54 URBAN DESIGN Wohnen in luftiger Höhe ist ein ganz besonderes Erlebnis, damit aber weder der Mensch noch der Baum zu Schaden kommt, sind statische Prüfungen unerlässlich. Foto: Baumbüro Klaus Schöpe WENN MENSCHEN DEN BÄUMEN AUFS DACH STEIGEN Hochseilgarten, Klettergarten, Baumhotels – Menschen wollen hoch hinaus. Statt unter Waldbäumen zu wandern, suchen sie Freizeitglück und Herausforderung in den Baumkronen. Groß und Klein balancieren über Seil- und Hängebrücken, hangeln sich auf wackligem Untergrund von Baum zu Baum oder sausen mit Karacho über Abgründe hinweg. Doch was bedeutet die freizeit-touristische Eroberung der Baumkronen für die Bäume selbst? Wie kann man neuen Freizeittrends gerecht werden und gleichzeitig die Bäume schützen? Darüber diskutierte die Sachverständigengemeinschaft Baumstatik (SAG e.V.) bei ihrem 9. Workshop im elsässischen Urmatt. INSTALLATIONEN IN BÄUMEN sind Fremdkörper, darin war sich das international besetzte Fachgremium einig. Deshalb ist bei Bauminstallationen Expertenrat gefragt. Bestenfalls vor dem Bau in Zusammenarbeit mit Architekten. Der Baumgutachter Klaus Schöpe (Baumbüro, Garten Design 04.15 Edewecht) handhabt das so. Er errechnet vor der Errichtung eines Baumhotels in einem Worst-Case-Szenario, welche horizontale Last ein Baum maximal tragen kann. Höchstens 50 Prozent davon mutet er ihm zu. Schlimmstenfalls wird auf die statische Prüfung im Vorfeld des Baus verzichtet. Davon erzählte der kanadische Baumsachverständige Philip van Wassenaer. „Bei uns ist das eher wie im Wilden Westen“, sagte er. Die wenigsten Anlagen erhielten eine ingenieurtechnische Analyse. Man lerne eher durchs Ausprobieren. Dabei erspart URBAN DESIGN sich Ärger, wer Baumschäden vor dem Bau entdeckt. Übersehene Risse in Astgabeln können sich nach Stürmen oder starken Frösten zu veritablen statischen Problemen auswachsen, sodass nachgestützt werden muss. Doch wie werden Installationen in und an Bäumen befestigt? Bäume werden umgürtet, Seile zwischen ihnen gespannt, Plattformen an Schlaufen in Astgabeln gehängt oder Podeste um Stämme gebaut. Bei allen Bauminstallationen gilt die Devise, die Bäume so wenig wie möglich zu verletzen. Werden die Seile nicht korrekt über die baumschonenden Hölzer geführt, sind irreparable Schäden die Folge. Fotos (2): Office National des Forêts (O.N.F.)/Bernhard Stephan Das mag ein Wunschgedanke sein. „Wir müssen uns nichts vormachen“, sagte der Baumsachverständige Michael Schlag (Sachverständigenbüro Reinartz & Schlag, Köln), „Haltesysteme sind immer ein Fremdkörper und der Baum wird sie überwachsen.“ Aber Bauminstallationen deswegen grundsätzlich ablehnen? Das ist keine Alternative für die Baumstatiker. Der neue Freizeittrend ist wohl kaum aufzuhalten. DIE EMPFINDLICHSTE STELLE EINES BAUMES ist das Kambium. Es liegt ringförmig dicht unter der Rinde und ist für das Dickenwachstum des Baumstamms verantwortlich. Die im Kambium verlaufenden Leitbahnen, die Wasser, Nährstoffe und Assimilate zwischen Wurzeln und Baumkrone transportieren, sind äußerst druckempfindlich. Bei allen Anbindetechniken müssen deshalb Einschnürungen und Quetschungen vermieden werden. In Seilgärten und Slackline-Anlagen verlaufen die Halteseile deshalb auf einem Kranz von Holzkeilen oder Rundhölzern. So werden die Druckkräfte auf eine größere Fläche verteilt und immer Teile des Stammumfangs ganz von Druck freigehalten. Werden Podeste oder Plattformen in Astgabeln gehängt, sorgen breite Schlaufen für eine große Auflagefläche und beugen dem Einwachsen vor. Bohrungen in oder durch den Stamm nehmen die Experten nur in Ausnahmefällen vor. Zu hoch ist die Gefahr, dass sich Baumwunden nicht schließen. Für Pilzkrankheiten wäre das eine willkommene Eintrittspforte. Sind Bohrungen unverzichtbar, sollte dieser Eingriff einer präzise ausgeführten Operation gleichen. Ein solches System stellte Bernard Stéphan (Organisation Nationale des Forêts, Frankreich) vor. Die eingetriebenen Rohre, die die Basis für weitere Montagesysteme bilden, müssen den Stammzuwachs einkalkulieren und erweiterbar sein. Sonst werden die Haltesysteme auf lange Sicht vom Kallusgewebe überwachsen. Das könnte zu Verschiebungen oder frischen Scheuerwunden führen. DAS NEUE Bei diesem Podest wurde das Dickenwachstum des Baumes nicht berücksichtigt. Unsachgemäße Bauminstallationen hinterlassen am Baum gravierende Schäden. Foto: O.N.F. /Vincent Pontois genau angepassten Bauteilen und hochwertigsten Materialien. Mit den baumschädigenden Bohrankern der früheren Baumchirurgen ist diese neue Technik nicht zu vergleichen. Zudem ist eine regelmäßige Kontrolle der Ankerpunkte von Haltesystemen wichtig. Am besten, sie sind frei einsehbar und nicht überdeckt. Ein Abenteuerparcours in den Baumwipfeln ist SYSTEM funktioniert nur durch die ein einzigartiges Klettererlebnis. Doch die Last Kombination von qualifizierter Baumbeurteilung, speziellen Druckluftbohrern, millimeter- tragen die Bäume, und das vor allem in physikalischer Hinsicht. Enorme statische und dynamiGarten 04.15 Design 55 56 URBAN DESIGN Dieses Beispiel zeigt, wie eine Netzlandschaft baumschonend anzubringen ist. Foto: Baumbüro Klaus Schöpe sche Kräfte wirken auf die Bäume ein. Das auf den Bäumen lastende Eigengewicht der Bauminstallationen ist dabei das geringste Problem. Wind- und Schneelast kommen hinzu. Und nicht zu vernachlässigen ist die Verkehrslast, die die Kletterer selbst ausüben. Baumstatiker orientieren sich bei ihren Berechnungen an der herkömmlichen Tragwerksplanung. Doch weil es sich bei Bauminstallationen um lebende Bauobjekte handelt, „bringt die Belastungsberechnung ganz neue statische Herausforderungen mit sich“, erklärte die Bauingenieurin Eva Mauz (Mitarbeiterin von Brudi & Partner, TreeConsult). Ein Seilgarten ist kein statisches Bauwerk. Seine Stützen sind lebendige Gebilde. Bäume bewegen sich, sie reagieren auf extreme Wetterbedingungen, sie können ihren Schwerpunkt verlagern und sie haben ein Dickenwachstum. Diese Faktoren müssen berücksichtigt werden. Nicht zuletzt, weil Bauminstallationen unter wirtschaftlichen Aspekten langfristig betrieben werden sollen. Die wie Wäscheleinen gespannten Seile üben einen Zug auf die Baumstämme aus. Hangeln sich Kletterer über den Seilparcours, kommen Biegebelastungen hinzu. Hohe dynamische Kräfte wirken dann, wenn Nutzer an langen Seilen hängend über Täler rasen. Doch selbst die Erfahrung der 800 Meter langen Zip-Line in St. Vergil (Südtirol) zeigt, dass Bäume diesen hohen dynamischen Belastungen Stand halten, wenn entsprechende Abspannungen verstärkend in den Boden angebracht werden, wie Andreas Detter (Brudi & Partner TreeConsult) berichtete. Garten Design 04.15 Wer in luftiger Höhe das Gleichgewicht verliert, darf sich sicher sein, dass ihn Halteseile auffangen. Für Bäume ist diese Situation eine Extrembelastung. Beim Fangstoß übertragen die Drahtseile Kräfte auf den Baum, die mehr als das Zehnfache des Körpergewichts erreichen können. Durch die Trägheit der Baumkrone biegen sich die Baumstämme nicht auf der ganzen Länge des Stamms, sondern erfahren durch eine ruckartige Belastung dort die stärkste Verformung, wo die Haltesysteme angebracht sind. Man spricht vom Karateeffekt. HOHE BELASTUNGEN erfahren Bäume in Seil- und Klettergärten auch im Wurzelbereich. Insbesondere dort, wo die Kletterer in die Seilgärten einsteigen, und auf den Waldwegen. Der Baumexperte Mark Pommnitz (Sachverständigenbüro Leitsch, Erfurt) berichtete von Bodenverdichtungen, die im Extremfall wie Plastikfolien einen Luftabschluss bewirken können. Druckbelastungen im Wurzelbereich verändern das Bodengefüge. Der Anteil der Grobporen verringert sich zugunsten der Fein- und Mittelporen. Der Luftaustausch wird unterbunden. So kann der Kohlendioxidgehalt im Boden schnell toxische Werte erreichen. Nachlassende Vitalität und vermehrte Totholzbildung bei Bäumen sind dann die Folge. Bodenauflagen oder freitragende Plattformen an den Einstiegsbäumen, Brückenelemente und eine konsequente Wegeführung schaffen Abhilfe. Martina Lachenmaier | Eutingen
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