Kapitalismus und danach. Ein kulturalistischer Erklärungsversuch

Kapitalismus und danach.
Ein kulturalistischer Erklärungsversuch dazu, wie es ist und wie es sein
könnte – in unternehmenstheoretischer Absicht.
Betriebswirtschaftslehre (als mögliche Wissenschaft von und damit Theorie der
Unternehmung) und Kapitalismuskritik gehören von der Realgeschichte dessen,
was sich seit der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert international als
“Business Administration”, in Deutschland theoretisch wesentlich
anspruchsvoller als Betriebswirtschaftslehre dingfest machen lässt, keineswegs
zusammen. In ihrer Abgrenzung von der Volkswirtschaftslehre war und ist diese
wissenschaftliche Disziplin eher als implizite Rechtfertigungswissenschaft
kapitalistischer Marktwirtschaften zu kennzeichnen, nur selten als explizite:
Schmalenbachs Gemeinwirtschaftlichkeit ließ seinerzeit gegen Rieger Zweifel
daran aufkommen, dass es nur um den Gewinn der Unternehmer ginge – aber
ausdrücklich ohne jeden Bezug auf damals intensiv geführte Diskussionen über
sozialistische und kommunistische Wirtschafts- und Gesellschaftsweisen. Und
das Hineinschwappen erneuter fundamentaler Kapitalismuskritik in Folge der
68er Bewegung in die Betriebswirtschaftslehre beschränkte sich auf wenige
Jahre: das Projekt Arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL) 1974 war
nach wenigen Jahren schon deshalb gescheitert, weil es statt einer unabhängigen
kapitalismuskritischen Option den Versuch darstellte, eine solche auf die
Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) festzunageln. Kaum
später begannen allerdings dann solche Positionen sich auch in der
Betriebswirtschaftslehre herauszubilden (zunächst jenseits der professoralen
Ebene), die über die ökologische Herausforderung von Wirtschaft und
Gesellschaft neue Fundamente für eine kapitalismuskritische Theorie der
Unternehmung zu legen begannen. Die folgenden Thesen stellen eine
Weiterführung dieser Tradition dar.
1. Irgendwie unbestritten unter fast allen, die sich heute nüchtern
Rechenschaft ablegen über den Zustand der Welt, scheint die Einsicht zu
sein, dass die mit Idee und Organisation der kapitalistischen
Marktwirtschaften verbundenen Hoffnungen und Erwartungen in einem
solchen Ausmaß nicht eingelöst wurden, dass die heutigen
gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegende Veränderungen erfordern.
Mit den Worten Hartmut Rosas: „Das der Entfaltung ökonomischer
Potenz und der Entwicklung technischer Möglichkeiten gleichsam
eingeschriebene Versprechen und die von den Verteidigern des
Kapitalismus von Adam Smith bis Ludwig Erhard immer wieder
beschworene Erwartung, die Effizienz der ‚Marktwirtschaft’ werde die
Bedeutung und Dominanz der ökonomischen Sphäre als ‚Reich der
Notwendigkeit’ für die Lebensführung der Menschen immer weiter
reduzieren, so dass die Lebensgestaltung im Alltag wie im Blick auf die
Biographie und das Zusammenleben nach ästhetischen und
philosophischen, kulturellen und solidarischen, vielleicht aber auch nach
religiösen oder ökologischen Motiven ein- oder ausgerichtet werden und
damit das ‚Reich der Freiheit’ instanziiert werden könne, wurde bitter
enttäuscht.“ (Rosa 2013, 402)
Keynes sprach im Jahr 1928 vor Studenten in Cambridge über
„wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“ und stellte dabei
die Vermutung auf, es werde „die Lebenshaltung der fortschrittlichsten
Länder in 100 Jahren vier- bis achtmal so hoch sein..., als sie heute ist.“
Er führte das zu der Schlussfolgerung, es werde „unter der Annahme, dass
keine wichtigen Kriege und keine erhebliche Vermehrung der
Bevölkerung stattfinden, die Lösung des ökonomischen Problems in 100
Jahren zum mindesten in Sicht sein.“
Und in der Niederschrift dieser Rede wird es gegen Ende pathetisch: „Ich
sehe also für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und gewissesten
Grundsätzen der Religion und herkömmlichen Tugend zurückzukehren:
dass Geiz ein Laster ist, das Verlangen von Wucherzinsen ein Vergehen,
die Liebe zum Geld verächtlich, und dass diejenigen, die sich am
wenigsten um den Morgen sorgen, am wahrsten in den Pfaden der Tugend
und maßvoller Weisheit wandeln. Wir werden die Zwecke wieder höher
werten als die Mittel und werden das Gute dem Nützlichen vorziehen.“
(Keynes 1956, 264)
Das im 21. Jahrhundert nach Meinung von Keynes also gelöste
ökonomische Problem wird also als gleichsam reines Problem materieller
Versorgung und daran via Einkommensgenerierung hängendem
Arbeitszwang gedacht. Das hat bekanntlich nicht funktioniert und kann
offenkundig nicht funktionieren, weil wie schon von Marx analysiert der
systemische Zwang zur permanenten Kapitalverwertung sich sämtliche
gesellschaftlichen Bereiche unterwirft und die Funktionsmechanismen der
modernen Wirtschaftsgesellschaften darauf angelegt scheinen, dieses
Steigerungsspiel auch unendlich fortsetzen zu müssen.
Eben daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines kulturalistischen
Zugangs: das Ökonomische ist eben nicht separierbar. Wir haben es mit
einer schier unendlichen Vielfalt kultureller Praktiken zu tun, die sich u. a.
vordergründig als ökonomische Praktiken artikulieren und als praktizierte
Wertschätzungen zu verstehen sind (die praxistheoretische Einbindung
des Begriffs der Werte ist wichtig, und bemerkenswerterweise geht es in
Keynes’ pathetischem Schluss um abwägende Wertschätzungen). Was wir
Gesellschaft nennen, ist nichts anderes als das Spielfeld, auf dem der
Wettbewerb dieser Praktiken ausgetragen wird.
2. Aus dieser real existierenden Vielfalt ergaben und ergeben sich Probleme
theoretischer wie praktischer Gesellschaftskritik. Gesellschaftstheorien
wie erst recht soziale und politische Bewegungen scheinen darauf
angewiesen, Komplexität weitgehend zu reduzieren. Lange vor Luhmann
und seinen binären Kodierungen war dies schon ein Problem der
Marxschen Theorie und ihrer konzeptionellen Folgen. Die Definition
einer als besondere gekennzeichneten Wirtschafts- und
Gesellschaftsformation unter dem Begriff Kapitalismus wirft aber noch
ein weiteres Problem auf, Rahel Jaeggi ordnet es in die Schublade
„ethische Kritik am Kapitalismus“ ein: „Auch die ethische Kritik sieht
sich mit dem Problem konfrontiert, dass nicht immer klar ist, welche der
von ihr aufgewiesenen Symptome tatsächlich spezifisch kapitalistischer
Natur sind. Geht es hier wirklich um Kapitalismus oder nicht vielmehr um
die Moderne generell?“ (Jaeggi 2013, 344)
Hier wäre sogar noch weiterzugehen: sind möglicherweise
gesellschaftskritisch thematisierte Verhältnisse nur kulturanthropologisch
und evolutionstheoretisch zu rekonstruieren, ist also in Bezug auf
bestimmte Tatbestände die Zuordnung zu einer als besonders
ausgezeichneten Gesellschaftsformation möglicherweise irreführend? Ist
darüber hinaus gehend die gesellschaftstheoretische Konstruktion von
Etappen der Menschheitsgeschichte eine Konstruktionsleistung, die wir
grundlegend in Frage stellen müssen? Und sollten
geschichtsphilosophische Spekulationen vielleicht eher zurückgehalten
oder unterlassen werden, weil sie als Ausdruck von Befindlichkeiten ihrer
Autoren irreführende Schließungen vornehmen, statt der prinzipiellen
Offenheit gesellschaftlicher Zukünfte wirklich gerecht zu werden?
3. Ein wesentliches Defizit vieler vorgängiger Gesellschaftskritiken ist
jedenfalls ein zu hoher, daher schlechter und im Ergebnis falscher
Abstraktionsgrad. In meinem 2011 veröffentlichten Aufsatz mit Nana
habe ich das am Begriff des Kapitalismus aufgezeigt (Karlstetter/ Pfriem
2011, 64 ff.)
Jaeggi macht die Unzulänglichkeit einer Definition über wenige Kriterien
noch einmal deutlich, wenn sie (1) Privateigentum an Produktionsmitteln,
(2) freien Arbeitsmarkt, (3) Orientierung an Gewinn statt Bedarf und (4)
Marktmechanismus zu hinreichenden Kriterien erklärt, dann auch noch
mit dem Zusatz, Kapitalismus und Marktwirtschaft seien eng miteinander
verbunden, aber nicht identisch. (Jaeggi 2013, 323)
Die real existierende und eben nicht auf zwei Klassen o. ä. reduzierbare
Heterogenität der Akteure ist jedenfalls in der Marxschen Theorie und erst
recht in vielen einschlägigen darauf bezogenen Konzeptionen danach
sträflich unterschätzt worden. (Wie weit Marx selber der Versuchung
anheimgefallen ist, die Ökonomie als einen separierbaren Gegenstand zu
behandeln, darüber kann ohne Ende gestritten werden. Dafür zwischen
einem philosophischen Marx I und einem ökonomischen Marx II zu
unterscheiden – so Pagano 2007, stellt selber sicher wieder eine zu grobe
Vereinfachung dar.)
Die mit marxistischen oder im weiteren Sinne linken
Gesellschaftstheorien verbundene Abstraktionshöhe (bisweilen in
Verbindung mit dem an sich redlichen Versprechen, die künftige
Gesellschaft nicht ausmalen zu wollen) hatte eine Entleerung von
konkreten Inhalten in einem Ausmaß zur Folge, dass auch ihnen
weitgehend der Vorwurf der Weltlosigkeit gemacht werden muss (zu
dieser im Anschluss an Welsch 2012 entwickelten Kritik s. Pfriem 2013)
Noch weniger Erklärungskraft haben natürlich alle solchen Konzeptionen
von Ökonomik, die sich über die historischen und kulturellen
Bedingungen ihrer universalisierenden Modelle noch nicht einmal
Rechenschaft ablegen.
4. Die Heterogenität von Akteuren bedeutet, erst recht die unter dem Begriff
Moderne zusammengefassten Gesellschaften im Maße des Möglichen
auch auf der quasi-objektiven Seite in ihrer Heterogenität zu analysieren
(multiple modernities, Eisenstadt 2000) Im Sinne der von Giddens
prägnant herausgearbeiteten dialektischen Beziehung zwischen Handeln
und Struktur (Giddens 1988) sind die Projektion von Wünschen und
Sehnsüchten der Menschen und die Herausbildung von
Entwicklungspfaden rekursiv miteinander verknüpft – über kulturelle
Praktiken, die nicht als vor allem intentionales Handeln verstanden
werden dürfen. In Umkehrung der Reihenfolge (nicht des Sinngehalts)
von Marxens Formulierung aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte,
die Giddens für sein Hauptwerk zum Ausgangspunkt nimmt, machen die
Menschen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten
Umständen, aber trotz Überlieferung und Vorhandensein ihrer
Handlungsbedingungen machen sie als Gattungswesen eben ihre eigene
Geschichte.
Unser Verständnis von kulturellen Praktiken, zu denen auch als
ökonomische gekennzeichnete Praktiken gehören, stellt also eine Brücke
dar zwischen zwei heterogenen Konstellationen: jenen auf der
Akteursseite und jenen auf der Seite, die wir als Gesellschaft oder
gesellschaftliche Verhältnisse beschreiben. Wie gebrochen und sowieso
unbewusst auch immer, lassen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als
Ergebnis menschlicher Sinngebungen verstehen. Normative
Gesellschaftskritik hat das zu berücksichtigen und darf nicht auf schlichte
Weise der Idee folgen, die Menschen wollten „eigentlich“ etwas ganz
anderes. Mit Begriffen wie Kultur und kulturalistisch versuchen wir die
sich verändernde Heterogenität auf beiden Seiten und in den
Wechselwirkungen beider Seiten zu erfassen.
Entgegen Befürchtungen wie von Dirk Baecker, der Kulturbegriff
umfasse alles und sei deshalb unbrauchbar, lässt er sich unter Rückgriff
auf den ursprünglichen Bedeutungsgehalt sehr wohl markieren: als von
Gewohnheiten, Absichten, Kenntnissen, Erfahrungen etc. getriebene
Praxis der Pflege des Umgangs mit den Bedingungen und
Herausforderungen des menschlichen Handelns, bei der unterschiedliche
(auch direkt positive oder negative) Wertschätzungen zum Ausdruck
kommen.
5. Die so genannte Realgeschichte ist insofern als Kulturgeschichte zu
rekonstruieren, als Geschichte von praktizierten Wertsetzungen. Wenn
wir bei aller Vorsicht gegenüber historischen Etappenbildungen die
heutige Stufe der kulturellen Evolution so charakterisieren, dass trotz aller
wiederkehrenden Beschwörungen von Gut und Böse die Menschheit die
Zeit hinter sich gelassen hat, in der die sieben Todsünden (Schulze 2006)
oder die antiken Kardinaltugenden regulative Kraft für menschliches
Handeln besaßen, scheint die Lösung zum Problem zu werden: die
Befreiung bzw. Loslösung von solchen Bindungen hat eine normative
Leere hinterlassen, deren Füllung ungewisser denn je ist. Die
„Selbstschöpfung der Gesellschaft“ könnte scheitern, statt endlich
genügend Freiräume für sich zu haben.
Der britische Historiker John Gray hat für den heutigen Stand der
kulturellen Evolution eine sarkastische Feststellung getroffen, die sich bei
manchen alten aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Menschen längst
schon beobachten lässt: „Der moderne Kapitalismus ist ungeheuer
produktiv. Aber sein Hauptauftrag lautet nicht mehr Produktivität,
sondern die Langeweile in Schach zu halten.“ Könnte dies auf die
modernen Wirtschaftsgesellschaften (als Ausdruck von Überalterung)
möglicherweise auch zunehmend zutreffen?
6. Irene sei Dank, arbeiten wir seit einiger Zeit von Eisenstadts Idee der
multiple modernities her kommend mit dem Begriff der kulturellen
Prozesse, aus deren Verschränkung heraus moderne Gesellschaften zu
analysieren sind. Für mich ist dabei inzwischen besonders bedeutsam,
dass diese Prozesse für sich und in ihren Verknüpfungen nicht nur
selbstverständlich Veränderungen unterliegen, sondern auch einer
zielgerichteten Dynamik: alle verkörperten einmal Befreiung und
Verbesserung der menschlichen Lebensqualität, und bei allen hat sich
mittlerweile das anfängliche Licht in viel Schatten verwandelt. Mit
anderen Worten: die heutige Ausprägung dieser Prozesse bedeutet für
eine zunehmende Zahl von Menschen Belastungen, Leid, Verlust an
Freiheit und Lebensqualität.
Salopp formuliert, haben wir mit Irene bei 5 Prozessen angefangen
(Technisierung, Verwissenschaftlichung, Beschleunigung, Medialisierung
und Subjektivierung). Verwissenschaftlichung betrifft sowohl die
Entmündigung von Laien durch Experten wie auch die Entmündigung des
Gefühls durch den kalkulatorischen Verstand. Beschleunigung führt auf
der subjektiven Seite zum Verlust von Gelassenheit.
Auf meinen Vorschlag hin haben wir im letzten Sommersemester für das
Modul Unternehmen und kultureller Wandel zwei Prozesse hinzugefügt:
Kommerzialisierung und Individualisierung. Wie man u. a. bei Polanyi
(1978) und Hirschman (1987) nachlesen kann, aktuell und für die
heutigen Verhältnisse bei Sandel (2012), lässt sich die Herausbildung von
Verhältnissen, die Marktförmigkeit von allem und jedem nach vorne zu
bringen, selbst als dramatischer kultureller Prozess rekonstruieren.
Und die Individualisierung eigenständig zu markieren, scheint mir im
Sinne von Beck (1986) sinnvoll, weil die Vereinzelung (Auflösung
familiärer Bindungen und Strukturen auch zunächst als Befreiung daher
kommend) und der Verlust an Orientierung sachlich noch einmal
voneinander zu trennen sind. Gefühl und Praxis, die individuelle
Konkurrenz gegen andere verschärfen zu müssen, hängen mit beidem
zusammen.
Christian hat dann vorgeschlagen, dass eigentlich auch Verrechtlichung
und Globalisierung als eigenständige kulturelle Prozesse ausgezeichnet
werden sollten. Sicher sollten wir uns hüten, immer neue Prozessbegriffe
hinzuzufügen, aber ich stimme diesem Erweiterungsvorschlag zu und
möchte sogar noch einen weiteren Prozess markieren, womit wir dann bei
der schönen Zahl 10 angelangt wären: die Naturvernichtung als
Bezähmung der Wildnis (vgl. Schama 1995).
Dreck ist Materie an der falschen Stelle, hat Ernst Bloch irgendwo
formuliert, und für die modernen Menschen scheint es nur falsche Stellen
zu geben. Das heißt, bemerkenswert sind hier weniger die harten Fakten
von Zerstörung von Biodiversität, die wir zu Recht nicht aufhören zu
kritisieren, sondern der kulturelle Drang, Ordnung und Sauberkeit zu
schaffen, den man an der deutschen Vorgartenkultur in manchmal
erschreckender Weise beobachten kann.
Auch die beiden Vorschläge von Christian scheinen mir überzeugend.
Verrechtlichung ist ein Spezifikum der Moderne, das wesentliche Teile
unseres Lebens bis hinein in den Alltag stark prägt. Auch hier standen –
gegen die Willkürherrschaft von Adel und Klerus – die Vorteile einmal
im Vordergrund, während inzwischen die negativen Aspekte stark
zugenommen haben. Für die räumliche Entgrenzung (Globalisierung) gilt
dasselbe: wo die „Erfahrung der Ferne“ (Leed 1993) einmal Bereicherung
menschlicher Empfindungen und Wahrnehmungen war, verschwimmen
dem heutigen Fernreisetouristen eher die Unterschiede.
Bei diesen 10 unterscheidbaren Prozessen sollten wir es dann wohl
belassen.
7. Eine auf die Erfassung möglichst universaler Gesetzmäßigkeiten und um
der vermeintlichen Exaktheit auf Quantifizierung gerichtete Wissenschaft
wird Geschichte als Kulturgeschichte im oben beschriebenen Sinne
niemals begreifen können. Unser kulturalistischer Zugang hingegen bietet
die Möglichkeit, Prozesse, Qualitäten und Fähigkeiten als wesentliche
Dimensionen von Geschichte analysieren zu können.
Die gerade erweitert definierten kulturellen Prozesse materialisieren sich
als strukturelle Prozesse (Beispiel Autogesellschaft). Es bilden sich also
Entwicklungspfade und Pfadabhängigkeiten heraus.
Gesellschaftliche Wertsetzungen materialisieren sich in Qualitäten und
Qualitätsverlusten (Beispiel Zerstörung von Biodiversität durch
industrialisierte Land- und Ernährungswirtschaft wegen angeblicher
Versorgungsvorteile).
Und diese kulturellen Prozesse führen zur Entwicklung von Fähigkeiten
und zum Verlust anderer (Beispiel Lebensmittel nicht mehr kennen und
nicht mehr kochen können).
8. Zu allen diesen konzeptionellen Elementen passt nach meinem
Dafürhalten hervorragend, den aristotelischen Begriff und Gedanken von
phronesis zu revitalisieren und damit natürlich auch unter heutigem
Blickwinkel zu verstehen und anzuwenden. Mit der Idee von phronesis
„wird der Begriff der Klugheit um die Dimension aufgewertet, die ihr in
der Neuzeit abhanden gekommen ist: die Dimension der Lebensführung
auch unter moralischen Gesichtspunkten.“ (Luckner 2005, 7) Damit kann
die erst zu modernen Zeiten gedachte (und gerade in der Ökonomik
gepflegte) schematische Gegenüberstellung von Eigennutz und Moral
überwunden werden: das im auch moralischen Sinne bessere Leben ist
regulativ betrachtet das bessere Leben, auch wenn es situativ und in
Einzelfällen immer wieder anders erscheint.
Tugenden sind keine Eigenschaften (wie jüngst wieder missverstanden
von Halbig 2013), sondern moralische Gestaltungkräfte (vgl. Lautermann
2009). Damit passt die Tugendethik ausgezeichnet zum prinzipiell
offenen Umgang mit Zukunft, nicht nur in moralischer, sondern auch in
sachlich erfolgsorientierter Hinsicht.
Wenn wir Tugenden nicht als Eigenschaften in die Person hineinlegen,
sondern als moralische Gestaltungskräfte von der Person her in Bezug auf
ihr Tun denken, wird auch deutlich, dass phronesis (vor dem Hintergrund
der Kritik an der Weltlosigkeit ökonomischer Rationalität) heute als
Weltklugheit verstanden werden sollte. Wohlverstandene
Selbstorientierung ist deshalb nichts in sich Gekehrtes, sondern selber
grundsätzlich weltzugewandt. Nur im Austausch von sich mit der Welt
lässt sich üben (Sloterdijk 2009), werden – auch leibliche! – Erfahrungen
gesammelt (vgl. Fuchs 2008) und können sich Befähigungen entwickeln
(vgl. Sen 2010).
9. Wenn bei allen kulturellen Prozessen die Schattenseiten gegenwärtig
weiter zunehmen: was könnte eine Kehre bewirken? Bei allen kulturellen
Prozessen lassen sich eben wegen dieser Schattenseiten inzwischen auch
Gegenbewegungen identifizieren. Subsistenzaktivitäten, Reparieren statt
Wegwerfen, Nutzen und Tauschen statt Kaufen, fremdbestimmte
Leistungen selbst in die Hände nehmen (wie bei
Energiegenossenschaften), gemeinschaftsorientierte Formen des
Wirtschaftens, Wiederentdeckung der Nähe, Herstellung von Vertrauen
statt Verträgen und neue Formen aktiver Naturgestaltung stehen dafür. In
solchem Akteurshandeln bottom up, nicht in einem neuen großen
Gesellschaftsvertrag wie vom WBGU vorgestellt, liegt eine Zukunft von
möglichen Veränderungen.
Wenn solche kulturellen Gegenbewegungen zu sozialen bzw. politischen
Bewegungen werden, bestehen prinzipiell auch Bedingungen dafür, dass
sich transformative Formen des Wirtschaftens herausbilden, so wie wir
das in den vergangenen Jahrzehnten in den Bereichen Bio-Lebensmittel
und regenerative Energien beobachten konnten. Das reicht wie dort bis in
den Status der Unternehmensgründung und –entwicklung, schließt aber
gerade auch solche Formen ein, die sich absichtsvoll und auf Dauer der
Marktförmigkeit entziehen.
10.Also Prinzip Hoffnung (Bloch) statt Prinzip Verantwortung (Jonas). Denn
woher soll die Verantwortung kommen? Doch nur daher, dass sich
genügend Menschen auf den Weg machen mit der für sie selber
hinreichend starken Hoffnung, ihre Hoffnungen in diesem Leben auch
einlösen zu können. Die Zeiten, in denen man sich für ein anderes
aufopferte, sind nun einmal vorbei.
Damit höre ich erst einmal auf.
Quellen:
Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Frankfurt
Castoriadis, C. (1984) Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer
politischen Philosophie, Frankfurt
Eisenstadt, S.N. (2000): Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (1)1 – 29
Fuchs, Th. (2008): Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische
Essays, Zug
Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt-New York
Halbig, Ch. (2013): Der Begriff der Tugend und die Grenzen der
Tugendethik, Frankfurt
Hirschman, A.O. Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen
des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt
Jaeggi, R. (2013): Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus?
Drei Wege der Kapitalismuskritik, in dies.: Nach Marx. Philosophie,
Kritik, Praxis. Berlin
Karlstetter, N./ Pfriem, R. (2011): Zukunft ist möglich. Zur denkbaren
Evolution dessen, was wir als Kapitalismus bezeichnen, in Pfriem, R.:
Eine neue Theorie der Unternehmung für eine neue Gesellschaft,
Marburg
Keynes, J.M. (1956): Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder,
in Rosenbaum, E.: Politik und Wirtschaft. Männer und Probleme.
Ausgewählte Abhandlungen von John Maynard Keynes, Tübingen
Lautermann, Ch. (2009): Virtue Business Ethics. Was die internationale
Diskussion der kulturalistischen Unternehmensethik bieten kann, in
(Hg.) Antoni-Komar u. a.: Neue Konzepte der Ökonomik.
Unternehmen zwischen Nachhaltigkeit, Kultur und Ethik, Marburg
Leed, E.J. (1993): Die Erfahrung der Ferne, Frankfurt-New York
Luckner, A. (2005): Klugheit, Berlin
Pagano, U. (2007): Karl Marx after New Institutional Economics, Evol. Inst.
Econ. Rev. 4 (1): 27 – 53
Pfriem, R. (2013): Weltlosigkeit überwinden. Zur Kritik des (nicht nur
ökonomischen) modernen Menschenbildes und was daraus folgen
könnte, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu)
2/ 2013, München
Polanyi, K. (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische
Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt
Rosa, H. (2013): Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle
Allianz. Marx’ beschleunigungstheoretische Krisendiagnose, in Hg.
Jaeggi, R.: Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin
Sandel, M.J. (2012): Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen
Grenzen des Marktes, Berlin
Schama, S. (1995): Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination,
München
Schulze, G. (2006): Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde,
München
Sen, A. (2010): Die Idee der Gerechtigkeit, München
Sloterdijk, P. (2009): Du musst Dein Leben ändern, Frankfurt
Welsch, W. (2012): Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform
der Moderne, Weilerswist