 2/ 2013, München Polanyi, K. (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt Rosa, H. (2013): Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle Allianz. Marx’ beschleunigungstheoretische Krisendiagnose, in Hg. Jaeggi, R.: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin Sandel, M.J. (2012): Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin Schama, S. (1995): Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München Schulze, G. (2006): Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, München Sen, A. (2010): Die Idee der Gerechtigkeit, München Sloterdijk, P. (2009): Du musst Dein Leben ändern, Frankfurt Welsch, W. (2012): Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist
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