Innere Regungen wahrnehmen Grundkurs Ignatianische Spiritualität: Einheit 2 In dieser zweiten Einheit geht es vor allem um das „Wahrnehmen innerer Regungen“. Dieser Ausdruck geht auf Ignatius zurück, die damit gemeinte Sache stellt bis heute einen Schwerpunkt der ignatianischen Spiritualität dar. ERLÄUTERUNG 1. Wahrnehmen ist nicht gleich wahrnehmen Wir alle haben unsere fünf Sinne (und vielleicht noch einen „sechsten“), haben unsere Sinne „beisammen“ und sind hoffentlich nicht „von Sinnen“ – und zugleich kann es sein, dass es uns schwer fällt, mit den Sinnen einfach nur wahrzunehmen. Wir sehen ständig, hören ständig und springen von einem Eindruck zum nächsten. Irgendwie müssen wir mit der Fülle dessen, was auf uns einströmt, umgehen. Dabei hilft das Filtern: Was für uns wichtig ist, das hören wir. Zum Beispiel hört das spielende Kind im Hof das Papier seiner Lieblingsschokolade in der Hand der Mutter rascheln. Etwas anderes ist es aber, bei einer Wahrnehmung zu verweilen. Versuchen Sie es einmal: Nehmen Sie eine Pflanze und schauen Sie ein Blatt oder eine Blüte an. Schaffen Sie es, fünf Minuten dabei zu bleiben, ohne dass sich zahlreiche andere Bilder einstellen, ohne dass eine Gedankenwelle („Die Wäsche muss aus der Maschine! Was soll das eigentlich für eine komische Übung sein?...“) Sie überschwemmt? Wenn ja, sind Sie ein Naturtalent oder Sie sind schon einen längeren inneren Weg gegangen. Wenn nein, dann ist das nicht schlimm, sondern nur ein Hinweis, dass es jetzt erst interessant wird. Am Ende dieser Erläuterung finden Sie Hinweise zu entsprechenden Übungen. Auch körperliches Wahrnehmen ist nicht körperliches Wahrnehmen. Vielleicht fragen Sie sich, was es damit auf sich hat, schließlich joggen Sie regelmäßig oder betreiben sonst einen Sport, Sie haben also ein gutes Körpergefühl. Ja, auch hier kann es tiefer gehen. Können Sie Ihre rechte vierte Zehe spüren, ohne sie zu bewegen? Stellen Sie ihre Fußsohlen auf den Boden und nehmen Sie wahr, dass der Boden Sie trägt. Verändert sich etwas in Ihrem Körpergefühl? Menschen, die sich mit der Sprache des Körpers befasst haben (etwa Samy Molcho, Mosche Feldenkrais) weisen darauf hin, dass viele Zusammenhänge von Leib, Seele und Geist entdeckbar sind. 2. Da ist doch etwas! Stopp! Was geht in Ihrem Inneren in diesem Moment vor? Lesen Sie diese Zeilen mit Langeweile, Ärger, Begeisterung oder Verwirrung? Oder ist das Lesen nur eine Nebenbeschäftigung und eigentlich geht Ihnen noch das letzte Telefonat nach? Mit solchen Fragen sind Sie beim Wahrnehmen Ihres Inneren. Denn: Im Inneren regt sich meist Vieles, unterschiedlichste Gedanken und Gefühle. Manche (und manchmal auch wir) wollen am liebsten gar nichts davon wissen, denn sie meinen, es bringt nicht viel (oder höchstens Verwirrung). Auch hier gilt: Jetzt wird es erst richtig interessant. Unser Erleben, die verschiedenen Situationen des Tages, unsere Gedanken und inneren Bilder hinterlassen Eindrücke in unserem Herzen, in unserer Stimmung. Wir fühlen uns müde, frustriert, erregt, deprimiert, kraftvoll, zornig. In uns bewegt sich etwas: innere Regungen. Wenn wir sie „wahr“-nehmen, dann können wir vielleicht die „Wahrheit“ entdecken, die in ihnen steckt und die uns etwas sagen will. Nur ist das nicht immer einfach. © Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu 1 3. Ach wie gut, dass niemand weiß... Rumpelstilzchens Macht war groß, denn es konnte nicht benannt werden. Ob es in unserem Inneren ähnlich ist? Empfindungen treiben uns um, aber anderes ist im Moment wichtig. Wir sitzen im Sattel – das Pferd unter uns interessiert uns jedoch nicht. Wäre es nicht naheliegend, mit dem Pferd Verbindung aufzunehmen? Also: was ist gerade in mir? Ich versuche, meine inneren Regungen wahrzunehmen, anzuschauen und dem Kind einen Namen zu geben. Hilfen dabei können zum einen die Unterscheidung zwischen der Sache, um die es geht, und den mit ihr verbundenen Gefühlen sein. Und zum anderen die Frage: Was könnte der Auslöser einer Stimmung sein (in der ich mich finde)? Möglicherweise habe ich einen Brief erhalten – und der Inhalt hat mich aufgebaut. Oder ich spüre Angst – denn ich weiß nicht, wie mein Vorgesetzter reagieren wird. Solch ein Wahrnehmen, genaueres Hinschauen, Benennen hilft mir, mir ein Stück Distanz zu verschaffen: Ich bin nicht völlig eins mit dem, was sich in mir bewegt. Ich kann es auch vor mich hin stellen und mir darüber meine Gedanken machen. Achtung mit dem eingebauten Filter! Viele erlauben sich (gerade als gute Christ/innen) keine negativen Gefühle und blenden sie aus – z. B. Wut oder Zorn. Normalerweise bewerten wir alles sofort. Das kann den Nachteil haben, dass wir für uns Wichtiges ungesehen aussondern. Deshalb empfiehlt es sich, soweit es möglich ist, „wertungsarm“ wahrzunehmen. 4. Tendenz steigend oder fallend? Nun gut, in mir regt sich immer wieder etwas. Ich kann es halbwegs wahrnehmen und ich könnte mit Übung noch mehr sehen. Und? Wir kommen der Sache schon näher: diese Regungen sind keine neutralen Gemütszustände, sondern sie wirken sich aus, sie machen etwas mit uns. Sie haben die Neigung, uns innerlich in eine „Richtung“ zu bewegen. Zum Beispiel nach „oben“: „Das ist mir richtig gelungen!“ (Freude, das Herz wird weit.) Oder: „Ich bin doch besser als mein Konkurrent, auf den ich nun herabschauen kann“ (Überheblichkeit). Nach „unten“: „Ich kann nicht mehr, ich gebe auf!“ (Verzweiflung, Deprimiertheit) Oder: „Diese Nachricht macht mich ganz traurig.“ Wenn sich immer wieder Ähnliches in mir regt, dann kann dies eine innere Tendenz anzeigen, etwa mich abzukapseln, zu misstrauen, auf andere zuzugehen, mir etwas zuzutrauen, auf Gott hören zu wollen ... 5. Gottesbegegnung Nochmals: Warum soll ich auf meine inneren Regungen achten? Sind wir hier in der Psychotherapie gelandet? Was hat dies mit Gott zu tun? Gott kann uns in allem begegnen und unser Herz anrühren: im Nächsten, im Gottesdienst, in einem Fremden, beim Lesen eines Buches, in einem Gespräch – und in dem, was uns innerlich bewegt. Das ist das Geniale des Ignatius, dass er – wenn auch auf einem mühsamen Weg – entdeckt hat: Gott kann uns in unseren inneren Regungen begegnen. Aber: in diesen Regungen begegnet uns nicht nur und ausschließlich Gott. Auch unsere Schattenseite und „unser Feind“, wie Ignatius sich ausdrückt, das Böse, das uns von Gott und vom Guten wegziehen will, regen sich, machen sich im Inneren bemerkbar. Wie diese verschiedenen Arten von Regungen unterschieden werden können, wird nächste Woche erklärt werden. © Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu 2 6. Eine Verletzung veränderte das Leben Ignatius musste seinen grenzenlosen Ehrgeiz bitter bezahlen: Als sich die Spanier 1521 auf sein Betreiben zu einer aussichtslosen Verteidigung der Zitadelle von Pamplona entschlossen, zerschmetterte eine Kanonenkugel der Franzosen Ignatius das Bein. Eine Zeit langwieriger Genesung auf dem Familienschloss folgte. Um sich die Zeit zu vertreiben, wollte er, wie es seine Gewohnheit war, unterhaltsame Ritterromane lesen. Allerdings gab es solche Bücher in Loyola nicht. Da nichts anderes vorhanden war, las er Heiligenlegenden und ein Buch über das Leben Christi. Darüber hinaus widmete er sich zwei unterschiedlichen Tagträumen. Zum einen träumte er stundenlang von edlen Rittertaten. Zum anderen nahm er bei seinen Tagträumen als Ausgangspunkt das Leben Jesu und der Heiligen, wobei er sich unter anderem fragte: „Wie wäre es, wenn ich all das täte, was der hl. Franziskus getan hat, oder das, was der heilige Dominikus tat?“ Ignatius selbst sagt dazu im Rückblick: „Auch diese Gedankengänge dauerten geraume Zeit an. Ihnen folgten, wenn irgendetwas anderes dazwischenkam, die weltlichen Gedanken, von denen schon zuvor die Rede war, und auch bei diesen hielt er sich wieder lange auf. ... Indessen gab es dabei diesen einen Unterschied: wenn er sich mit weltlichen Gedanken beschäftigte, hatte er zwar großen Gefallen daran; wenn er aber dann, müde geworden, davon abließ, fand er sich wie ausgetrocknet und missgestimmt. Wenn er jedoch daran dachte, barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur noch wilde Kräuter zu essen und alle anderen Kasteiungen auf sich zu nehmen, die, wie er las, die Heiligen auf sich genommen hatten, da erfüllte ihn nicht bloß Trost, solange er sich in solchen Gedanken erging, sondern er blieb zufrieden und froh, auch nachdem er von ihnen abgelassen hatte. ... Aus seiner Erfahrung ergab sich ihm, dass er nach den einen Gedanken trübsinnig und nach den anderen froh gestimmt blieb; und allmählich kam er dazu, darin die Verschiedenheit der Geister zu erkennen“. (Die Lehren, die Ignatius aus dieser Erfahrung von – wie er sagt – Trost und Misstrost zog, werden in der nächsten Einheit ausführlicher behandelt werden.) ÜBUNGSVORSCHLÄGE 1. Tag Mehrmals täglich spontan kurz innehalten. Nehmen Sie sich dabei aufmerksam wahr: Ihre körperliche Haltung, Ihr Körperempfinden, den Atem, Ihre Gedanken und Gefühle ... Tun Sie es mit liebevoller Aufmerksamkeit, mit einem inneren Lächeln, ohne Leistungsdruck. In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Wahrnehmungsübung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 2. Tag Achten Sie – entweder in einer separaten Zeit oder „auf dem Weg“ – auf Ihr Gehen (Stellen Sie sich nicht das Gehen vor, seien Sie beim Gehen mit Ihrer Aufmerksamkeit dabei). Es geht um den Gesamtvorgang, nicht um die Einzelbewegungen: dabei sein, da sein. Es kann auch helfen, die Aufmerksamkeit auf, das heißt unter die Fußsohlen zu richten. Wiederholen Sie diese Übung mehrmals. In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Übung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 3. Tag Fünf Minuten nur schauen – in der Natur: einen Ast, eine Blume ..., oder in der Stadt: ein Gebäude, einen Platz .... Bleiben Sie dabei, ohne Gedanken nachzugehen, sondern nur © Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu 3 wahrnehmend und verweilend. Wiederholen Sie diese Übung mehrmals. Und: Riechen Sie immer wieder einmal bewusst. In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Übung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 4. Tag Fünf Minuten nur hören, tasten bzw. fühlen – den Wind auf der Haut, den Stamm eines Baumes, die Beschaffenheit eines Stoffes ... (ähnlich wie gestern). Wiederholen Sie auch diese Übung mehrmals. In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Übung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 5. Tag Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit beim Essen, bei den Mahlzeiten immer wieder auf das Schmecken. In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Übung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 6. Tag Beim Aufwachen, beim Mittagessen und am Tagesende auf meine Gefühle achten und sie benennen, soweit es geht. Am Ende des Tages kurz in Erinnerung rufen: Mit welchem Gefühl bin ich aufgewacht, mit welchem kam ich zum Essen, welches ist jetzt am Ende des Tages vorherrschend? In der täglichen Gebetszeit: Bewusst auf diese Übung zurückblicken – wie ging es, was hat sich in mir getan? Hat sich das Erleben des Tages dadurch verändert? 7. Tag In der täglichen Gebetszeit frage ich mich vor Gott: Welche Gefühle erlebe ich häufiger, welche seltener? Gibt es eine Art Grundgefühl? Freude – Schmerz – Trotz – Lustlosigkeit – Eifersucht – Angst – Dankbarkeit – Hass – Unruhe – Niedergeschlagenheit – Neugier – Ärger – erotische Gefühle – Traurigkeit – Wut – Betroffenheit – Frustration – Zuneigung ... GRUNDTHEMEN IGNATIANISCHER SPIRITUALITÄT Für Ignatius ist Gott der Schöpfer und Herr, das unüberbietbar Gute, die einzige absolute Wirklichkeit; alles andere kommt von Gott und besitzt nur insofern Wert, als es uns zu Gott führt. Dieser Gott ist in unserem Leben gegenwärtig als einer, der sich in allen Dingen für uns „müht und arbeitet“ (EB 236). Durch Glauben kann man ihn in allen natürlichen und menschlichen Ereignissen, in der ganzen Weltgeschichte, vor allem aber in der Lebenserfah rung jedes Menschen entdecken. (Grundzüge jesuitischer Erziehung Nr. 21) In der Sicht des Ignatius ist die Welt als Gottes Schöpfung grundsätzlich gut und positiv, ist die Welt von Gottes Tun durchwirkt. Ignatianische Spiritualität ist deshalb grundsätzlich weltbejahend, trotz allen Dunkels, allen Bösen und allen Unrechts, das es – auch – in der Welt gibt. Als Schöpfer hat Gott die Welt und den Menschen nicht nur geschaffen und dann sich selbst überlassen, sondern setzt sein Wirken in der Welt und in der Geschichte fort. In der Betrachtung über die Menschwerdung etwa lädt Ignatius ein zu betrachten, „wie die drei göttlichen Personen [Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist] die ganze Fläche oder Rundung der © Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu 4 ganzen Welt voller Menschen schauten und wie ... in ihrer Ewigkeit beschlossen wird, dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten; und so senden sie, als die Fülle der Zeiten gekommen ist, den heiligen Engel Gabriel zu unserer Herrin [zu Maria]“ (EB 102). In der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ fordert Ignatius auf, zu „schauen, wie Gott in den Geschöpfen wohnt: in den Elementen, indem er Sein gibt; in den Pflanzen, indem er belebt; in den Tieren, indem er wahrnehmen macht; in den Menschen, indem er Verstehen gibt; und so in mir, indem er mir Sein gibt; indem er beseelt; indem er wahrnehmen macht und indem er mich verstehen macht“ (EB 235). Wir als Christ/innen sind eingeladen, zu erkennen und zu verstehen, „wie Gott sich in allen geschaffenen Dingen auf dem Angesicht der Erde für mich müht und arbeitet“ (EB 236), wie er sich in Jesus Christus zu allen Zeiten und immer wieder neu uns zuwendet. Dies heißt auch: Ignatius ist aufgrund seiner eigenen Erfahrungen davon überzeugt, dass wir fähig sind, diese Spuren von Gottes Wirken zu entdecken – in allen Kulturen, in allen Zeiten und in der persönlichen Geschichte aller einzelnen Menschen. Für Ignatius ist es aber auch wichtig, das Gottsein Gottes anzuerkennen, ihn anzuerkennen als heiliges und ehrfurchtgebietendes Gegenüber. Ihn anzuerkennen als ein von der Welt und uns Menschen unabhängiges Geheimnis. Auch wenn der Gott des christlichen Glaubens sich für seine Schöpfung und für seine Menschen immer wieder neu einsetzt, so wird er dadurch doch kein „Kumpel-Gott“, sondern bleibt der freie und souveräne Schöpfer und Herr der Geschichte. © Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu 5
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