Die erste Fußballmannschaft Reußens nach 1945 Erzählt von Alfons Schulz Aufgezeichnet von W. Behrendt Mitten in Solingen besuche ich das Ehepaar Alfons und Elisabeth Schulz. Frau Schulz ist eine gebürtige Allensteinerin, Herr Schulz stammt aus Reußen. Sie sind erst vor kurzem in dieses Mehrfamilienhaus, in dem sich die Tiefgarage direkt unter dem Haus befindet, eingezogen. Die Wohnungen seien hier zwar nicht gerade billig, sagt Herr Schulz, jedoch seniorengerecht gebaut und eingerichtet worden. Man könne z.B. mit dem Fahrstuhl direkt aus der Tiefgarage vor die Wohnungstür fahren. „Später, wenn ich nicht mehr Auto fahren werde, kann ich in der Nähe alles Mögliche erledigen. Der Arzt, der Supermarkt und vieles andere befinden sich beinahe vor der Haustür. Na ja, und da ich dieses Jahr schon achtzig werde, war das auch der richtige Zeitpunkt um hierher zu ziehen.“ Herr Schulz, bis wann haben Sie in Reußen gelebt? Bis 1955. In diesem Jahr habe ich geheiratet und bin zu meiner Frau, die aus Allenstein stammt, in ihre Geburtsstadt gezogen, in die Warszawska (Hohensteiner Strasse), gleich gegenüber der »Warszawianka« (Gaststätte). Haben Sie einen Bauernhof gehabt? Nein, ich nicht, aber meine Eltern. Ich zeig ihnen gleich ein Foto von unserem Haus. Wir wohnten ein wenig außerhalb des Dorfes, halt auf dem Abbau. Meine Eltern besaßen ca. sechs Hektar eigenes Land, ca. sechs weitere pachteten sie in Bertung, vom Pfarrland1. Andere Reußener hatten damals auch Pfarrland gepachtet, auch unsere Nachbarn Ritters. Wehe, 1 Deutsches Rechtswörterbuch: Zum Pfarrgut gehöriges Land, das, frei von bäuerlichen Lasten und Abgaben, dem Unterhalt eines Pfarrers dient; dieser darf es verpachten, nicht aber verpfänden oder verkaufen. wenn jemand nicht rechtzeitig seine Pacht bezahlt hatte, er wurde direkt von der Kanzel daran erinnert. Herr Behrendt, sind Sie mit einer Reußenerin verheiratet oder Ihr Bruder? Nein, nein! Das ist mein Bruder Alfred. Er ist mit Edith Dolewski verheiratet. Edith ist die Tochter von Gertrud (geb. Malchert) und Gerhard Dolewski. Ah ja, sie haben doch in der Gasse gewohnt, stimmt. Wie geht es ihnen? Na ja, mehr oder weniger gut. In der Gasse haben ja auch Hallmanns gewohnt. Mit den Jungs habe ich in Klein Bertung Fußball gespielt. Ja, Fußball habe ich auch gespielt; irgendwo habe ich noch ein altes Foto; hier können Sie es sehen. Das ist die erste Mannschaft aus der Nachkriegszeit. Jomendorf und Thomsdorf waren seinerzeit unsere stärksten Gegner. Die erste Reuße ner Fußballmann schaft nach dem Krieg: O.l.: Reinhold Schmidt, Hubert Dellinger, Theo Winicki, Hubert Sender, Alfons Schulz, M.L.: ?, Georg Ossowski, ?, U.l.: Ernst Jagalski, Allo Ritter, Georg Modrzewski. Alfons Schulz, Hubert Dellinger und Theo Winicki Nach und nach kamen dann die älteren Jungs aus dem Krieg zurück und verstärkten unsere Mannschaft. Ihr Vater war doch auch ein Fußballer, nicht wahr? Ich glaube mich an Walter Behrendt zu erinnern; ein groß gewachsener, kräftiger Mann war er. Ja, Sie haben schon mal über den Fußball geschrieben, aber über die echte Reußener Mannschaft, da haben Sie doch noch nichts erzählt. Ja, und wir waren doch diejenige, die …. Herr Schulz, ich wusste doch, dass ich eines Tages tatsächlich einem echten Reußener Fußballspieler von früher begegne. Endlich ist es soweit, das freut mich! Und das Georg Moritz und Alfons Schulz (auf dem reu ßener Fußballplatz) Foto ist doch wirklich etwas Besonderes! Mensch, ist das schön! Na gut, dass ich umgezogen bin, denn sonst hätte ich ihnen keine E-Mail geschrieben. Hubert Dellinger, Paul Neumann, Georg Moritz, Georg Ossowski, Felix Leschinski, Otto Lischewski, Paul Bienenda, Herbert Lenhardt, Hugo Poetsch. Waldarbeiter:H.L.JanekJasiuciena,AlfonsSchulz,Reinhold Kucharzewski,JosefNigbur,V.L.JosefSchulz,AloisPiezocha undAdolfSchulz Hubert Dellinger, Georg Ossowski, Alfons Schulz, Felix Leschinski V.l. Edelgard Lenhardt, Maria Dellinger, Hildegard Lenhardt, v.l. Alfons Schulz, Theo Winicki Alfons Schulz „...irgendwo habe ich noch ein altes Foto; hier können Sie es sehen...“ Alfons an der Alle bei Leschinski Reußener Jugend Georg Ossowski, Alfons Schulz, Hubert Dellinger, Theo Winicki, Hans Jatzkowski Alfons Schulz, Georg Ossowski (Unser Trauzeuge) Alfons Schulz, Hans Jatzkowski, Georg Ossowski, Herbert Christel Leschinski, Elisabeth Jurewitz (Meine Frau), Hildegard Seidel und Edelgard Leschinski. Lenhardt Alfons Schulz, Georg Dellinger, Georg Ossowski, Herbert Lenhardt, Hubert Dellinger, ? Ich kenne Reußen aus zweierlei Gründen: Erstens, weil mein Onkel, Paul Bienenda, aus Reußen stammt, und zweitens, weil ich in den sechziger Jahren einige Male zur Mühle nach Reußen fuhr. Später, kurz vor der Ausreise nach Deutschland, 1979, war ich noch mit den Hallmann Jungs befreundet. Ja, und nicht zu vergessen sind die Zabawys (Tanzabende) in Reußen. Ja, kurz nach dem Krieg habe ich sogar in der Mühle gearbeitet, zu der Zeit, als Czarnecki dort noch Müller war. Ob er ein gelernter Müller war, weiß ich nicht, aber er kannte sich gut aus. Was dann mit Czarnecki passiert ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Wie schreibt man diesen Namen, deutsch oder polnisch? Das weiß ich nicht. Denn nach dem Krieg haben die Polen versucht, sogar meinen Namen polnisch zu schreiben. In Reußen lebte ja die Familie Leschinski. Einmal wurde sie Leszczynski, einmal Leszinski geschrieben. Das war doch damals alles so ziemlich durcheinander. Herr Schulz, ich möchte nun ein wenig über ihre Familie erfahren. Mein Vater war Paul Schulz. Meine Mutter war eine geborene Pompetzki, sie kam ursprünglich aus Grabenau (Przykop). Insgesamt waren wir neun Geschwister, ich bin der Jüngste. Ich bin inzwischen der einzige, der noch lebt. Drei Geschwister blieben im Krieg. Meine Mutter hatte dreizehn Geschwister. Kannten Sie vielleicht meine Mutter, sie wohnte in Neu Bertung, direkt am See und hieß Engelberg? FolkloreGruppe von der Ziegelei, 1949/50: Grete Freitag, Lisbeth Schwenzfeier, ?, Hertel, Brunhilde Ritter, Alfons Schulz, ?, ?, ? Skowasch, Herbert Lenhardt, Felix Leschinski, Theo Winicki, Maik, Alfons Schulz, Hugo Poetsch, Cila Rosog, Georg Dellinger ?, Skowasch, Herbert Lenhardt, Theo Winicki, Felix Leschinski, Alfons Schulz, Hugo Poetsch, Georg Dellinger, ?, Gerhard Skrzypski Oh ja, ich kannte Engelbergs Mädels. Letztes Jahr war ich bei meiner Nichte zu Besuch, da traf ich K. Wenn K. stirbt, dann muss sie zwei Särge bekommen, einen für ihre große Klappe und einen für ihren Leib. Nett ist sie trotzdem! Ja, wir kannten uns noch aus der Jugendzeit. Sie sind in Reußen zur Schule gegangen. Ja, ich hätte beinahe noch die deutsche Volksschule beendet; denn regulär sollte ich im April 1945 mein Abschlusszeugnis bekommen. Aber: Im Januar kam ja schon der Russe. Können Sie sich noch an die Lehrer erinnern? Ja, das kann ich. Bei uns gab es drei Lehrer: Fräulein Wiechert, Herrn Schüttelhelm und Herrn Stoll. Der Schüttelhelm verließ Reußen kurz bevor die Russen einzogen. Wie man erzählte, ging er damals zusammen mit dem Förster (Name entfallen), jeder mit einem Gewehr bewaffnet, aus dem Dorf. Die beiden haben wir nie wieder gesehen, weiß halt nicht, was mit ihnen passierte. Der Lehrer Stoll lebte ja später bei Köln. Lisa, seiner Tochter, begegnete ich eines Jahres auf dem Treffen in Meinerzhagen. Nebenbei gesagt: Stoll war ein sehr strenger Lehrer! Über den Stoll erzählte mir Frau Hallmann eine Begebenheit. Aber: Von Frau Hallmann erfuhr ich auch einiges über das Wäschebleichen, das war für mich etwas Besonderes. Was, Wäschebleichen? Wer die Gänse hüten musste, wie ich, für den war das oft mit Qualen verbunden. Denn: Die Gänse fühlten sich besonders zu der auf der Wiese ausgebreiteten weißen Wäsche hingezogen. Deshalb musste man an den Bleichtagen besonders darauf achten, dass sie sich dort, auf der Wäsche, nicht ausbreiteten. Und da man beim Hüten schnell müde wurde, war das nicht immer leicht. Manchmal schlief ich halt ein. Oh je! Dann gab es Ärger. Oft hütete ich abwechselnd mit meinem Bruder zwanzig, dreißig Gänse auf der Wiese an der Alle. Versauten die Biester die Wäsche, so bekam ich die Ohren lang gezogen. Da ich kein Reußener bin, weiß ich auch nicht genau, wo die Familie Schulz wohnte. Von Brunhilde und Gertrud Ritter weiß ich jedoch, dass sie immer zu Schulz flüchteten, als die russischen Soldaten sich ihrem Hof näherten. Das musste doch unweit von Schulz gewesen sein, nicht wahr. Oben auf dem Berg stand unser Haus. Vor Ritters in der Kurve rechts nach oben ging es zu uns. Früher konnte man noch von der Straße die Scheune sehen, sie wurde dann abgerissen. Das Wohnhaus ist von der Straße kaum zu sehen. Früher aber, als die Scheune und der Schuppen noch standen, konnte man unseren Hof von der Chaussee sehen. Auf unseren Hof gelangte man, wenn man den Weg zu Bienendas hochfuhr, in Richtung Ganglau. Na ja, in zwei Wochen fahre ich in die Heimat, dann werde ich mir diese Ecke mal genauer anschauen. Jetzt aber ganz was anderes. Wie war es, als die Russen kamen? Unser Haus in Reußen Hochzeitsbild (1955) Elisabeth Jurewitz Alfons Schulz Goldene Hochzeit: Elisabeth (geb. Jurewitz) und Alfons Schulz Wir flüchteten, zusammen mit vielen anderen Familien aus Reußen, ich glaube es war der 20/21. Januar. Ja, auch wir befanden uns in dem Treck, von dem schon Brunhilde und Gertrud Ritter in der JP 2008 erzählten. Ritters, Ruchas, Stephuns und andere Familien waren dabei. Reder, der aus Bertung, kam am Tag zuvor und sagte uns, dass wir flüchten sollten, daran kann ich mich noch gut erinnern. Sein Bruder, der zu deutschen Zeit Müller in Reußen war, hieß Reski, er behielt seinen polnisch klingenden Namen. Reder jedoch hatte seinen Namen ein paar Jahre zuvor aus bekannten Gründen geändert. Ja, er kam damals ins Dorf und sprach mit den älteren Leuten über die Flucht. Am Mittag des nächsten Tages sind wir auch schon losgefahren. Wir kamen mit dem Treck allerdings nicht sehr weit, denn bereits bei Mohrungen haben uns die Russen eingeholt. Sie haben uns gleich die Pferde weggenommen. Die älteren Dorfbewohner beschlossen damals, eben bei Mohrungen, nach Reußen zurückzukehren. Ruchas Tochter, die sich gegen Vergewaltigung wehrte, haben die Russen erschossen. Wir kamen durch Dietrichwalde, Thomsdorf in unser Dorf zurück. Vor Reußen haben wir immer wieder in Richtung unseres Hauses geguckt, denn, ob das Haus noch da war, war ja in diesem Augenblick wichtig. Gott sei Dank, stand es noch. Schulz? War das ein Verwandter? Nein, in Reußen gab es zur damaligen Zeit fünf Familien Schulz. Drei davon waren miteinander verwandt. Die Familien Josef Schulz und Paul Schulz (mein Vater) waren mit keinem verwandt. Ja, Ähnliches erzählte auch Frau Hallmann. Ihre Familie war auch sehr glücklich, dass das Haus noch stand. Ich glaube, dass nur Josefs Schulz’ Haus in Reußen abgebrannt war. Mensch, diese Gesichter kenne ich doch! Guten Tag, Lischewski. Und wie ging es weiter? Als wir nach Hause kamen, fanden wir ein verwüstetes Haus vor. Alles lag, zum Teil zerschlagen, auf dem Boden herum. Vier Brüder meines Vaters waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Im Wohnzimmer hing ein Foto, das sie in Uniform zeigte. An dieses Bild kann mich noch sehr gut erinnern, denn es wurde von den Russen mit einer Schusswaffe durchlöchert. Sonst war auch vieles zerstört. Das Schlimmste aber war das Gebrüll des Viehs, man hörte es schon vom Weiten. Durstig und ausgehungert fanden wir es vor. Wir hätten es zumindest von den Ketten losmachen sollen, jedoch … Heu haben wir ihm zwar haufenweise vorgesetzt. Aber: Die Kühe waren durstig, und gemolken wurden sie ja auch nicht. Wie lange waren sie auf der Flucht? Wir sind am 20. Januar 1945 von Reußen losmarschiert und kamen drei, vier Wochen später zurück. Nun kommt ihr angekündigter Besuch. Ja, meine Nichte und ihr Mann kommen zum Kaffee. O ja, mit ihrer hübschen Schwiegertochter habe ich doch auf Onkel Pauls (Bienenda) achtzigstem Geburtstag, nach Meinung einiger Gäste, ein wenig zu oft getanzt. Frau Lischewski: Das macht doch nichts, wichtig ist, dass ihr Spaß hattet, und so wie es aussah, habt ihr ja Spaß gehabt. Man muss alles nehmen wie es kommt! Ja, dann bestellen Sie ihr doch bitte einen schönen Gruß! Sie kommt mit uns nach Meinerzhagen im September, sie wird uns fahren. Alfons Schulz: Sie (Frau Lischewski) ist auf dem Jomendorf-Treffen ihrem Jugendfreund begegnet, nach vielen, vielen Jahren. Frau Lischewski: Nur schreiben Sie dieses nicht. Warum denn nicht? Alfons Schulz: Wer war das? Frau Lischewski: Seid doch nicht so neugierig! Wie hieß er denn? Frau Lischewski: Das kann ich euch nicht verraten. Aber, August war sein Vorname, mehr erzähle ich euch nicht. Ich traf ihn damals oft im Zug, der aus Stabigotten nach Allenstein fuhr. Mehr aber werde ich euch nicht sagen! Na ja, vielleicht noch, dass er Musiker war, er spielte Trompete. Nach so vielen Jahren habe ich ihn getroffen, unglaublich! Alfons Schulz: Du erinnerst dich auch noch, wie die Russen Gertrud Ruch bei Mohrungen erschossen hatten. Frau Lischewski: Klar kann ich mich daran erinnern. Alfons Schulz: Ja, es wird immer wieder erzählt, was die Deutschen so alles verbrochen hatten, jedoch kaum wird davon berichtet, was die Russen und die Polen alles mit uns anstellten. Das ist nicht in Ordnung! Nun, in der JP berichten wir doch häufig über die Schicksale unserer Landsleute. Ja, das stimmt. Aber sonst, allgemein, wird immer nur die eine Seite gezeigt. Herr Schulz, Sie hatten doch Geschwister. Vier meiner Brüder, Johann, Paul, Theo und Allo, waren im Krieg. Zwei davon kamen nicht zurück. Paul ist südlich vom Ladogasee gefallen, Theo soll in Rumänien gefallen sein. Nach dem Krieg haben die Russen dann noch meinen Bruder Konrad zum Viehtreiben mitgenommen, er kam auch nicht zurück. Da unser Vater schon im Esten Weltkrieg Soldat war, wurde er im Zweiten nicht gezogen. Frau Lischewski: Den Konrad haben sie doch damals aus Wuttrienen mitgenommen. Er war damals gerade siebzehn, nicht wahr. Alfons Schulz: Die Russen haben doch damals alle nach Wuttrienen getrieben. Sie kamen nach Reußen mit vielen Menschen aus Thomsdorf und anderen Dörfern. Diese Leute wurden bei den Reußener Familien untergebracht. Bei uns war das Haus auch voll. Am nächsten Tag, das war am Karfreitag 1945, haben uns die Russen eingesammelt und eben nach Wuttrienen getrieben. Ich kann mich noch entsinnen wie auf einmal ein Doppeldecker über uns erschien. Wir bekamen Angst! Aber die Russen gaben Zeichen nach oben, und dann passierte auch nichts. In Wuttrienen wurden wir zunächst in der Kirche untergebracht, auf dem Boden lagen noch Hostien verstreut. Haben die Russen euch gesagt, warum sie euch nach Wuttrienen getrieben hatten? Gar nicht. Zuerst wurden wir in der Kirche registriert und anschließend auf die umliegenden Höfe verteilt. Auf einem Hof waren wir zusammen mit Ritters und Mrogendas. Dann haben die Russen eine Razzia gemacht: Alle, die kräftig und gesund waren, nahmen sie mit. Darunter war auch mein Bruder Konrad und Alfred Mrogenda. Alfred kam zurück, Konrad nicht. Wie lange wart ihr in Wutrienen? Wie schon gesagt: Ostern 1945, am Karfreitag, kamen wir dort an und sind bis zum Herbst geblieben. Dann habe ich Gertrud und Brunhilde Ritter falsch verstanden. Denn: Ich dachte, ihr seid nur ca. zwei Wochen in Wuttrienen gewesen. Es war auf jeden Fall länger als zwei Wochen. Denn ich erinnere mich gut als der Krieg zu Ende war, und das war der 9. Mai, da haben die Russen mit ihren „Pepeschkis“ rumgeballert und riefen: „Hitler kaputt!“ Viele von uns waren in Häusern der Geflüchteten Wuttriener untergebracht. Gearbeitet haben wir, zumindest die meisten von uns, auf dem ehemaligen Gutshof Balden (Bałdy). Dort haben wir gedro schen, Kühe gehütet und andere Ar- beiten, die auf einem Bauerhof anfallen, verrichtet. Und: Wir haben uns mit den Russenkindern „geprügelt“. Wie mit den Russen geprügelt? Na ja, dort lebte eine russische Familie mit zwei frechen Buben, und mit denen haben wir uns geprügelt. Diese Familie betrieb die dortige Molkerei. Aber grundsätzlich waren diese Russen gut zu uns. Im Herbst sind Sie dann nach Reußen zurückgekehrt. Nein, es war wohl Spätsommer. Wir machten uns auch gleich an die Arbeit. Ich habe mit meinen Eltern gepflügt, geeggt und anderes machen müssen. Denn: Das Wintergetreide musste ja in den Boden. Beim Pflügen haben meine Eltern den Pflug gezogen und ich habe ihn geführt. Klar haben wir ziemlich flach den Boden bearbeitet, denn das Ziehen des Pfluges war sehr schwer. Doch irgendwie mussten wir es machen, die Pferde hatten doch die Russen mitgenommen. Dann kam schon der Winter. Was haben Sie nun gemacht? Das, was die meisten Reußener taten: Wir haben beinahe alle im Wald gearbeitet. Ich war in einer Kolonne mit Hubert Dellinger, Gerhard Kaminski, Jagalski und anderen. Im Wald haben wir zwei, drei Jahre gearbeitet. Dann, 1948, wurde ich zur SP (Służba Polsce)1 berufen. Ich war damals nicht einmal achtzehn Jahre. Zusammen mit Johannes Jatzkowski, unserem Künst»Dienst für Polen«: Eine 1948 gegründete paramilitärische Jugendorganisation in der die 16 bis 21- jährige Jugend berufliche Ausbildung, Körperertüchtigung und militärische Ausbildung erhalten sollte. 1 Familienfoto Alfons Schulz: h.l. Manfred Schulz (Sohn), Hiltrud Schulz (Schwieger tochter), Norbert Wurzel (Schwiegersohn), Margrit Wurzel (Tochter), Martin Herkenberg (Schwiegersohn), Elke Herkenberg (Tochter), Andreas Schulz (Enkel), Monika Schulz (Schwiegertochter), Erhard Schulz (Sohn) V.L. Bastian Heinrichs (Enkel), Melanie Schulz (Enkelin), Alfons und Elisabeth Schulz V.l. Alfons Schulz, Josef Lischewski, Elisabeth Schulz, Margarethe Lischewski ler, mussten wir nach Schlesien. Dort waren wir drei Monate. Uns ging es dabei gut, denn vor allem wurden wir gut verpflegt. Was haben Sie in Schlesien gemacht? Wir haben für die Górniki (Bergleute) Fińskie Domki (Finnische Häuser) gebaut. Die meisten SP Arbeiter waren deutschstämmig. Deshalb wurden wir auch von den Schlesiern gut aufgenommen, denn sie mochten ja die Polen auch nicht besonders gern. Wir sprachen untereinander und mit den schlesischen Handwerkern oft deutsch. In Schlesien war ich nur drei Monate, im September 1948 kam ich zurück und habe anschließend auf der Ziegelei in Bertung gearbeitet. Dann haben Sie ja auch mit Brunhilde und Gertrud Ritter zusammengearbeitet? Ja, das stimmt! Ich habe dort bis 1950 gearbeitet. Selbstverständlich musste ich auch noch zu Hause helfen. Vater hat irgendwann, ich glaube es war 1949, ein Pferd gekauft, einen Schimmel von Schimeks. 1950 habe ich auch mit anderen jungen Menschen aus Reußen einen Führerschein gemacht. Wie kamen Sie darauf einen Führerschein zu machen? Irgendwas musste man doch machen, ich meine beruflich. Das ganze Leben auf der Ziegelei beim Lehmstechen zu verbringen, war mir auch nicht recht! Da ich noch jung war, habe ich auch Wünsche gehabt. Paul Bienendas Bruder (Bruno)1, Georg Dellinger, Herbert Lehnard und ich haben damals den Führerschein gemacht. Die Polen ha1 Ich habe dies bei Onkel Paul nachgefragt ben das damals gefördert, denn es gab ja kaum Fahrer und der Bedarf war groß. Deshalb auch mussten wir damals nur ein wenig Geld für die Prüfung bezahlen, sonst war alles umsonst. Im Juli, 1951, bestand ich die Prüfung. Danach musste ich als Praktikant bei einem Kraftfahrzeugfahrer mitfahren. Erst nach drei Monaten durfte ich selbst fahren. Dann suchte ich einen Job als Fahrer. Gerade für junge Menschen, ich war gerade zwanzig, war das nicht ganz einfach, denn man traute dir nicht viel zu. Anfangs habe ich hier und dort ein paar Monate gearbeitet. Irgendwann begann ich bei der »Spółdzielnia Pszczelarsko Ogrodnicza« (Bienen- und Gartengenossenschaft) als Fahrer zu arbeiten. Dort blieb ich fünfundzwanzig Jahre. Zuerst habe ich einen LKW gefahren, später, jahrelang, fuhr ich den Direktor der Genossenschaft in einer »Warszawa«, einer PKW-Limousine. Ein wenig weinen Sie doch Reußen nach, oder? Frau Lischewski: Ja und nein. Manche haben da solche Sehnsucht! Meine Heimat ist gerade da, wo ich bin. Herr Schulz: Ja, vielleicht, wenn man dort noch jemanden hätte, dann vielleicht schon. Ende Juli fahre ich mal wieder in die Heimat. Wir fahren zusammen mit Christel Dellinger (geb. Leschinski). Aber auf unseren Hof fahre ich nicht mehr; ich kann mir das nicht mehr ansehen. Das tut weh, wenn man sieht, wie dort alles zugewuchert ist. Nur wo der Hund mit der Kette …, wächst kein Unkraut. Aber sonst! Nein, das tue ich mir nicht an. Früher mus- sten wir als Kinder jeden Samstag den Hof harken und fegen, das war doch ganz normal. Aber heute! Ja, jetzt aber müssen wir noch ein bisschen über den Fußball in Reußen quatschen. Wenn ich schon so ein wunderschönes Foto bekomme, dann will ich auch noch ein wenig darüber hören. Nun, wie ich schon vorher erzählte, waren die Jomendorfer und Thomsdorfer unserer größten Gegner. Mal haben sie gewonnen, mal wir. Der Fußballplatz in Jomendorf war doch gleich hinter dem Dorf auf der rechten Seite, auf so einer Anhöhe. Wer spielte damals in der Reußener Mannschaft? Nehmen wir doch das Foto. Hier ist es: direktor hat diese Dinge gefördert. Hauptsächlich ermländische Tänze haben wir eingeübt und vorgeführt. Vorführungen haben wir auch in Nachbarorten durchgeführt. Wann sind Sie nach Deutschland ausgereist? 1969 Herzlichen Dank, Herr Schulz! Und was ist das hier für Foto? Das ist ein Zespól Ludowy (FolkloreGruppe), eine Theater- und Tanzgruppe, die aus Mitarbeitern der Ziegelei gebildet wurde. So ein dicker Ziegelei- Bei der Bilderbeschreibung hat Frau Lischewski einen entscheidenden Beitrag geleistet. Erst dann habe ich verstanden, warum sie bei diesem Gespräch dabei sein musste. Sie hat ein Gedächtnis wie ein Computer. Herzlichen Dank, Frau Lischewski! Alfons Schulz 2010 Margarethe Lischewski
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