Die erste Fußballmannschaft Reußens nach 1945

Die erste Fußballmannschaft
Reußens nach 1945
Erzählt von Alfons Schulz
Aufgezeichnet von W. Behrendt
Mitten in Solingen besuche ich das Ehepaar Alfons und Elisabeth Schulz.
Frau Schulz ist eine gebürtige Allensteinerin, Herr Schulz stammt aus
Reußen. Sie sind erst vor kurzem in dieses Mehrfamilienhaus, in dem sich
die Tiefgarage direkt unter dem Haus befindet, eingezogen. Die
Wohnungen seien hier zwar nicht gerade billig, sagt Herr Schulz, jedoch
seniorengerecht gebaut und eingerichtet worden. Man könne z.B. mit dem
Fahrstuhl direkt aus der Tiefgarage vor die Wohnungstür fahren. „Später,
wenn ich nicht mehr Auto fahren werde, kann ich in der Nähe alles
Mögliche erledigen. Der Arzt, der Supermarkt und vieles andere befinden
sich beinahe vor der Haustür. Na ja, und da ich dieses Jahr schon achtzig
werde, war das auch der richtige Zeitpunkt um hierher zu ziehen.“
Herr Schulz, bis wann haben Sie in
Reußen gelebt?
Bis 1955. In diesem Jahr habe ich
geheiratet und bin zu meiner Frau, die
aus Allenstein stammt, in ihre Geburtsstadt gezogen, in die Warszawska
(Hohensteiner Strasse), gleich gegenüber
der
»Warszawianka«
(Gaststätte).
Haben Sie einen Bauernhof gehabt?
Nein, ich nicht, aber meine Eltern. Ich
zeig ihnen gleich ein Foto von unserem Haus. Wir wohnten ein wenig
außerhalb des Dorfes, halt auf dem
Abbau. Meine Eltern besaßen ca.
sechs Hektar eigenes Land, ca. sechs
weitere pachteten sie in Bertung, vom
Pfarrland1. Andere Reußener hatten
damals auch Pfarrland gepachtet,
auch unsere Nachbarn Ritters. Wehe,
1 Deutsches Rechtswörterbuch: Zum Pfarrgut
gehöriges Land, das, frei von bäuerlichen
Lasten und Abgaben, dem Unterhalt eines
Pfarrers dient; dieser darf es verpachten, nicht
aber verpfänden oder verkaufen.
wenn jemand nicht rechtzeitig seine
Pacht bezahlt hatte, er wurde direkt
von der Kanzel daran erinnert.
Herr Behrendt, sind Sie mit einer
Reußenerin verheiratet oder Ihr Bruder?
Nein, nein! Das ist mein Bruder
Alfred. Er ist mit Edith Dolewski
verheiratet. Edith ist die Tochter
von Gertrud (geb. Malchert) und
Gerhard Dolewski.
Ah ja, sie haben doch in der Gasse
gewohnt, stimmt. Wie geht es ihnen?
Na ja, mehr oder weniger gut. In der
Gasse haben ja auch Hallmanns
gewohnt. Mit den Jungs habe ich in
Klein Bertung Fußball gespielt.
Ja, Fußball habe ich auch gespielt;
irgendwo habe ich noch ein altes Foto;
hier können Sie es sehen. Das ist die
erste Mannschaft aus der Nachkriegszeit. Jomendorf und Thomsdorf waren
seinerzeit unsere stärksten Gegner.
Die erste Reuße
ner Fußballmann
schaft nach dem
Krieg:
O.l.: Reinhold
Schmidt, Hubert
Dellinger, Theo
Winicki, Hubert
Sender, Alfons
Schulz,
M.L.: ?, Georg
Ossowski, ?,
U.l.: Ernst Jagalski,
Allo Ritter, Georg
Modrzewski.
Alfons
Schulz,
Hubert
Dellinger
und Theo
Winicki
Nach und nach kamen dann die älteren Jungs aus dem Krieg zurück und
verstärkten unsere Mannschaft. Ihr
Vater war doch auch ein Fußballer,
nicht wahr? Ich glaube mich an Walter
Behrendt zu erinnern; ein groß gewachsener, kräftiger Mann war er. Ja,
Sie haben schon mal über den Fußball
geschrieben, aber über die echte Reußener Mannschaft, da haben Sie doch
noch nichts erzählt. Ja, und wir waren
doch diejenige, die ….
Herr Schulz, ich wusste doch, dass
ich eines Tages tatsächlich einem
echten Reußener Fußballspieler
von früher begegne. Endlich ist es
soweit, das freut mich! Und das
Georg Moritz und Alfons Schulz (auf dem reu
ßener Fußballplatz)
Foto ist doch wirklich etwas Besonderes! Mensch, ist das schön!
Na gut, dass ich umgezogen bin, denn
sonst hätte ich ihnen keine E-Mail
geschrieben.
Hubert Dellinger, Paul Neumann, Georg Moritz, Georg
Ossowski, Felix Leschinski, Otto Lischewski, Paul Bienenda, Herbert Lenhardt, Hugo Poetsch.
Waldarbeiter:H.L.JanekJasiuciena,AlfonsSchulz,Reinhold
Kucharzewski,JosefNigbur,V.L.JosefSchulz,AloisPiezocha
undAdolfSchulz
Hubert Dellinger, Georg Ossowski, Alfons Schulz, Felix
Leschinski
V.l. Edelgard Lenhardt, Maria
Dellinger, Hildegard Lenhardt,
v.l. Alfons Schulz, Theo Winicki
Alfons Schulz
„...irgendwo habe ich noch ein altes
Foto; hier können Sie es sehen...“
Alfons an der Alle bei Leschinski Reußener Jugend
Georg Ossowski, Alfons Schulz, Hubert Dellinger, Theo
Winicki, Hans Jatzkowski
Alfons Schulz, Georg Ossowski (Unser Trauzeuge)
Alfons Schulz, Hans Jatzkowski, Georg Ossowski, Herbert Christel Leschinski, Elisabeth Jurewitz (Meine Frau), Hildegard Seidel und Edelgard Leschinski.
Lenhardt
Alfons Schulz, Georg Dellinger, Georg Ossowski, Herbert Lenhardt, Hubert Dellinger, ?
Ich kenne Reußen aus zweierlei
Gründen: Erstens, weil mein Onkel,
Paul Bienenda, aus Reußen stammt,
und zweitens, weil ich in den sechziger Jahren einige Male zur Mühle
nach Reußen fuhr. Später, kurz vor
der Ausreise nach Deutschland,
1979, war ich noch mit den Hallmann Jungs befreundet. Ja, und
nicht zu vergessen sind die Zabawys (Tanzabende) in Reußen.
Ja, kurz nach dem Krieg habe ich
sogar in der Mühle gearbeitet, zu der
Zeit, als Czarnecki dort noch Müller
war. Ob er ein gelernter Müller war,
weiß ich nicht, aber er kannte sich gut
aus. Was dann mit Czarnecki passiert
ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Wie schreibt man diesen Namen,
deutsch oder polnisch?
Das weiß ich nicht. Denn nach dem
Krieg haben die Polen versucht, sogar
meinen Namen polnisch zu schreiben.
In Reußen lebte ja die Familie Leschinski. Einmal wurde sie Leszczynski,
einmal Leszinski geschrieben. Das
war doch damals alles so ziemlich
durcheinander.
Herr Schulz, ich möchte nun ein
wenig über ihre Familie erfahren.
Mein Vater war Paul Schulz. Meine
Mutter war eine geborene Pompetzki,
sie kam ursprünglich aus Grabenau
(Przykop). Insgesamt waren wir neun
Geschwister, ich bin der Jüngste. Ich
bin inzwischen der einzige, der noch
lebt. Drei Geschwister blieben im
Krieg.
Meine Mutter hatte dreizehn Geschwister. Kannten Sie vielleicht
meine Mutter, sie wohnte in Neu
Bertung, direkt am See und hieß
Engelberg?
FolkloreGruppe
von der Ziegelei,
1949/50:
Grete Freitag,
Lisbeth Schwenzfeier,
?,
Hertel,
Brunhilde Ritter,
Alfons Schulz,
?,
?,
?
Skowasch,
Herbert Lenhardt,
Felix Leschinski,
Theo Winicki,
Maik,
Alfons Schulz,
Hugo Poetsch,
Cila Rosog,
Georg Dellinger
?,
Skowasch,
Herbert Lenhardt,
Theo Winicki,
Felix Leschinski,
Alfons Schulz,
Hugo Poetsch,
Georg Dellinger,
?,
Gerhard Skrzypski
Oh ja, ich kannte Engelbergs Mädels.
Letztes Jahr war ich bei meiner Nichte
zu Besuch, da traf ich K. Wenn K.
stirbt, dann muss sie zwei Särge bekommen, einen für ihre große Klappe
und einen für ihren Leib. Nett ist sie
trotzdem! Ja, wir kannten uns noch
aus der Jugendzeit.
Sie sind in Reußen zur Schule
gegangen.
Ja, ich hätte beinahe noch die deutsche Volksschule beendet; denn regulär sollte ich im April 1945 mein Abschlusszeugnis bekommen. Aber: Im
Januar kam ja schon der Russe.
Können Sie sich noch an die Lehrer
erinnern?
Ja, das kann ich. Bei uns gab es drei
Lehrer: Fräulein Wiechert, Herrn
Schüttelhelm und Herrn Stoll. Der
Schüttelhelm verließ Reußen kurz
bevor die Russen einzogen. Wie man
erzählte, ging er damals zusammen
mit dem Förster (Name entfallen),
jeder mit einem Gewehr bewaffnet,
aus dem Dorf.
Die beiden haben wir nie wieder gesehen, weiß halt nicht, was mit ihnen
passierte. Der Lehrer Stoll lebte ja
später bei Köln. Lisa, seiner Tochter,
begegnete ich eines Jahres auf dem
Treffen in Meinerzhagen. Nebenbei
gesagt: Stoll war ein sehr strenger
Lehrer!
Über den Stoll erzählte mir Frau
Hallmann eine Begebenheit. Aber:
Von Frau Hallmann erfuhr ich
auch einiges über das Wäschebleichen, das war für mich
etwas Besonderes.
Was, Wäschebleichen? Wer die Gänse hüten musste, wie ich, für den war
das oft mit Qualen verbunden. Denn:
Die Gänse fühlten sich besonders zu
der auf der Wiese ausgebreiteten
weißen Wäsche hingezogen. Deshalb
musste man an den Bleichtagen besonders darauf achten, dass sie sich
dort, auf der Wäsche, nicht ausbreiteten. Und da man beim Hüten schnell
müde wurde, war das nicht immer
leicht. Manchmal schlief ich halt ein.
Oh je! Dann gab es Ärger. Oft hütete
ich abwechselnd mit meinem Bruder
zwanzig, dreißig Gänse auf der Wiese
an der Alle. Versauten die Biester die
Wäsche, so bekam ich die Ohren lang
gezogen.
Da ich kein Reußener bin, weiß ich
auch nicht genau, wo die Familie
Schulz wohnte. Von Brunhilde und
Gertrud Ritter weiß ich jedoch, dass
sie immer zu Schulz flüchteten, als
die russischen Soldaten sich ihrem
Hof näherten. Das musste doch
unweit von Schulz gewesen sein,
nicht wahr.
Oben auf dem Berg stand unser Haus.
Vor Ritters in der Kurve rechts nach
oben ging es zu uns. Früher konnte
man noch von der Straße die Scheune
sehen, sie wurde dann abgerissen.
Das Wohnhaus ist von der Straße
kaum zu sehen. Früher aber, als die
Scheune und der Schuppen noch
standen, konnte man unseren Hof von
der Chaussee sehen. Auf unseren Hof
gelangte man, wenn man den Weg zu
Bienendas hochfuhr, in Richtung Ganglau.
Na ja, in zwei Wochen fahre ich in
die Heimat, dann werde ich mir
diese Ecke mal genauer anschauen.
Jetzt aber ganz was anderes. Wie
war es, als die Russen kamen?
Unser Haus
in Reußen
Hochzeitsbild (1955)
Elisabeth Jurewitz
Alfons Schulz
Goldene Hochzeit: Elisabeth (geb.
Jurewitz) und Alfons Schulz
Wir flüchteten, zusammen mit vielen
anderen Familien aus Reußen, ich
glaube es war der 20/21. Januar. Ja,
auch wir befanden uns in dem Treck,
von dem schon Brunhilde und Gertrud Ritter in der JP 2008 erzählten.
Ritters, Ruchas, Stephuns und andere Familien waren dabei. Reder, der
aus Bertung, kam am Tag zuvor und
sagte uns, dass wir flüchten sollten,
daran kann ich mich noch gut erinnern. Sein Bruder, der zu deutschen
Zeit Müller in Reußen war, hieß Reski, er behielt seinen polnisch klingenden Namen. Reder jedoch hatte seinen Namen ein paar Jahre zuvor aus
bekannten Gründen geändert. Ja, er
kam damals ins Dorf und sprach mit
den älteren Leuten über die Flucht.
Am Mittag des nächsten Tages sind
wir auch schon losgefahren. Wir kamen mit dem Treck allerdings nicht
sehr weit, denn bereits bei Mohrungen haben uns die Russen eingeholt.
Sie haben uns gleich die Pferde
weggenommen. Die älteren Dorfbewohner beschlossen damals, eben
bei Mohrungen, nach Reußen zurückzukehren. Ruchas Tochter, die sich
gegen Vergewaltigung wehrte, haben
die Russen erschossen. Wir kamen
durch Dietrichwalde, Thomsdorf in
unser Dorf zurück. Vor Reußen haben wir immer wieder in Richtung
unseres Hauses geguckt, denn, ob
das Haus noch da war, war ja in
diesem Augenblick wichtig. Gott sei
Dank, stand es noch.
Schulz? War das ein Verwandter?
Nein, in Reußen gab es zur damaligen
Zeit fünf Familien Schulz. Drei davon
waren miteinander verwandt. Die Familien Josef Schulz und Paul Schulz (mein
Vater) waren mit keinem verwandt.
Ja, Ähnliches erzählte auch Frau
Hallmann. Ihre Familie war auch
sehr glücklich, dass das Haus noch
stand.
Ich glaube, dass nur Josefs Schulz’
Haus in Reußen abgebrannt war.
Mensch, diese Gesichter kenne ich
doch!
Guten Tag, Lischewski.
Und wie ging es weiter?
Als wir nach Hause kamen, fanden wir
ein verwüstetes Haus vor. Alles lag,
zum Teil zerschlagen, auf dem Boden
herum. Vier Brüder meines Vaters
waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Im
Wohnzimmer hing ein Foto, das sie in
Uniform zeigte. An dieses Bild kann
mich noch sehr gut erinnern, denn es
wurde von den Russen mit einer
Schusswaffe durchlöchert. Sonst war
auch vieles zerstört. Das Schlimmste
aber war das Gebrüll des Viehs, man
hörte es schon vom Weiten. Durstig
und ausgehungert fanden wir es vor.
Wir hätten es zumindest von den
Ketten losmachen sollen, jedoch …
Heu haben wir ihm zwar haufenweise
vorgesetzt. Aber: Die Kühe waren
durstig, und gemolken wurden sie ja
auch nicht.
Wie lange waren sie auf der Flucht?
Wir sind am 20. Januar 1945 von
Reußen losmarschiert und kamen drei,
vier Wochen später zurück.
Nun kommt ihr angekündigter Besuch.
Ja, meine Nichte und ihr Mann kommen zum Kaffee.
O ja, mit ihrer hübschen Schwiegertochter habe ich doch auf Onkel
Pauls (Bienenda) achtzigstem Geburtstag, nach Meinung einiger Gäste, ein wenig zu oft getanzt.
Frau Lischewski: Das macht doch
nichts, wichtig ist, dass ihr Spaß hattet,
und so wie es aussah, habt ihr ja Spaß
gehabt. Man muss alles nehmen wie
es kommt!
Ja, dann bestellen Sie ihr doch bitte
einen schönen Gruß!
Sie kommt mit uns nach Meinerzhagen
im September, sie wird uns fahren.
Alfons Schulz: Sie (Frau Lischewski)
ist auf dem Jomendorf-Treffen ihrem
Jugendfreund begegnet, nach vielen,
vielen Jahren.
Frau Lischewski: Nur schreiben Sie
dieses nicht.
Warum denn nicht?
Alfons Schulz: Wer war das?
Frau Lischewski: Seid doch nicht so
neugierig!
Wie hieß er denn?
Frau Lischewski: Das kann ich euch
nicht verraten. Aber, August war sein
Vorname, mehr erzähle ich euch nicht.
Ich traf ihn damals oft im Zug, der aus
Stabigotten nach Allenstein fuhr. Mehr
aber werde ich euch nicht sagen! Na ja,
vielleicht noch, dass er Musiker war, er
spielte Trompete. Nach so vielen Jahren habe ich ihn getroffen, unglaublich!
Alfons Schulz: Du erinnerst dich auch
noch, wie die Russen Gertrud Ruch
bei Mohrungen erschossen hatten.
Frau Lischewski: Klar kann ich mich
daran erinnern.
Alfons Schulz: Ja, es wird immer
wieder erzählt, was die Deutschen so
alles verbrochen hatten, jedoch kaum
wird davon berichtet, was die Russen
und die Polen alles mit uns anstellten.
Das ist nicht in Ordnung!
Nun, in der JP berichten wir doch
häufig über die Schicksale unserer
Landsleute.
Ja, das stimmt. Aber sonst, allgemein,
wird immer nur die eine Seite gezeigt.
Herr Schulz, Sie hatten doch Geschwister.
Vier meiner Brüder, Johann, Paul,
Theo und Allo, waren im Krieg. Zwei
davon kamen nicht zurück. Paul ist
südlich vom Ladogasee gefallen, Theo
soll in Rumänien gefallen sein. Nach
dem Krieg haben die Russen dann
noch meinen Bruder Konrad zum
Viehtreiben mitgenommen, er kam
auch nicht zurück. Da unser Vater
schon im Esten Weltkrieg Soldat war,
wurde er im Zweiten nicht gezogen.
Frau Lischewski: Den Konrad haben
sie doch damals aus Wuttrienen mitgenommen. Er war damals gerade
siebzehn, nicht wahr.
Alfons Schulz: Die Russen haben
doch damals alle nach Wuttrienen
getrieben. Sie kamen nach Reußen
mit vielen Menschen aus Thomsdorf
und anderen Dörfern. Diese Leute
wurden bei den Reußener Familien
untergebracht. Bei uns war das Haus
auch voll. Am nächsten Tag, das war
am Karfreitag 1945, haben uns die
Russen eingesammelt und eben nach
Wuttrienen getrieben. Ich kann mich
noch entsinnen wie auf einmal ein
Doppeldecker über uns erschien. Wir
bekamen Angst! Aber die Russen
gaben Zeichen nach oben, und dann
passierte auch nichts. In Wuttrienen
wurden wir zunächst in der Kirche
untergebracht, auf dem Boden lagen
noch Hostien verstreut.
Haben die Russen euch gesagt,
warum sie euch nach Wuttrienen
getrieben hatten?
Gar nicht. Zuerst wurden wir in der
Kirche registriert und anschließend auf
die umliegenden Höfe verteilt. Auf
einem Hof waren wir zusammen mit
Ritters und Mrogendas. Dann haben
die Russen eine Razzia gemacht: Alle,
die kräftig und gesund waren, nahmen
sie mit. Darunter war auch mein Bruder Konrad und Alfred Mrogenda.
Alfred kam zurück, Konrad nicht.
Wie lange wart ihr in Wutrienen?
Wie schon gesagt: Ostern 1945, am
Karfreitag, kamen wir dort an und sind
bis zum Herbst geblieben.
Dann habe ich Gertrud und Brunhilde Ritter falsch verstanden. Denn:
Ich dachte, ihr seid nur ca. zwei
Wochen in Wuttrienen gewesen.
Es war auf jeden Fall länger als zwei
Wochen. Denn ich erinnere mich gut
als der Krieg zu Ende war, und das war
der 9. Mai, da haben die Russen mit
ihren „Pepeschkis“ rumgeballert und
riefen: „Hitler kaputt!“ Viele von uns
waren in Häusern der Geflüchteten
Wuttriener untergebracht. Gearbeitet
haben wir, zumindest die meisten von
uns, auf dem ehemaligen Gutshof
Balden (Bałdy). Dort haben wir gedro­
schen, Kühe gehütet und andere Ar-
beiten, die auf einem Bauerhof anfallen, verrichtet. Und: Wir haben uns mit
den Russenkindern „geprügelt“.
Wie mit den Russen geprügelt?
Na ja, dort lebte eine russische Familie
mit zwei frechen Buben, und mit denen
haben wir uns geprügelt. Diese Familie
betrieb die dortige Molkerei. Aber
grundsätzlich waren diese Russen gut
zu uns.
Im Herbst sind Sie dann nach Reußen zurückgekehrt.
Nein, es war wohl Spätsommer. Wir
machten uns auch gleich an die Arbeit.
Ich habe mit meinen Eltern gepflügt,
geeggt und anderes machen müssen.
Denn: Das Wintergetreide musste ja
in den Boden. Beim Pflügen haben
meine Eltern den Pflug gezogen und
ich habe ihn geführt. Klar haben wir
ziemlich flach den Boden bearbeitet,
denn das Ziehen des Pfluges war sehr
schwer. Doch irgendwie mussten wir
es machen, die Pferde hatten doch die
Russen mitgenommen.
Dann kam schon der Winter. Was
haben Sie nun gemacht?
Das, was die meisten Reußener taten:
Wir haben beinahe alle im Wald gearbeitet. Ich war in einer Kolonne mit
Hubert Dellinger, Gerhard Kaminski,
Jagalski und anderen. Im Wald haben
wir zwei, drei Jahre gearbeitet. Dann,
1948, wurde ich zur SP (Służba
Polsce)1 berufen. Ich war damals nicht
einmal achtzehn Jahre. Zusammen mit
Johannes Jatzkowski, unserem Künst»Dienst für Polen«: Eine 1948 gegründete
paramilitärische Jugendorganisation in der die
16 bis 21- jährige Jugend berufliche Ausbildung,
Körperertüchtigung und militärische Ausbildung
erhalten sollte.
1
Familienfoto Alfons Schulz: h.l. Manfred Schulz (Sohn), Hiltrud Schulz (Schwieger
tochter), Norbert Wurzel (Schwiegersohn), Margrit Wurzel (Tochter), Martin Herkenberg
(Schwiegersohn), Elke Herkenberg (Tochter), Andreas Schulz (Enkel), Monika Schulz
(Schwiegertochter), Erhard Schulz (Sohn) V.L. Bastian Heinrichs (Enkel), Melanie Schulz
(Enkelin), Alfons und Elisabeth Schulz
V.l. Alfons Schulz, Josef Lischewski, Elisabeth Schulz, Margarethe Lischewski
ler, mussten wir nach Schlesien. Dort
waren wir drei Monate. Uns ging es
dabei gut, denn vor allem wurden wir
gut verpflegt.
Was haben Sie in Schlesien gemacht?
Wir haben für die Górniki (Bergleute)
Fińskie Domki (Finnische Häuser)
gebaut. Die meisten SP Arbeiter waren
deutschstämmig. Deshalb wurden wir
auch von den Schlesiern gut aufgenommen, denn sie mochten ja die
Polen auch nicht besonders gern. Wir
sprachen untereinander und mit den
schlesischen
Handwerkern
oft
deutsch. In Schlesien war ich nur drei
Monate, im September 1948 kam ich
zurück und habe anschließend auf der
Ziegelei in Bertung gearbeitet.
Dann haben Sie ja auch mit Brunhilde und Gertrud Ritter zusammengearbeitet?
Ja, das stimmt! Ich habe dort bis 1950
gearbeitet. Selbstverständlich musste
ich auch noch zu Hause helfen. Vater
hat irgendwann, ich glaube es war
1949, ein Pferd gekauft, einen Schimmel von Schimeks. 1950 habe ich auch
mit anderen jungen Menschen aus
Reußen einen Führerschein gemacht.
Wie kamen Sie darauf einen Führerschein zu machen?
Irgendwas musste man doch machen,
ich meine beruflich. Das ganze Leben
auf der Ziegelei beim Lehmstechen zu
verbringen, war mir auch nicht recht!
Da ich noch jung war, habe ich auch
Wünsche gehabt. Paul Bienendas Bruder (Bruno)1, Georg Dellinger, Herbert
Lehnard und ich haben damals den
Führerschein gemacht. Die Polen ha1
Ich habe dies bei Onkel Paul nachgefragt
ben das damals gefördert, denn es gab
ja kaum Fahrer und der Bedarf war
groß. Deshalb auch mussten wir damals nur ein wenig Geld für die Prüfung bezahlen, sonst war alles umsonst. Im Juli, 1951, bestand ich die
Prüfung. Danach musste ich als Praktikant bei einem Kraftfahrzeugfahrer
mitfahren. Erst nach drei Monaten
durfte ich selbst fahren. Dann suchte
ich einen Job als Fahrer. Gerade für
junge Menschen, ich war gerade zwanzig, war das nicht ganz einfach, denn
man traute dir nicht viel zu. Anfangs
habe ich hier und dort ein paar Monate
gearbeitet. Irgendwann begann ich bei
der »Spółdzielnia Pszczelarsko­
Ogrodnicza« (Bienen- und Gartengenossenschaft) als Fahrer zu arbeiten.
Dort blieb ich fünfundzwanzig Jahre.
Zuerst habe ich einen LKW gefahren,
später, jahrelang, fuhr ich den Direktor
der
Genossenschaft
in
einer
»Warszawa«, einer PKW-Limousine.
Ein wenig weinen Sie doch Reußen
nach, oder?
Frau Lischewski: Ja und nein. Manche haben da solche Sehnsucht! Meine Heimat ist gerade da, wo ich bin.
Herr Schulz: Ja, vielleicht, wenn man
dort noch jemanden hätte, dann vielleicht schon. Ende Juli fahre ich mal
wieder in die Heimat. Wir fahren zusammen mit Christel Dellinger (geb.
Leschinski).
Aber auf unseren Hof fahre ich nicht
mehr; ich kann mir das nicht mehr
ansehen. Das tut weh, wenn man
sieht, wie dort alles zugewuchert ist.
Nur wo der Hund mit der Kette …,
wächst kein Unkraut. Aber sonst! Nein,
das tue ich mir nicht an. Früher mus-
sten wir als Kinder jeden Samstag den
Hof harken und fegen, das war doch
ganz normal. Aber heute!
Ja, jetzt aber müssen wir noch ein
bisschen über den Fußball in Reußen quatschen. Wenn ich schon so
ein wunderschönes Foto bekomme,
dann will ich auch noch ein wenig
darüber hören.
Nun, wie ich schon vorher erzählte,
waren die Jomendorfer und Thomsdorfer unserer größten Gegner. Mal
haben sie gewonnen, mal wir. Der
Fußballplatz in Jomendorf war doch
gleich hinter dem Dorf auf der rechten
Seite, auf so einer Anhöhe.
Wer spielte damals in der Reußener
Mannschaft?
Nehmen wir doch das Foto. Hier ist es:
direktor hat diese Dinge gefördert.
Hauptsächlich ermländische Tänze
haben wir eingeübt und vorgeführt.
Vorführungen haben wir auch in Nachbarorten durchgeführt.
Wann sind Sie nach Deutschland
ausgereist?
1969
Herzlichen Dank, Herr Schulz!
Und was ist das hier für Foto?
Das ist ein Zespól Ludowy (FolkloreGruppe), eine Theater- und Tanzgruppe, die aus Mitarbeitern der Ziegelei
gebildet wurde. So ein dicker Ziegelei-
Bei der Bilderbeschreibung hat
Frau Lischewski einen entscheidenden Beitrag geleistet. Erst dann
habe ich verstanden, warum sie bei
diesem Gespräch dabei sein musste. Sie hat ein Gedächtnis wie ein
Computer. Herzlichen Dank, Frau
Lischewski!
Alfons Schulz 2010
Margarethe Lischewski