INHALT DANKSAGUNG 6 GRUSSWORT Ministerpräsidentin Malu Dreyer 7 VORWORT Dr. Michael Dietzsch 8 PURRMANN, MATISSE UND DIE FRANZÖSISCHE MALKULTUR Felix Billeter DIE PHANTASIE IN DER MALEREI. HANS PURRMANN UND MAX LIEBERMANN – EIN VERHÄLTNIS ZWISCHEN NÄHE UND DISTANZ Kai Uwe Schierz 11 21 PURRMANN MALT AUF ISCHIA Erhard Göpel 35 MEINE WEGE ZU HANS PURRMANN – ERINNERUNGEN Berthold Roland 43 BILDTEIL 55 ANHANG 195 BIOGRAFIE HANS PURRMANN Felix Billeter 196 KATALOG DER AUSGESTELLTEN ARBEITEN 201 IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS 208 PURRMANN MALT AUF ISCHIA Erhard Göpel Das Schiff kam abends an. Nicht weit von der Anlegestelle in Porto d’Ischia, fast unter der Galionsfigur, saß der Club, dem Purrmann präsidierte, beisammen. An wackligen, zusammengerückten Tischen, vor der kleinen Wirtschaft des Calabresen, den Purrmann seit dreißig Jahren kannte, als er das erste Mal in Porto d’Ischia einen Sommer lang gemalt hatte. Wir waren nicht angemeldet, wurden mit Hallo empfangen und an den Tisch gesetzt. Neben Purrmann saß ein schlankes Mädchen mit einem schweren blonden Haarknoten, dann der schwedische Major, der mit seinem Boot von Stockholm nach Ischia gesegelt war, der Maler Ernst Schumacher, dessen dröhnender Bass sich immer wieder aus dem Stimmengewirr löste, und eine Reihe anderer Gäste. Später kamen noch Bargheer und Gilles von San Angelo herüber; Gilles und Purrmann begrüßten sich wie zwei Großmächte. Das Gespräch lief hin und her zwischen Künstlerbund, dem Berlin der zwanziger Jahre, von Purrmann scharf mit verfänglichen Anekdoten gewürzt, und den Bildern, die gerade entstanden waren. Die Quartierfrage wurde nebenher gelöst, wir bekamen in dem Hotel, dessen ockergelbe Mauer an den Hafen stößt und das auf vielen Bildern Purrmanns vorkommt, ein Zimmer reserviert; die beiden Räume, deren Fenster direkt auf den Hafen gingen, waren Purrmann vorbehalten. Inzwischen fiel die Nacht über Porto d’Ischia. Die Sterne standen klar am dunkelblauen Himmel, eine amerikanische Jacht zeichnete sich weiß gegen das Brackwasser ab. Auch das ein Bildmotiv. Die Krüge auf dem Tisch wurden schneller geleert, die Diskussionen hitziger, und das brennende Problem jener Jahre, abstrakt oder gegenständlich, rückte in den Mittelpunkt der Debatte. Die Runde war in diesem Jahre von Landschaftern besetzt, unter denen keiner auf das ,Motiv‘, so wie es die Insel bot, verzichtete. Man war sich einig, und die Maler hätten zu gern den Alten, der hin und wieder einige weise Bemerkungen über équilibre, über ensemble fallen ließ – die, wenn man recht hinhörte, für gegenständliche wie für abstrakte Bilder galten –, für ihre Richtung ganz in Anspruch genommen. Dabei bemerkte Purrmann im vertraulichen Gespräch öfters, dass die bisher nie gesehenen Freiheiten der Handschrift, die Technik der eben aufkommenden Tachisten, denen er als Juror des Künstlerbundes begegnet war, ihn ungeheuer angeregt hätten – nun habe auch er mehr riskiert als je bisher. Daher die Kühnheit seines Ischia-Stiles. Barbara hörte mit offenem Munde zu; sie war noch nie Zeuge so rückhaltloser Gespräche unter Künstlern gewesen und war überrascht über die Schärfe, mit der ein gegnerischer Kritiker attackiert, die Malweise gewisser Kollegen mit sarkastischem Witz vernichtend getroffen wurde. Die Tische ringsum hatten sich mittlerweile geleert. Die kleine Generi-Misti-Handlung des Calabresen, aus der Wein, Fisch, Brot, Käse kam, war nur noch spärlich erleuchtet. Die Ladnerin erschien, legte den Kopf sanft in die Hand, schloss die Augen und begleitete diese Gebärde mit einem unüberhörbaren »dormire, dormire…« Über das Kopfsteinpflaster des leeren Hafenquais ging man unter schwankenden Lampen, deren Lichtschein bald das Wasser des Hafenbeckens erhellte, bald in tiefes Dunkel tauchte, auf den Albergo zu, an Pflanzen in grünen Kübeln vorbei, trat ins Haus und stieg die steinerne Treppe hinauf. Am Morgen ging der Blick über das frische Grün des Gartens zu den Schiffen, die sich im Hafenbecken spiegelten, bis zum Horizont des Meeres, über dem der früh noch hellblaue Himmel stand. Später erfuhren wir, dass Purrmann Purrmann malt auf Ischia 35 um diese Zeit schon sur le motif gewesen war und sich ausruhte. Um sechs Uhr oder noch früher stand er auf, packte Malgerät und Dreibein selbst auf, wenn kein barfüßiger Helfer zur Stelle war, und suchte sich seinen Platz. Da war ein Motiv mit Ölbäumen, den Hügel hinauf, mit den grauen Steinmauern, die die Gärten abgrenzen. Das zweite Motiv dieser Tage lag an der Hafenseite, an einem der Quaimauer parallelen Weg, den Baumschatten durchschnitten und der den Blick auf eine Häusergruppe freigab, das ein einstöckiges Gebäude beherrschte, dessen dreieckiger Giebel zum Hafen blickte. (Abb. 1) Diese Motive machten wir erst später ausfindig, als wir die angefangenen oder halbfertigen Bilder zu sehen bekamen. Dann allerdings war es leicht, den genauen Standort zu finden, 1 Hans Purrmann: Häuser am Hafen, Porto d’Ischia, 1957 (Kat. 105) 36 Erhard Göpel von dem aus Purrmann gemalt hatte. Die Eisenspitzen des dreibeinigen Sessels waren tief in den braunen Boden auf der rechten Straßenseite eingedrückt, bei jeder Sitzung von neuem, in möglichst großem Abstand von der Häusergruppe. Nie ist mir eine kunsthistorische Methode verlässlicher erschienen. Gegen Mittag, nach der Siesta, konnte man Purrmann im Leinenanzug an der Dampferanlegestelle und an den Bagni vorüber zu dem kleinen weißen Postamt gehen sehen; meist in Begleitung des blonden Mädchens; hier hatte er unter anderem auch die Mitteilung von der Verleihung des Ordens Pour le mérite erhalten, eine Nachricht, die ihn zu Tränen bewegte. Sie waren nicht sentimentaler Art. Er konnte sie begründen: »Wo ich schon so unter Depressio- nen leide, wo mir schon so ein Bild nie gut genug ist, bürdet man mir nun diese Verpflichtung auf, noch besser zu malen.« Auch habe er den leisen Verdacht, dass die Auszeichnung als Stellungnahme gegen die Abstrakten gemeint sein könne, er aber verabscheue diese Teilung, er kenne nur gute und schlechte Maler. Meist hatte er ebenso viele Briefe und Postkarten aufzugeben, als er empfing. Die Gespräche am Abend, die Quälerei vor den Bildern, die Gerüchte aus der Kunstwelt, die ihn mit merkwürdiger Schnelligkeit erreichten, fanden in dieser Korrespondenz ihren Niederschlag. Die Adressaten saßen in der Schweiz, in Florenz, in Rom, in Berlin, im Rheinland, die Reorganisation der Villa Romana wurde betrieben, der er so lange in kritischen Zeiten vorgestanden hatte, die Angelegenheiten des Künstlerbundes gefördert. Danach traf man Purrmann auf der Piazza, wo er seinen Stammplatz an einem Café-Tisch neben der Plakatsäule hatte. Die empfangenen Briefschaften wurden ausgebreitet, Bruchstücke der Korrespondenz vorgelesen, die Meinung der Begleitung erfragt. Purrmann ist ein Mensch, der die Diskussion nicht scheut, Rat einholt und schließlich doch tut, was allein er für richtig hält. Gleichzeitig entgeht seinen flinken Blicken nichts, was sich ringsum ereignet. Die Eselskarren, die eleganten Italienerinnen mit ihren Kavalieren, die outrierten Engländerinnen. Mancher Italiener tritt an seinen Tisch, mit dem er in einem PfälzischItalienisch ein paar Worte wechselt, immer freundlich, mit fast romanischer Höflichkeit. Dann geht er ein Stück die belebte Straße hinauf, macht bei seinem Freund de Angelis, der ein Friseurgeschäft betreibt, Halt und sieht, was dieser, der gleichzeitig ein Sonntagsmaler ist und seinen Ruhm Purrmann verdankt, Neues gemalt hat. Im Wohnzimmer in Montagnola hat Purrmann eine Reihe von Proben dieser Kunst hängen, in denen die Naivität noch nicht einer falschen Virtuosität gewichen ist. Auch die kleinen Antiquitätengeschäfte entlang der Straße sind nie vor ihm sicher. Purrmann nimmt, wenn er einen Samt befühlt, die ausgegrabenen Scherben eines Tonkruges betastet, mit den Fingerkuppen seiner langen schmalen Hände über die Glasur einer starkfarbigen sizilianischen Kachel des Settecento streicht, künstlerisch Nahrung zu sich. Lust, sinnliche Freude an der Materie erfüllt ihn; der Akt des Kaufens, das In-Besitz-Nehmen des gewählten Stückes schließt die Werbung ab. Dieses innige Verhältnis zur Materie kehrt sublimiert in seinen Bildern wieder. Sie sind auf feinfädige Leinwand gemalt. Er hat sie selbst grundiert, wobei ihm die vom Vater, der ,Tüncher‘ war, eingeprägten soliden handwerklichen Grundsätze zustatten kommen. Beim Malen benützt er das feinste Öl und Dachshaarpinsel, die jedem Druck der Finger folgen. Eine Oberfläche entsteht, die hier den Reiz der Improvisation, der Prima-Malerei hat, dort wie schimmerndes Email wirkt oder Funken sprüht wie die lüstrierte Glasur persischer Kacheln, die er mit gleicher Inbrunst wie Matisse liebt und sammelt. Kommt er die belebte Gasse wieder herunter, kauft er am Kiosk deutsche und italienische Zeitungen, die er in die Tasche stopft, Lektüre nach dem Essen. Italienisch liest er ebenso wie Französisch, fließend; den melodischen Klang der romanischen Sprache, die er im Ohr hat, genießt er noch beim Lesen. An heißen Sommertagen isst er mittags wenig, freut sich an einer Frucht, einem bel paese und einem Inselwein wie an einem frugalen Mahl. Manchmal, wenn ein Wiedersehen zu feiern ist, fährt er über Land zu einem wegen einer Spezialität bekannten Gasthof und erweist sich als exquisiter Gastgeber, der zu diesem Getränk, zu jenem Wein rät, auch aus einem Essen ein ensemble macht, es wie ein Bild ins Gleichgewicht bringt. Die Forderung von Baudelaire und Oscar Wilde, das Leben als Gesamtkunstwerk anzusehen, ist erfüllt, wenn man Purrmann zusieht, wenn er in den Genuss einer Auster, einer Artischocke, eines Fisches vertieft ist, als ob nichts anderes auf der Welt existierte. Toulouse-Lautrec muss so gegessen, so getrunken haben. Die Depressionszustände sind vergessen. Die Spannweite von äußerster Genuss- zu äußerster Leidensfähigkeit wird deutlich. Den Bildern sieht man das Leiden nicht an, es wird vom Glück des Gelingens überspielt. Die Hitze des frühen Nachmittags wird wie von den Italienern verschlafen; gegen vier, halb fünf, wird an produktiven Tagen die Palette wieder aufgesetzt. Palettenscheps wird nicht geduldet. Ein unabänderliches Handwerkergebot, vom Vater eingebläut, das Handwerkszeug nach jedem Arbeitsgang sauberzumachen. Zu dieser Stunde werden aber kaum entscheidende Veränderungen vorgenommen. Mit feinem Pinsel geht es hier eher um Belebung der Farbmaterie; die Malerei muss sensible sein. An anderen Tagen, etwa wenn der Scirocco lähmend in der Luft liegt, werden die Bilder diskutiert. Purrmann fordert dann die Kritik geradezu heraus. »Sagen Sie nur etwas, das regt mich an.« Zuerst traut man sich nicht. Dann aber sieht man, dass hier jede Kritik angenommen wird, nicht verletzt und auch den schöpferischen Prozess nicht tangiert. Denn Purrmanns Selbstkritik ist von einer so ätzen- Purrmann malt auf Ischia 37 den Schärfe, dass die der Vertrauten daneben harmlos ist. Am meisten gibt er auf die professionellen Bemerkungen der Kollegen, die mit Farbbezeichnungen arbeiten, Worte wie Cadmiumgelb, Krapplack, Chromoxydgrün fallen lassen, sich mit einer Geste verständlich machen. Barbara wird gefragt, sie ist zu Tode erschrocken, sagt endlich etwas von der grauen Mauer im Vordergrund, die ihr zu schwer wirke. Purrmann begreift sofort, ändert aber nichts an der Mauer, sondern übergeht den Himmel rechts oben und stellt so das équilibre her. Man lernt hier, wie Cézanne gemalt hat. Eine Unterzeichnung mit Blei oder Kreide gibt es in den wenigsten Fällen. Es wird sofort mit dünnen, aquarellhaft durchsichtigen Pinsellinien begonnen, vor der Natur. Die farbige Tonleiter, auf die später das ganze Bild gestimmt ist, klingt an. »Das Bild muss in jedem Zustand ein ensemble sein.« Purrmann zieht ein Bild hervor, das er am Morgen angelegt hat. Die Ölbäume hinter dem Haus. Die Äste züngeln über die Fläche. Es hat den Reiz eines Aquarells von Cézanne, das Weiß der Leinwand ist, von einigen Pinselstrichen berührt, schon organisierte Fläche, schon Bildraum. Alles ist noch möglich. Purrmann kennt das, lässt sich nicht täuschen. Ein Bild, sagt er, hat drei Stadien. Das erste, scheinbar gelungene. Das zweite, in dem es ein ,Chaos‘ ist. Das dritte Stadium erreichen nur wenige Bilder; es ist der wiedergewonnene erste Zustand, bewusst, geglückt. Wie die Lehren des Vaters bei der Behandlung des Werkzeuges nachwirken, klingen Faustregeln, die Matisse seinen Schülern gab – Purrmann war massier, Obmann des Matisse-Ateliers –, in diesem Sätzen nach. Chaos in Ordnung verwandeln gelingt nur unter schweren Depressionen, sie lassen ihn nachts nicht schlafen, oder er liegt nachmittags auf dem Bett, sieht auf das Bild, das an der Wand lehnt und betrachtet es. Wie um sich selbst zu geißeln, zitiert er einen Satz von Renoir: »Wer ein Bild drei Monate beiseite gestellt hat, und dann noch nicht weiß, wo der Fehler steckt, der soll das Malen lassen.« Es gibt unter den Bildern dieses Sommers wahre Sorgenkinder. Besonders eines, ein Gewitterhimmel über einem ansteigenden Hügel, aus dessen Grün Häuserkarrees gelb, rosa auftauchen. Vorn die graue Steinmauer. Das Bild ist an einem gewittrigen Nachmittag im Haus begonnen. Es fällt in sich zusammen. Das Motiv gibt es nicht so. Das Allheilmittel, Rückkehr vor das Motiv, vor die Natur, ist ausgeschlossen. Das Bild wird im Laufe der kommenden Wochen drei-, viermal neu gemalt. Erst in Montagnola, fern 38 Erhard Göpel von der Atmosphäre der Insel, gelingt es, in der Konzentration auf Farbe, Fläche, Linie das widerspenstige Bild zur Form zu zwingen, die Einheit herzustellen. »Man darf nicht dahinter greifen können«, heißt es von dem Himmel eines anderen Gemäldes, oder auch nur: »Dort ist ein Loch«. Gemeint ist, dass die durchgehende Spannung der Bildfläche an dieser Stelle unterbrochen ist. Matisse lief einmal einen ganzen Tag mit Marquet im Louvre herum, um solche ,Löcher‘ auf alten Bildern zu suchen. Existiert ein Motiv, fährt Purrmann nach der Meditation vor dem Bild vom Bett aus mit wenigen behutsamen Pinselstrichen über die Malerei hin und markiert kritische Stellen. Am nächsten Morgen geht er, lange bevor die Hitze über der Insel ausbricht, vor das Motiv und sucht die Spannung zwischen den notwendigen ,Verbesserungen‘, dem Zustand des Bildes und dem Chaos ,Natur‘. Oft sind viele Sitzungen nötig, wie die Spuren des Feldstuhles beweisen. Damals war Purrmann fünfundsiebzig Jahre alt. Es wurde mir klar, weshalb Cézannes unablässiger Ruf réaliser, réaliser mit ebenso vielen Flüchen identisch war. Das irrationale Element in der Natur und das irrationale Gesetz der Fläche zur Übereinstimmung zu bringen, verursacht dem Maler die gleiche Pein, wie die Unlösbarkeit der Quadratur des Kreises dem Mathematiker. Den weise gewordenen Maler, der das kleine Einmaleins von Bildaufbau und koloristischen Gesetzen in langen Jahren erlernt hat, interessiert dabei – wie Valéry – nicht mehr die erste, sondern die letzte Dezimale. Glück gehört zum Gelingen eines Bildes, um diese nicht mehr zu berechnende Dezimale zu treffen. In einem unbeobachteten Augenblick nehme ich das Duodez-Bändchen vom Nachttisch. Es sind Goethes Gedichte, von denen Purrmann viele auswendig kann. Er liebt Gedichte mehr als Romane. Wahrscheinlich, weil eine Strophe übersehbar wie die Fläche eines Bildes ist. Der Rhythmus entspricht der Handschrift des Malers, die Vokale den Farben, die Konsonanten der Zeichnung, der Inhalt dem ,Motiv‘, und der Glanz, das Ergreifen und Ergriffenwerden ist hier wie dort Glück. Die hohen, kühlen Zimmer, in denen unsere Diskussionen stattfanden, haben Tradition im Leben Purrmanns. Er hat beide Räume, deren Fenster zum Hafen gehen, gemietet, denn der mit Fliesen bedeckte Korridor dazwischen ist gerade bereit genug, um die Staffelei aufzustellen. Das Gangfenster gibt einen vorkomponierten Blick auf das Hafenbecken frei. Links greift die Landzunge um das Bassin und erhält ihren Akzent von dem schlanken Leuchtturm. Rechts lädt das Becken stärker aus, Schiffe und Segelkutter in wechselnder Größe und Zahl, nach alten Regeln starkfarbig gestrichen, liegen an der Ufermauer, deren Schwingung der grüngesäumte Hügelkamm wiederholt. Der weiße Würfel der Villa Dohrn, Besitz der Begründer des Aquariums in Neapel, eine Familie, mit der Purrmann seit langem befreundet ist, flankiert die Einfahrt. (Abb. 2) Das ,Motiv‘ hat Purrmann oft gemalt, schon Anfang der zwanziger Jahre, als er mit seinem nur wenig älteren Freund Konrad von Kardorff zum ersten Mal auf der Insel war. So wie er heute ein Bild vor der Natur wieder angeht, hat er auch nach Jahren sich immer wieder das schon bekannte Motiv vorgenommen. Denn das Einleben in eine neue Landschaft kostet einem Maler oft ein halbes Jahr, ein ganzes Jahr, und dem Stück Natur, das er einmal gemalt hat, ist etwas von dem Ungebändigten, Ungezähmten genommen, das Cézanne als den terrible effet de la nature fürchtete. Aus welchem Fenster der beiden langgestreckten Räume man auch blickte, die Ausschnitte kamen einem bekannt vor. Es waren lauter Purrmanns. Hier das Hochformat der linken Hafenseite, wo die Jachten und Segelboote lagen, auch das von Major Ternberg, deren Mastspitzen leise schwankten und jede Bewegung des Wassers an den Himmel schrieben, ähnlich wie im Hafen von Sanary, wo Purrmann 1930 nach langer Krankheit die Reihe der Bilder gemalt hat, auf denen die weißen Schiffsleiber schwingen. Das Fenster des rechten Raumes geht unmittelbar auf den immer von Menschen, Wagen und Tieren bevölkerten Quai. Die schräge Aufsicht erzeugt Tiefe, die als Bildraum gefasst werden muss. Da Purrmann nur bei den Bildern vom Gang her das rahmende Fenster als Repoussoir benutzt, in dem das Hafenbecken wie ein gefasstes Kleinod erscheint, den abstürzenden Blick auf den Quai sonst ohne Vordergrund gibt, birgt dieses Motiv die Gefahr, wie ein aufgeklapptes Bühnenbild zu wirken. Die anlaufenden Kutter, die Sand, Stein, Holz bringen oder laden, die breiten Schuten, aus deren offenen Luken kürbisgelb, tomatenrot, melonengrün die Früchte leuchten und die Jahreszeiten anzeigen, die gehissten dunkelbraunen, gelben Segel und ihre reizvoll unregelmäßigen Formen führen leicht dazu, das Bild zu überladen. Oft werden die Eindrücke erst, wenn sie schon auf der Leinwand stehen, geordnet, die koloristischen Akzente gesetzt und nur so viel Versatzstücke als unbedingt nötige belassen, um die gestaffelte Tiefe des Raumes zum Ausdruck zu bringen. 2 Hans Purrmann: Hafen von Porto d’Ischia, 1957, (Kat. 104) Purrmann hat immer wieder die Grenzzone aufgesucht, wo Erde und Wasser aneinanderstoßen. In der Landschaft Cézannes, an der Küste Südfrankreichs, hat er um 1910 seine Palette intensiv gemacht und ist nach Jahren wieder in jene Gegend zurückgekehrt. Später malte er an italienischen Küstenstrichen, in Sorrent, bei Rom, bei Fano, bei Lerici. Als er in Schwaben lebte, zog es ihn an die Ufer des Bodensees, wo das sanfte Blau die Folie zu dem frischen Grün der Obstbäume abgab. Auch an der Lage Montagnolas mag ihn gereizt haben, dass zwischen den rostbraunen Bergen die Flächen des Luganer Sees überraschend auftauchen. Inseln, auf denen das Meer überall im salzigen Hauch der Luft, der Bildung der Wolken gegenwärtig ist, hat er geliebt. In seiner Jugend blieb er einen Winter auf Korsika; dort hat er in einem ersten Elan eine eigenwillige, über Matisse und die Fauves hinausgehende Farbigkeit entwickelt. Im Alter ging er nach Ischia. In jedem Jahr auf Ischia kam er seiner Vision des ganz auf Farbe gestellten Bildes näher, ohne an Sinnlichkeit, an Fülle, die unmittelbar aus der Natur in die Bilder strömt, zu verlieren. Einmal kam er auf die Terrasse des Hauses, das wir oberhalb von Porto d’Ischia bewohnten. Die Weiträumigkeit der Sicht, der hochliegende Horizont, der Beckmann zu mächtigen Seebildern angeregt hätte, reizte ihn nicht. Er fasste in kleinem Format den Blick auf das Hafenbecken und auf die dahinter ansteigenden grünen Höhen. Er malte einen ganzen Nachmittag mit schnellen Blicken auf die Landschaft und mit langen Blicken auf die Leinwand. Malgerät und das angefangene Bild ließ er da. Schlechten Gewissens Purrmann malt auf Ischia 39 64 Bildteil 65 96 Bildteil 97 190 Bildteil 191
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