IST DIE DEMOKRATIE IN EUROPA NOCH ZU RETTEN? Dr. Thorsten Schulten IG Metall Schweinfurt/Bamberg Denkfabrik Main 4. November 2015, Schweinfurt Inhalt 1. Europa – Aktuelle Krisendiagnosen 2. Konstruktionsfehler der Europäischen Union 3. Dominanz autoritärer Krisenpolitik – das Beispiel Griechenland 4. Europa neu begründen – Ansätze für ein politisches Reformprogramm 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 2 Flüchtlingskrise in Europa EU funktioniert nicht − Keine europäisch-solidarische Lösung − Nationale Alleingänge der Abschottung − Erstarken nationalistischer und rechtspopulistischer Parteien − Zerbricht die EU an der Flüchtlingsfrage ? 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 3 Flüchtlingskrise in Europa Überforderung des Nationalstaates − Illusion der Abschottung: Kein Land kann die Flüchtlingskrise alleine lösen Krise !!! Europa ist wichtiger denn je! − Flüchtlingskrise bring viele grundlegende Probleme und ungelöste Krisen der EU auf den Punkt − Lösung der Flüchtlingsfrage bedarf einer grundlegenden Neuausrichtung der EU 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 4 Ungelöste Krisen in der EU − Ökonomische Krise − Soziale Krise − Politische Krise/ Krise der Demokratie 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 5 Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Europäischen Union (in %) 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 6 Arbeitslose in der Europäischen Union (in Mill.) 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 7 Arbeitslosigkeit in der EU Saisonbereinigt, August 2015 in % Quelle: Eurobarometer 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 8 Jugendarbeitslosigkeit in der EU Saisonbereinigt, August 2015 in % Quelle: Eurobarometer 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 9 Mit der Demokratie in der EU zufrieden … Anteil der Bevölkerung in %, Frühjahr 2015 Quelle: Eurobarometer 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 10 2. KONSTRUKTIONSFEHLER DER EUROPÄISCHEN UNION 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 11 EU: Ungleichgewicht zwischen ökonomischer und politscher/sozialer Integration Strukturelle Dominanz der ökonomischen Integration − Binnenmarkt mit den vier ökonomischen Grundfreiheiten (Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmer) − Liberalisierung, Deregulierung Strukturelle Benachteiligung der politischen Integration − Zahlreiche Blockademöglichkeiten bei der Setzung europäischer, marktkorrigierender Standards − Fehlende Regeln gegen Steuer- und Sozialkostenwettbewerb − Umfassendes europäisches Demokratiedefizit 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 12 Politischen Kerninstitutionen der EU: Europäische Rat Euro-Gruppe Nationalen Regierungen Nationalen Regierungen der Eurostaaten Europäische Kommission Initiativrecht für Gesetze (Richtlinien, Verordnungen) Europäisches Parlament Mitbestimmung bei bestimmten Gesetzen Kein Initiativrecht ! 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten Europäische Zentralbank Autonome Festlegung der Geldpolitik Europäischer Gerichtshof Prüft Konformität nationaler Gesetze mit dem Europarecht 13 Grundlegende Demokratiedefizit in der EU Vorherrschaft der Exekutive − Dominanz des Rates − Europäische Kommission − − Gesetzgebungsmonopol Eingeschränkte parlamentarische Legitimation Eingeschränkte Legislative − Europäisches Parlament ohne Initiativrecht − (faktische) Entmachtung nationaler Parlamente Entpolitiserung − Europäische Zentralbank − Europäischer Gerichtshof 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 14 3. DOMINANZ AUTORITÄRER KRISENPOLITIK – DAS BEISPIEL GRIECHENLAND 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 15 Europäische Krisenpolitik Diagnose: − Schuldenkrise − Wettbewerbskrise Therapie: − Austeritätspolitik (Sparen, Sparen…) − Strukturelle Reformen … vor allem auf dem Arbeitsmarkt 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 16 Neue wirtschafspolitische Steuerung in der EU New European Economic Governance Als Reaktion auf die Krise 2008f. entwickeln sich neue Formen einer verbindlicheren Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU Europäische Semester • als jährlicher Koordinationszyklus mit wirtschaftspolitischen Empfehlungen der EU an die Nationalstaaten Programme der Troika • (EU Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond) • Wirtschaftspolitische Auflagen als Voraussetzung zur Gewährleistung von Krediten 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 17 “Beschäftigungsfreundliche Reformen“ in der Tarifpolitik – Dezentralisierung des Tarifvertragssystems – Einführung/Ausdehnung von Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen von Flächentarifverträgen – Begrenzung/Abschaffung des Günstigkeitsprinzips – Reduzierung von Allgemeinverbindlicherklärungen – Reduzierung der Tarifbindung – allgemeine Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 18 Zukunft der Europäischen Union Der Bericht der 5 Präsidenten: Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden Juncker Tusk 04.11.2015 Dijsselbloem Dr. Thorsten Schulten Draghi Schulz 19 Zukunft der Europäischen Union Nationale Einrichtingen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit − “unabhängige” Stelle − Beobachtung der Wettbewerbsfähigkeit − Bewertung „struktureller Reformen“ − Beurteilung “ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln“ − Vergleiche mit anderen Ländern des EuroWährungsgebiets und in den wichtigsten vergleichbaren Handelspartnerländern“ Bericht der 5 Präsidenten − Stellungnahmen als „Richtschnur“ für die Tarifvertragsparteien 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 20 Aushöhlung nationaler Demokratie: Das Beispiel Griechenland 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 21 Aushöhlung nationaler Demokratie: Das Beispiel Griechenland Übereinkommen der Euro-Gruppe mit Griechenland (Juli 2015) “Die Regierung muss die Institutionen zu sämtlichen Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen mit angemessenem Vorlauf konsultieren und sich mit ihnen abstimmen, ehe eine öffentliche Konsultation durchgeführt oder das Parlament befasst wird.“ Memorandum der Troika und Griechenland (August 2015) „Die Regierung verpflichtet sich, alle zur Verwirklichung der Ziele des Memorandum of Understanding erheblichen Maßnahmen mit der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds zu beraten und zu vereinbaren, bevor sie ausgearbeitet und rechtsgültig verabschiedet werden.“ 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 22 Aushöhlung nationaler Demokratie: Das Beispiel Griechenland “Mit der Unterschrift der griechischen Regierung unter ein ihr aufgezwungenes drittes »Memorandum« ist die Euro-Krise keineswegs vorbei. Im Gegenteil: ... Mit dem eisernen Beharren der Troika, der Euro-Gruppe und der deutschen Bundesregierung auf Sozialabbau, Zerstörung des Tarifvertragssystems, Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und Massenbelastungen werden wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende Ungleichheit im gemeinsamen Währungsraum zum Dauerzustand gemacht. … Die EU und die Europäische Währungsunion werden als Hebel für die Durchsetzung einer unsozialen Politik und zum Abbau von Demokratie missbraucht “ Europa neu begründen“ – aktueller denn je angenommener Initiativantrag auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall 2015 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 23 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland Veränderungen des griechischen Tarifrechtes auf Druck der Troika: − Abschaffung des Günstigkeitsprinzips − Abschaffung von Allgemeinverbindlicherklärungen − Zulassung von nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen, beim Abschluss betrieblicher Tarifverträge − Reduzierung der Nachwirkung von Tarifverträgen − Kürzung des nationalen Mindestlohns/ Umwandlung des tarifvertraglichen in einen gesetzlichen Mindestlohn 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 24 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 25 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland Unternehmenstarifverträge in Griechenland nach Tarifvertragsparteien in % aller Unternehmenstarifverträge, die zwischen November 2011 bis Dezember 2013 abgeschlossen wurden Quelle: Daouli u.a. 2015 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 26 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 27 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland Entwicklung der Reallöhne in der EU, 2010-2014, in % 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 28 Private Nachfrage in der EU: 2008 = 100 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 29 Eingriffe in das Tarifvertragssystem: Das Beispiel Griechenland Perspektiven des griechischen Tarifsystems nach dem 3. Memorandum − Evaluierung der bisherigen Erfahrungen durch eine internationale ExpertInnenkommission − Beteiligung internationaler Organisationen: Troika aber auch Internationale Arbeitsorganisation (ILO), EGB u.a. − Weitere Reformen des griechischen Tarifrechtes vor dem Hintergrund der „ besten Praktiken“ in Europa − Keine Veränderung des Tarifrechtes ohne Zustimmung der Troika !!! 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 30 4. EUROPA NEU BEGRÜNDEN – ANSÄTZE FÜR EIN POLITISCHE REFORMPROGRAMM 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 31 Politische Antworten auf die Krise der Europäischen Union Politische Vertiefung der EU Euro-Keynesianismus Vorrang sozialer Rechte vor wirtschaftlichen Freiheiten Demokratisierung der EU Koordinierte Wirtschaftspolitik Autoritärer Neoliberalismus Neoliberaler Umbau des Sozialstaates links rechts (Teil-)Auflösung der Währungsunion Europaweit reguliertes Währungssystem Nationale Wettbewerbsstaaten in einer europäischen Freihandelszone Verteidigung des nationalen Sozialstaates (Teil-) Auflösung der Währungsunion Re-Nationalisierung 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 32 Europa neu begründen − Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik − Stärkung der sozialen Integration − Demokratisierung der EU www.europa-neu-begruenden.de 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 33 Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik − Abkehr von der Austeritätspolitik − Europaweite Investitionsinitiative − Europaweite Vermögensanleihe oder Vermögensbesteuerung − Begrenzung des Steuerwettbewerbs durch Mindestbesteuerungsregeln − Ende von Lohnstopps und Lohnkürzungen − Abkehr von der Wettbewerbsfixierung und Stärkung gesamtwirtschaftlicher Nachfrage 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 34 Stärkung der sozialen Integration − Vorrang nationaler Sozialstandards vor europäischen Marktfreiheiten − Grundsatz der gleichen Behandlung und gleichen Bezahlung für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort − Ausbau europäischer Mindeststandards (z.B. Mindesteinkommen, Mindestlöhne Arbeitsrecht usw.) − Stärkung der Tarifautonomie 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 35 Demokratisierung der EU − Weiterentwicklung des Europäischen Parlaments zu einem „normalen Parlament“ mit Initiativrecht − Beendigung der Troika-Konstruktion − Stärkung direkter Demokratie (europaweite Referenden) − Stärkung der europäischen Wirtschaftsdemokratie − Europäische Betriebsräte − Industrie- und Strukturpolitik, − Gesamtwirtschaftlichen Koordinierung (inklusive der Europäischen Zentralbank) 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 36 VIELEN DANK FÜR EURE AUFMERKSAMKEIT Dr-. Thorsten Schulten [email protected] www.wsi.de 04.11.2015 Dr. Thorsten Schulten 37
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