Universiteit van Amsterdam Faculteit der Geesteswetenschappen Duitse taal- en letterkunde Sommersemester 2015 Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Ansatz einer modernen Sprachwissenschaft? Eine sprachhistorische Untersuchung des Paradigmenwechsels im 18. Jahrhundert Masterarbeit zur Erlangung des Grades Master of Arts Erstgutachter: Dr. Ansgar Mohnkern Zweitgutachter: Dr. Nina Bartsch Abgabe: 01. Juni 2015 Verfasserin: Nora Schönfelder Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................... 2 2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft ........................... 7 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert ....................... 10 3.1 3.2 4 Condillac: Die sensualistische Sprachphilosophie ....................................12 Süßmilch: Die theologische Sprachphilosophie........................................15 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung ........ 19 4.1 Herders Kritik............................................................................................20 4.2 Herders Sprachursprungstheorie ...............................................................24 4.2.1 Historizität von Sprache .....................................................................27 4.2.2 Sprache als menschliches Merkmal ...................................................30 4.2.3 Theologische Aspekte ........................................................................32 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert ................................... 37 5.1 5.2 6 Die Krise ...................................................................................................40 Die wissenschaftliche Revolution .............................................................41 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert ......................... 46 6.1 6.2 Jacob Grimm: Über den Ursprung der Sprache ........................................46 Ansätze Herders als Ursprung der modernen Sprachwissenschaft? .........50 7 Fazit ...................................................................................................... 55 8 Literaturverzeichnis ............................................................................ 61 9 Anhang ................................................................................................. 63 1 Einleitung 1 2 Einleitung Das Interesse an Sprache in ihrer Entwicklung, Struktur sowie in ihrem Wirken ist ein genuin menschliches und reizt die Aufmerksamkeit jeglicher wissenschaftlicher Disziplin. Abhängig vom wissenschaftlichen Zeitgeist sowie der Disziplin selbst variieren die Forschungsfelder stark. Konstituiert sich beispielsweise mittlerweile ein ganzes Forschungsfeld wie das der Genderforschung um den Bereich Sprache, Identität und Geschlecht, gilt das Interesse der deutschen sprachphilosophischen Forschung im 18. Jahrhundert vornehmlich dem Ursprung der Sprache. Eine Diversität von neuen sprachwissenschaftlichen Ansätzen keimt auf, die den Ursprung der menschlichen Sprache zu erklären suchen und, um mit Kant zu sprechen, eine kopernikanische Wende einläuten. Die Epoche der Aufklärung als Zeit des Umbruchs sowie der Paradigmenwechsel steht stereotyp für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Ansätze, die wiederum auf traditionelle Denk- und Argumentationsstrukturen treffen. Die Vielfalt der hier aufkeimenden sprachursprungstheoretischen Ansätze kann wohl im Zeitgeist der Säkularisierung seine Begründung finden. Auch Johann Gottfried Herder gehört zu jenen Sprachphilosophen, die den Diskurs um den Sprachursprung vorantreiben. Seine These, die er 1771 in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache darlegt, besagt, dass die Sprache des Menschen nicht durch eine göttliche Instanz gegeben sei, sondern durch den Menschen selbst erfunden worden ist. Sie tritt wohl bis heute als prägnanteste und meistzitierte aus dieser Zeit hervor und wird als Wegbereiter für die Entwicklung anthropologisch ausgerichteter Theorien gewertet, die den Menschen selbst im Mittelpunkt von Entwicklungsprozessen sehen. Die Abkehr von theologisch begründeten Argumentationsstrukturen ändert gleichzeitig die Richtung der Argumentation: Alle entwickelten Gedankengänge entstehen mit der Referenz auf den Menschen selbst. In ihm reifen Denkprozesse heran – unabhängig von einer göttlichen Instanz. Doch auch andere Sprachursprungstheorien finden ihren Weg in den Diskurs. So entwickeln beispielsweise Johann Peter Süßmilch oder Etienne Bonnot de Condillac, die in Herders eigener Schrift maßgeblich als Kontra- 1 Einleitung 3 henten ins Feld geführt werden, weitere Thesen des Sprachursprungs. Während Süßmilch die Theorie eines göttlichen Sprachursprungs nahelegt, arbeitet Etienne Bonnot de Condillac basierend auf John Lockes Theorie einen sensualistischen sprachtheoretischen Ansatz heraus. Die Diversität der Beantwortung der Sprachursprungsfrage deutet auf eine Zeit des Umbruchs hin, die auch in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine besondere Rolle übernimmt. Das 18. Jahrhundert wird in der Rezeptionsgeschichte häufig mit positiven Konnotationen bewertet: Es tritt als ‚aufklärerisch’ und ‚fortschrittlich’ aus dem Schatten der Tradition hervor. Eine ähnliche Rezeption erfährt auch die Abhandlung Herders, die bis heute fast als Synonym des ‚revolutionären’, von Gott losgelösten Sprachursprungs gelesen wird. Hier werden zweierlei Probleme der Rezeption Herders deutlich, die aufeinander aufbauen: Herders Abhandlung wird in ihrer Rezeptionsgeschichte selten in Bezug zu anderen Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts gelesen, wodurch eine einseitige, verzerrende Darstellung der Herder’schen Schrift und ihrer Auswirkungen entsteht. Daraus wiederum resultierend tendiert die Forschung dazu, Herders Theorie auf einen einzigen Standpunkt zu reduzieren: auf die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs. Cordula Neis verweist in ihrer Arbeit Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts (2003) auf die idealisierte Rezeptionsgeschichte der Herder’schen Abhandlung. Herder werde bis in die heutige Sprachwissenschaft hinein als ‚Revolutionär’ der Sprachursprungsfrage verhandelt, wodurch andere Sprachursprungstheorien ins Hintertreffen geraten. Es scheint, als löse die Rezeptionsgeschichte Herder fast gänzlich aus seinem Zeitgeschehen heraus, um seine Theorie zu untersuchen. Durch die fehlende Kontextualisierung Herders rückt nicht in den Fokus, dass die gesamte Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts im Wandel begriffen ist. Die Frage, die sich für die vorliegende Arbeit auftut, ist, ob neben der Ablehnung eines theologisch motivierten Sprachursprungs weitere ‚moderne’ sprachphilosophische Ansätze in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache auszumachen sind, die Auswirkungen auf die spätere Sprachwissenschaft haben. Um dieser Frage nachzugehen legt die Arbeit die Annahme eines Paradigmenwechsels der Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts nach Thomas 1 Einleitung 4 S. Kuhn zugrunde. Kuhn zeigt auf, dass sich Wissenschaftsgeschichte nicht kumulativ, sondern aufgrund von wissenschaftlichen Revolutionen verändert, die unter anderem durch gesellschaftliche Umbrüche gekennzeichnet sind. Die vorliegende Untersuchung nimmt an, dass die (Sprach-) Wissenschaft der Epoche der Aufklärung durch die Säkularisierungsprozesse einer solchen Krise unterworfen ist, da die bewährten Erklärungsmodelle, die eine göttliche Instanz zugrunde legen, nicht weiter greifen. Bisher hat sich noch kein uns bekannter Sprachwissenschaftler der Herder’schen Abhandlung unter Berücksichtigung eines Paradigmenwechsels genähert. Lediglich Edmund Braun (1996) bindet Herder in den Kontext eines größeren Paradigmenwechsels mit ein, indem er einen generellen Überblick über die Paradigmenwechsel der Sprachphilosophie über mehrere Jahrhunderte hinweg aufzuzeigen versucht. Die ausführliche Untersuchung Herders in einem sprachphilosophischen Paradigmenwechsel steht bei der genannten Arbeit allerdings nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Für die vorliegende Arbeit sollen angesichts der fast gänzlich ausbleibenden Einordnung Herders in einen Paradigmenwechsel der Sprachwissenschaft sowie die häufig fehlende kritische Einordnung in den wissenschaftlichen Zeitgeist vornehmlich die Primärtexte für sich selbst sprechen. Cordula Neis wird uns mit ihrer rezeptionsgeschichtlichen Mahnung durch die Arbeit begleiten. Auch werden Astrid Gesches (1993) Gedanken zur Anthropologie innerhalb Herders Sprachursprungstheorie immer wieder durchschimmern. Doch der Hauptteil der Untersuchung erfolgt durch ein deskriptiv-analytisches Verfahren, das den distanzierten Blick wahren soll. Dabei gliedert sich die Untersuchung in insgesamt vier große Kapitel, denn ein etwaiger Paradigmenwechsel kann nur dann beschrieben werden, wenn Herder selbst im eigenen Zeitgeschehen kontextualisiert wird. Dazu werden zu Beginn die zwei größten Kontrahenten Herders ins Feld geführt: Etienne Bonnot de Condillac und Johann Peter Süßmilch. Es folgt eine theoretische Analyse der Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die maßgeblich die Kritik Herders an Condillac und Süßmilch in den Blick nimmt, um anschließend seine eigene Sprachursprungstheorie herauszuarbeiten. In den Fokus treten für die weitere Analyse eines Paradigmenwechsels die Aspekte der Historizität von Sprache, Sprache als 1 Einleitung 5 menschliches Merkmal und die theologischen Elemente der Herder’schen Abhandlung. Das Verständnis von Historizität und Geschichtlichkeit, das heißt Herders eigenes Verständnis von Sprachgeschichte, sind dabei von besonderem Interesse. Mit der Veränderung des Historizitätsbegriffs der Sprache verändert sich auch die Wahrnehmung menschlicher Entwicklungsprozesse und somit auch das Bild des menschlichen Daseins selbst. Als konzeptionelle Grundlage der Untersuchung wird dann Thomas S. Kuhns Theorie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) herangezogen. Anhand des von ihm geprägten Begriffs des Paradigmenwechsels soll die Entstehung moderner wissenschaftlicher Ansätze im Zeitgeist der traditionellen Erklärungsmuster untersucht werden. Es erscheint sinnvoll, in diesem Kontext kurz auf die Dichotomie von Tradition und Moderne als stereotypes Begriffspaar des 18. Jahrhunderts einzugehen und dieses kritisch zu beleuchten. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sprachwissenschaft wird außerdem skizzenhaft Bezug auf das sich ausprägende Geschichtsverständnis des 18. Jahrhunderts genommen. Im letzten Schritt werden Herders Argumente, die auf einen Paradigmenwechsel hindeuten, in den Kontext der modernen Sprachwissenschaft gesetzt. Als Referenz hierzu wird Jacob Grimms Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften Über den Ursprung der Sprache (1852) angeführt. Grimm bezieht sich innerhalb des Vortrags explizit auf Johann Gottfried Herders Abhandlung und verhandelt dabei die wichtigsten Kernpunkte im Kontext seiner Zeit. Hinzu tritt Grimms Reflexion über die Entwicklung der Sprachwissenschaft von der Mitte des 18. bis hin zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die hohe Reflexionsebene, die Herders Arbeit im Kontext seiner Zeit betrachtet und seine Ergebnisse als richtig, die Beweise jedoch aufgrund der fehlenden Forschungsergebnisse als nicht weiter haltbar darlegt, dient als Grundlage, um Grimms Vortrag hier als Referenztext anzuführen. Die Arbeit entpuppt sich letztlich in zweierlei Aspekten als notwendig für die historische Sprachwissenschaft: Zum einen verweist sie auf einen blinden Fleck innerhalb der Rezeptionsgeschichte Herders, den es für die zukünftige Forschung zu bearbeiten gilt: Die Forschung zu Herders Schriften 1 Einleitung 6 ist durch ihre außerordentlich positive Rezeption gehemmt in ihrem kritischen Blick. Zum anderen offenbart sie, dass in der Geschichte der Sprachwissenschaft der Aspekt aufkeimender, moderner sprachwissenschaftlicher Elemente im 18. Jahrhundert – speziell mit dem Fokus auf Johann Gottfried Herder – noch nicht ausreichend beleuchtet und untersucht worden ist. Ihr Ziel besteht folglich darin, die existierende Lücke in der Geschichte der Sprachwissenschaft teilweise zu ergänzen und Johann Gottfried Herders Sprachursprungstheorie im Kontext einer beginnenden modernen Sprachwissenschaft würdigend einzuordnen. 2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 2 7 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft Die vorliegende Arbeit verhandelt Herder im Kontext der Terminus einer ‚modernen Sprachwissenschaft’. Bevor dazu in die Analyse der Primärtexte eingestiegen wird, soll dieses Kapitel eine kurze Erläuterung dazu bieten, was in unserem Verständnis den zugrundeliegenden Begriff der ‚modernen Sprachwissenschaft’ kennzeichnet. Die Linguistik verwendet den Ausdruck der Moderne im eigentlichen Sinne als Epochenschwelle von der diachronen hin zur synchronen Sprachwissenschaft, deren Ursprünge in den Arbeiten Ferdinand de Saussures liegen. In Abgrenzung zur Moderne als Epochenbegriff wird in der anschließenden Untersuchung die Moderne in ihrer Ursprünglichkeit des Wortes begriffen: Moderne als Gegensatz zur bewahrenden Tradition; Moderne als Neubeginn losgelöst vom bisher Bestehenden.1 In ihrer Tradition gehört die Sprachwissenschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein als Teilgebiet der Philosophie an: Sie heißt deswegen auch Sprachphilosophie. Durch die Jahrtausende hinweg zeichnet sich immer ein sprachliches Interesse der Philosophen ab: Während der ersten Ergründung der Grammatik von Sprache vor mehr als 2000 Jahren offenbart sich nach und nach auch eine Begeisterung für die Etymologie von Wörtern, um anhand dieser den Ursprung der Wörter aufzuspüren. (vgl. Lyon 1975: 4ff.) Die Idee, Einzelwörter und Sprache in ihren Verweisen auf den Ursprung zu erforschen, scheint eine lange Tradition innerhalb der Philosophie zu haben, in der auch die Sprachphilosophen des 18. Jahrhunderts, wenn auch mit anderen Vorzeichen, stehen. Die Sprachphilosophen der Aufklärung befinden sich, so die These, gerade im Aufbruch eines neuen und eigenständigen Verständnisses von Sprachwissenschaft. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gründen sich dann die Ursprüngen der „wissenschaftlichen Linguistik des Abendlandes“, wie Lyons sie nennt (ebd.: 23). Der Beginn der wissenschaftlichen Linguistik wird für die vorliegende Arbeit ent1 Die Diversität der Definition des Begriffs ‚Moderne’, die beispielsweise anhand des Historischen Wörterbuchs der Philosophie nachvollzogen werden kann, veranlasst zu dem Schluss, eine eigene Definition von ‚Moderne’ liefern zu müssen, um das Bestreben der Arbeit verständlich zu machen. Für zeitgeschichtliche Definitionen von ‚Moderne’ vgl. auch Historisches Wörterbuch der Philosophie. 2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 8 scheidend sein und zurückgekoppelt an den Begriff der ‚modernen Sprachwissenschaft’. Die Ursachen der Annahme, dass genau im 19. Jahrhundert der Beginn der Linguistik zu finden ist, liegen grundsätzlich in der Verbreitung evolutionärer Theorien und naturwissenschaftlicher Entdeckungen begründet. Das Verständnis der Evolutionstheorie fordert ein Bewusstsein für eine prozesshafte Entwicklung von Organismen. Es folgt eine Übertragung der Evolutionstheorie auf weitere wissenschaftliche Disziplinen außerhalb der Biologie. So übernehmen auch die Soziologie und, wie wir im weiteren Verlauf auch als Einflüsse wahrnehmen können, die Sprachforschung die Idee der Evolution als Paradigma, um Sprache nicht weiter apriorisch, sondern aus einem langen Entwicklungsprozess entstanden zu erklären. Man beobachtete, daß alle menschlichen Einrichtungen – Gesetze, Bräuche, religiöse Übungen, wirtschaftliche und soziale Gruppen und Sprachen – einem unaufhörlichen Wandel unterlagen, und man begnügte sich nicht mehr damit, ihren Stand in einem bestimmten Augenblick mithilfe abstrakter Prinzipien zu erklären; vielmehr bemühte man sich, einen bestimmten Zustand im Zusammenhang mit seiner Entwicklung aus einem früheren Zustand aufgrund von Anpassung an veränderte äußere Gegebenheiten zu sehen. Die ‚providenzielle’ Geschichtstheorie aus christlicher Tradition war immer mehr infrage gestellt worden und wurde schließlich durch die evolutionären und säkularen Theorien menschlicher Entwicklung ersetzt. (ebd: 23f.) Wie in einem Zirkel bedingen sich Säkularisierungsprozesse und naturwissenschaftliche Erkenntnisse gegenseitig und führen auch zu methodologischen Entwicklungen im Gros der Wissenschaften. In eben diesem 19. Jahrhundert verortet auch Jacob Grimm das erste Mal die Entstehung der Sprachwissenschaft. In seiner Rede vor der Berliner Akademie Über den Ursprung der Sprache sagt er: „Alle sprachstudien finden sich nun heutzutage ungleich vorteilhafter gestellt und ausgerüstet, als zu jener zeit, ja sie sind, kann man sagen, erst in unserem jahrhundert zur wahren wissenschaft gediehen“ (Grimm 1852: 6). Hier findet eine Reflexion und Verortung der eigenen Wissenschaft statt, die mit einem vorangeschrittenen historischen Verständnis einhergeht. Grimm verweist dabei auf einen Entwicklungsprozess der Sprachwissenschaft der letzten hundert Jahre, der scheinbar auch mit der Weiterentwicklung von wissenschaftlichen Grundlagen verbunden ist. Für die vorliegende Arbeit ist von besonderem Interesse, die Funktion von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache für den Entwicklungsprozess zu einer wissenschaftlichen Linguistik hin herauszuarbeiten. 2 Vorbemerkung zur modernen Sprachwissenschaft 9 Dazu soll nach der Vorstellung ausgewählter Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts zuerst der Frage nachgegangen werden, in welchem sprachphilosophischen Kontext sich Johann Gottfried Herders moderner Ansatz zum Ursprung der Sprache positioniert. Und wie sich dieser dann in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft situiert. 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 3 10 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert Das vorangehende Kapitel dient als fokussierter Überblick über die Theorien der Herder’schen Antagonisten Condillac und Süßmilch, um Herders Abhandlung einen ausgewählten historischen Rahmen zu ermöglichen. Das 18. Jahrhundert bildet bekanntermaßen einen Punkt in der Geschichte, an dem sich im Zuge von Säkularisierungsprozessen langsam wissenschaftliche Theorien aus dem Umfeld des kirchlichen Einflusses rausschälen und autark werden. Diese Entwicklung trifft auch auf die Sprachphilosophie zu, in deren Abhandlungen und Traktaten jener Zeit deutlich zu erkennen ist, wie sehr die Wissenschaft zerrissen ist zwischen dem erklärbaren, visuell sichtbaren Jetzt und der Unerklärbarkeit des Ursprungs. Der Ursprung als für den Menschen ungreif- und unerfahrbarer Moment wird zum mystifizierten Faszinationsmoment der Sprachursprungsdiskurses. In diesem zeitlichen Rahmen ist die Entstehung der Sprachursprungsfrage zu verorten, in dem unterschiedlichste wissenschaftliche Disziplinen eine Vielzahl von Theorien, wie der Mensch zur Sprache gekommen sein könnte, entwickeln. Ist der eine Teil der Sprachphilosophie, wie beispielsweise bei Johann Peter Süßmilch zu erkennen, noch von dem Gedanken eines göttlichen Sprachursprungs, der in so mancher Sprachursprungstheorie durch die Genesis bewiesen wird, geprägt, beginnt der andere Teil der Sprachphilosophen Beweise für einen natürlichen, menschlichen Sprachursprung darzulegen. Den Sprachursprung mit dem biblischen Genesistext zu begründen, gehört bereits zu einer abendländischen Tradition, die bis ins Mittelalter hineinreicht. Die zentrale Stelle der theologischen Argumentation des Sprachursprungs liegt in der Passage des Schöpfungsberichtes, in der Adam die Tiere mit Namen benennt. Adam spricht hier, nachdem er lange Zeit stumm gewesen ist, das erste Wort in der Gesellschaft Evas und der Tiere. Wie Adam jedoch die Sprache erlernt, das heißt, ob er von Gott die Sprache oder eine Sprachfähigkeit zugeteilt bekommen habe, findet keine Erwähnung. (vgl. Neis 2003: 14f.) Die zweite wichtige Passage für eine Argumentation des göttlichen Sprachursprungs ist die vom Turmbau zu Babel und der 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 11 Sprachverwirrung. Hatten die Menschen einst eine gemeinsame Sprache, verwirrte Gott sie zur Strafe, als die Menschen sich durch den Turmbau bis zum Himmel hinaufschwingen wollten. Durch die Sprachverwirrung entstanden unzählige Sprachen sodass die Verständigung der Menschen untereinander nicht weiter möglich war und auch der Turmbau aufgrund fehlender Kommunikationsmöglichkeit abrupt endete. Aus dieser Passage resultiert die bis ins 18. Jahrhundert hinein gefestigte Annahme, dass der Ursprung der Sprache in einer gemeinsamen Ursprache liegt.2 (vgl. ebd.: 15) An dieser These halten viele Theorien auch nach der Ablösung vom göttlichen Sprachursprung weiterhin fest. (vgl. dazu Kap. 4) Andere Sprachphilosophen bemühen sich um den Beweis eines rein menschlichen Sprachursprungs. Dieser Versuch kann ungewollt allerdings auch politische Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So wird beispielsweise Etienne Bonnot de Condillac angeführt als der „schuldigste aller modernen Verschwörer“ (Ricken 1988: 288), da er den Sprachursprung einzig im Menschen zu finden sucht und nicht in einer göttlichen Instanz. Dies verleitet einige Kritiker seiner Zeit in ihm einen Mittäter der Französischen Revolution zu sehen, weil seine Erklärung des menschlichen Sprachursprungs den natürlichen Gesellschaftszustand als Ausdruck göttlichen Willens in Frage gestellt und damit die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft vorbereitet hatte. (ebd.: 306) Der wissenschaftliche Zeitgeist befindet sich also nicht nur in einem Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche, sondern auch in einem politischen Widerstreit. Die ungeheure Vielfalt an Sprachursprungstheorien ist jedoch durch solcherlei Spannungen nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Sie scheint gerade dadurch noch ermutigt zu werden. Im Folgenden sollen nun die Sprachursprungstheorien Etienne Bonnot de Condillacs und Johann Peter Süßmilchs als zwei Vertreter gänzlich gegensätzlicher Strömungen angeführt werden. 2 Neis verweist an dieser Stelle darauf, dass die Erzählung von der Völkertafel, die auch die Diversität von Sprachen thematisiert und vor der Sprachverwirrung in Babel geschah, in der Rezeption vollkommen vernachlässigt wird. Durch diese Passage müsste die „Episode von Babylon im Hinblick auf Diversifizierung der Einzelsprachen als obsolet erscheinen“ (Neis 2003: 16). 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 3.1 12 Condillac: Die sensualistische Sprachphilosophie Bereits zu Beginn der Arbeit wurden kurz die Beweggründe skizziert, warum Condillac als Referenz in die folgende Untersuchung eingehen wird: Herder selbst bezieht ihn explizit in seine Kritik mit ein. Dem geht voran, dass Etienne Bonnot de Condillac im 18. Jahrhundert aufgrund seines Essai sur l’origine des connaissances humaines Bekanntheit erlangt, in dem er die sensualistische Theorie John Lockes kritisch weiterentwickelt. Er genießt außerdem in der Berliner Akademie den Status des ‚auswärtigen Mitgliedes’, zu dem er vom Vorstand der Akademie, Pierre-Louis Moerau de Maupertuis, ernannt wird. So erstaunt es auch nicht, dass Condillacs sensualistische Sprachphilosophie ebenfalls Johann Gottfried Herder, der bestens mit der Berliner Akademie bekannt ist, ein Begriff ist und er ihr gegenüber in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache Stellung bezieht. (vgl. Neis 2003: 74) Um Herders Positionierung gegenüber Condillacs Sprachursprungstheorie verständlich darlegen zu können, folgt nun eine Skizzierung der sensualistischen Sprachursprungstheorie Condillacs. Während Herder einen genuin menschlichen Sprachursprung fokussiert und diesen innerhalb seiner Abhandlung zu beweisen sucht, schwingt in Condillacs Essay das philosophische Ergründen der menschlichen Erkenntnis mit, wie der Titel Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (2006) bereits nahelegt. Dabei verfolgt Condillac, im Gegensatz zu Herder, nicht das Herausstellen der Dichotomie zwischen Mensch und Tier, vielmehr sucht er allein aus dem Menschen heraus den Sprachursprung zu ergründen. Bezüge zur Sprache der Tiere bemüht Condillac in seiner Argumentationsreihe nicht, denn im Vordergrund seiner Überlegungen steht die Entwicklung der menschlichen Sprache.3 Dies wird ihm innerhalb Herders Abhandlung noch harsche Kritik einhandeln. Condillacs Grundgedanke fußt auf der Idee, dass die Erkenntnis nur auf dem Fundament von Sinneseindrücken entstehen kann. Demnach nimmt der Mensch bereits in den ersten Augenblicken seiner Existenz die ihn umgebende Umwelt wahr. Im Prozess der Wahrnehmung dringt die Umwelt an3 Herder und Condillac vertreten gänzlich unterschiedliche Auffassungen von menschlicher und tierischer Sprache. Während Herder den Tieren die Fähigkeit zur Sprache, wie der Mensch sie besitzt, abspricht, gesteht Condillac ihnen sowohl eine Seele als auch eine Art Denkvermögen und Sprachfähigkeit zu. 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 13 hand von Sinneseindrücken auf den Menschen ein, die dann im zweiten Schritt verarbeitet werden. Die ursprünglichen Eindrücke werden zu Ideen und Vorstellungen. Doch Vorstellungen existieren nicht separiert voneinander, sondern sie werden anhand der Reflexion untereinander verknüpft und in Beziehung zueinander gesetzt. In diese Überlegung fließt letztlich auch die Funktion des sprachlichen Zeichens ein: Das sprachliche Zeichen, so der Kern der Überlegung, ist notwendig, um Sinneseindrücke festzuhalten, zu kombinieren und über das Wahrgenommene zu reflektieren. Nur aus diesem Prozess heraus kann der Mensch zur Erkenntnis gelangen. (vgl. Condillac 2006: 65f.) Eine Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Erkenntnis fordert dementsprechend auch eine eingehende Beschäftigung mit dem Ursprung der Sprache. Denn erst wenn Condillac ihre Anfänge ergründet, können sich seine bisherigen Überlegungen zur Erkenntnis verdichten. In seiner Annäherung an die Sprachursprungsfrage entwirft Condillac ein gedankliches Szenario einer vorsprachlichen Welt: Die Rolle der Protagonisten seiner Überlegung wird durch zwei Kinder unterschiedlichen Geschlechts übernommen, die sich nach der Sintflut in der Wüste verlaufen haben. Markant an dieser Stelle, die Bemerkung sei erlaubt, ist, dass Condillac absichtlich nicht das bereits durch die Genesis vorgegebene Bild von Adam und Eva für seine Beweisführung anführt, sondern bewusst zu einem Zeitpunkt nach der Sintflut einsetzt. Adam und Eva, so seine Begründung, die erst in seinem Verweis auf Warburton deutlich wird, haben ihre Sprache durch Gott erfahren, da er sie auch die Religion lehrte. Condillac stellt die These auf, dass diese Sprache nicht über die Grundbedürfnisse hinausgeht. Seinen philosophischen Ansprüchen, wie er selbst formuliert, genüge es nicht, sich mit der Vorstellung zufrieden zu geben, dass Sprache auf einem außergewöhnlichen Wege entstanden sei. (vgl. ebd.: 173, Fußnote 51) Die Kinder, die sich nach der Sintflut in der Wüste verlaufen haben, sind, so Condillacs Überlegungen, räumlich voneinander getrennt und ihnen sind keine Vorkenntnisse über sprachliche Zeichen eigen. (vgl. ebd.: 173) Aus dem Aspekt der räumlichen Trennung resultiert für Condillac, dass die Kinder zwar Wahrnehmung und Bewusstsein ausbilden, jedoch noch keine Sprache. Sprache realisiert sich erst in Verständigungsversuchen und wird 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 14 dementsprechend frühestens sichtbar, wenn die Kinder nicht mehr räumlich voneinander getrennt sind. Treffen sie dann aufeinander, sind ihre Handlungen anfangs noch instinkthaft und bedürfnisorientiert geleitet. Doch ihr Mitteilungsbedürfnis gepaart mit Gestik und ersten Lautäußerungen führt zu ersten Verknüpfungen von Handlungen und Zeichen. Allerdings sind die Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur (Selbst-)Reflexion fähig. (vgl. ebd.: 174f.) Erst mit der Zeit entwickelt sich eine Verstandeskraft, die nach und nach in der Lage ist, Zeichen und damit zugleich die sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern. Es entsteht eine erste Gebärdensprache, die sich in überschwänglichem Einsatz von Gestik und Mimik manifestiert. (vgl. ebd.: 176) Erste Zeichen beziehen sich bald auf Dinge, die bestimmte Emotionen hervorrufen. So ist es wahrscheinlich, dass gerade gefährliche Tiere eher in die Gebärdensprache aufgenommen werden, als Objekte der alltäglich umgebenden Welt. (vgl. ebd.: 216) Die Menschen beginnen zur Unterstützung der Gebärdensprache auch Laute, Condillac bezeichnet sie selbst gleichermaßen als Schreie, einzusetzen. Diese Sprache nennt er auch langage d’action. Die Lautsprache prägt sich zunehmend aus und setzt sich gegen die Gebärdensprache durch. (vgl. ebd.) In ihrer Entwicklung schreitet sie einen ähnlichen Weg wie die Gebärdensprache ab. So werden zuerst Namen von Tieren, Flüssen und Wettergegebenheiten erzeugt, da diese durch Nachahmung der ihnen eigenen Laute am einfachsten widerzugeben sind. (vgl. ebd.: 181) Die weitere Genese der Sprache – gerade im Hinblick auf ihre Diversität – ist unter anderem auch durch klimatische Bedingungen beeinflusst. Interessant scheint an dieser Stelle der Aspekt, dass auch hier, in einer einheitlichen Linie der Argumentation, die Sinneswahrnehmungen eine wichtige Rolle spielen: Nicht in jeder Sprache entfernt sich die Prosodie gleichermaßen vom Gesang: sie sucht mehr oder weniger die Akzente, verwendet sie sogar im Überfluß oder vermeidet sie vollkommen, weil die Verschiedenheit des Temperamentes es den Völkern unterschiedlicher Klimazonen nicht erlaubt, auf gleiche Weise zu empfinden. Deshalb erfordern die Sprachen je nach ihrem Charakter eine unterschiedliche Art der Deklamation und der Musik. So sagt man zum Beispiel, daß der Tonfall, mit dem die Engländer ihren Zorn ausdrücken, in Italien nur Erstaunen zum Ausdruck bringt. (ebd.: 207) Je nach klimatischer Umgebung, das heißt auch je nach Lebensraum des Volkes, prägt sich die sinnliche Wahrnehmung anders aus. Die Entwicklung 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 15 der Sprache geht unmittelbar einher mit der räumlichen Umgebung. Dadurch entsteht nicht nur eine Vielfalt von Sprachen, sondern ebenso eine Vielfalt von Wegen der Erkenntnis. Condillac bringt hiermit ein grundsätzliches Verständnis von Erkenntnisprozessen zum Ausdruck: Erkenntnis resultiert aus Wahrnehmung. Durch die Übersetzung der Wahrnehmung in die eigene Sprache können abhängig von der räumlichen Dimension die Erkenntnisse voneinander variieren. Condillac deutet an dieser Stelle auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Sprache und Denken in Abhängigkeit vom Lebensraum hin und verweist damit auf eine wichtige Komponente der Sprachursprungstheorie. 3.2 Süßmilch: Die theologische Sprachphilosophie Auch Johann Peter Süßmilch setzt sich mit der Frage nach dem Sprachursprung auseinander. Anders als Condillac wählt er einen theologisch motivierten Ansatz seiner Überlegungen: Er geht von der These aus, dass die Sprache dem Menschen von Gott gegeben sei. Dieses Diktum gilt es für ihn in seiner Abhandlung zu beweisen. Seine Argumentation geht bereits, wie der Titel Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe (1766) nahelegt, von dem Schluss aus, dass die Sprache allein durch Gott gegeben sein kann. Die Sprache, so Süßmilch, ist „das einzige Mittel [...], zum Gebrauch der Vernunft zu gelangen [...]“ (Süßmilch 1766: 3v). Sie dient also dazu, die Vernunft gebrauchen zu können. Damit ist sie Ursache für die Vernunft, die wiederum Wirkung der Sprache ist. Wenn also Vernunft erst durch Sprache entstehen kann, kann kein Mensch die Sprache erfunden haben, denn dafür hätte er bereits Vernunft besitzen müssen. Dem hier auftretenden Zirkelschluss kann Süßmilch einzig durch die Argumentation einer höheren Macht, in diesem Falle in der Annahme eines Gottes, entgehen. Süßmilch ist die Problematik des Zirkelschlusses durchaus bewusst und so versucht er, aus verschiedenen Perspektiven an die Frage nach dem Sprachursprung heranzutreten. 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 16 Auch er stellt sich, wie die meisten Sprachphilosophen, die sich mit der Sprachursprungsfrage auseinandersetzen, der gedanklichen Herausforderung einer Welt, in deren Ursprung der Mensch keine Sprache besitzt. Süßmilch reiht sich jedoch nicht in die Methodik der theologisch begründeten Sprachursprungsschriften ein, die den göttlichen Sprachursprung auf Grundlage des Genesistextes zu erklären suchen. Im Gegenteil, er postuliert bewusst, sich der Frage aus philosophischer Perspektive zu nähern. Süßmilch schlussfolgert letztlich aus seinen Überlegungen, dass der sprachlose Mensch der tierischen Existenz nahestehe. Vermutet man also einen natürlichen Ursprung der Sprache und keinen gottgegebenen, so führt dies unweigerlich dazu, dass der Mensch sich aus seinen Instinkten heraus die Sprache erfunden haben muss. Dann wiederum würde sich die Sprache allerdings nicht weiter von den ebenso instinktgeleiteten Tieren abheben und beide Sprachen müssten sich in ihren Lauten ähnlich sein. Die Tiere, so Süßmilch, haben eine gleichförmige, unveränderte Sprache. Er führt als Unterstützung seiner Argumentation an, dass die Hunde in China genauso klingen wie die Hunde im deutschen Sprachraum. Die menschliche Sprache hingegen zeichnet sich durch ihre Verschiedenartigkeit aus. Aus genau diesem Grund kann keine Sprache mit einem menschlichen, das heißt natürlichen, Ursprung angenommen, sondern allein anhand einer göttlichen Instanz begründet werden. (vgl. ebd.: 14) Darauf beruhend entwirft Süßmilch letztlich seine Argumentation, wie sich die Sprache dann, ist sie einmal von Gott gegeben, entwickelt und worin ihre Zwecke liegen. Dem Zweck scheint in diesem Zusammenhang eine besondere Stellung zugutezukommen, denn er appelliert an eine moralische Instanz. So formuliert Süßmilch: „Der Zweck der Sprache ist, daß man sich durch Schalle die Gedanken einander mittheile, damit man einen vernünftigen Umgang mit einander haben könne“ (ebd.: 20). Diese moralische Instanz unterstützt seine göttliche Sprachursprungstheorie, denn es vermittelt den Eindruck, als wurde dem Menschen die Sprache zweckgebunden von einer göttlichen Instanz gegeben. Ironischerweise ähnelt der Fortgang der Argumentation derer Condillacs: Süßmilch führt aus, dass, je öfter Zeichen und Bezeichnetes miteinander in Verbindung gebracht werden, die Erinnerung daran umso leichter fällt. Dies 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 17 ähnelt stark dem Condillac’schen Bild der zwei Kinder, die mithilfe der Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem dazu in der Lage sind, die langage d’action auszubilden. Süßmilch nimmt also zwar einen göttlichen Sprachursprung an, scheint jedoch eher eine Art göttlich gegebene Sprachfähigkeit zu postulieren, aus der die Sprache durch den Menschen erwachsen muss. Weiter merkt er an, dass erst die Reflexion zur Abstraktion führt. Die durch die Abstraktion gebildeten Begriffe sind ein Zeichen des Verstandes und führen zu Urteilen der Vernunft: So bald nun der Mensch sich der Zeichen zu bedienen anfängt, und zu deutlichen und abgesonderten Begriffen gelanget, so bald fängt er an aus den Orden der Thiere auszugehen, und ein Mensch zu werden, als dessen wesentlicher Unterschied in dem Gebrauch der Vernunft bestehet. (ebd.: 43) Die Vernunft bildet dann das Unterscheidungsmerkmal zum Tier. Der hier verwendete Reflexions- und Vernunftbegriff wird uns später auch bei Herder begegnen. Es fällt auf, dass Süßmilch trotz jeglicher Abwehr gegen einen menschlichen Sprachursprung scheinbar eine Sprachfähigkeit annimmt, aus der heraus der Mensch sich dann selbst die Sprache erschaffen hat. Widersprüchlich scheint jedoch, dass die Sprache gerade durch ihre Vollkommenheit Gott gegeben sein muss. Süßmilchs Schrift muss sich zwangsläufig mit der Frage konfrontiert sehen, wie eine sich entwickelnde Sprache bereits zu Beginn vollkommen sein kann, wenn sie sich eigentlich noch im Entwicklungsprozess befindet. Im letzten Schritt seines Versuchs bittet Johann Peter Süßmilch seinen Beschreibungen nach zufolge einen Freund, ihm eine Argumentation für den menschlichen Sprachursprung zu offerieren. Der Freund, so Süßmilch, führt an, dass Menschen sich auch durch Nachahmung die Sprache erfunden haben könnten. Es sei denkbar, dass die ersten Menschen Hühner beobachtet haben könnten, die mit ihrem ‚Mund’ Laute von sich geben, die wiederum zu einer Art Kommunikation dienlich sind. Die durch den ‚Mund’ produzierten Laute probierten die Menschen dann nachzuahmen, da sie in sich die Notwendigkeit verspürten, sich mitzuteilen. (vgl. ebd.: 64ff.) Süßmilch hält diese Argumentation für wenig hilfreich. Zum einen sei der Mensch ohne Sprache nicht dazu in der Lage, zu begreifen, dass die Töne der Tiere zu einer Art Kommunikation führen. Zum anderen muss zu der Entwicklung von Sprache zuerst Vernunft bestehen, die die Dringlichkeit der Sprache 3 Sprachphilosophische Theorien im 18. Jahrhundert 18 reflektieren kann. Nachahmung schließt letztlich auch die Entwicklung von Sprache aus und führe nur zu einem unüberschaubaren Gemisch verschiedener nachgeahmter Tiersprachen. (vgl. ebd.: 71) Letztlich müsse sich doch die heutige Sprache in der ursprünglichen Sprache wiederfinden lassen. Es lässt sich resümieren, dass Johann Peter Süßmilchs Argumentation auf zwei Sätzen fußt: Der erste charakterisiert die Funktion von Sprache. Er besagt: „Die Sprache ist das Mittel zum Gebrauch der Vernunft zu gelangen, ohne Sprache oder andere gleichgültige Zeichen ist keine Vernunft“ (ebd.: 5v). Der zweite Satz geht näher auf die vollkommenen Charakteristika der Sprache ein, die ihn zu dem Schluss führen, dass der Mensch eine solch durchdachte Ordnung nicht ohne Vernunft hätte erfinden können. (vgl. ebd.: 5 v/r) Die Argumentation, dass die Vernunft auf der Sprache aufbaue, durchzieht die gesamte Abhandlung und entkräftet jegliches Argument, das sich gegen seine Theorie stellt und für die Annahmen eines menschlichen Sprachursprungs argumentiert. Es wurde außerdem dargelegt, dass Süßmilchs Begriff von einer durch Gott gegebenen Sprache differenziert betrachtet werden muss. Es handelt sich eher um eine Art Sprachfähigkeit, die dem Menschen aufgrund seiner Vernunft zur Sprachentwicklung verhilft. Letztlich wurde dann Süßmilchs Beweisführung gegen eine Sprache der Nachahmung skizziert. Diese beinhaltete das Argument, dass der Mensch auch zu nachahmender Agitation Vernunft benötige, da sonst die Nachahmung nicht zielgerichtet und demnach nicht durchführbar wäre. Im Folgenden wird nun explizit auf Johann Gottfried Herders Sprachursprungstheorie eingegangen. Das vorangegangene Kapitel ermöglicht zum einen eine Einordnung Herders in ausgewählte sprachphilosophische Positionen des 18. Jahrhunderts. Zum anderen werden diese Positionen als Vergleichsschriften dienen, um im Anschluss die Bewertung der Herder’schen Abhandlung im Kontext einer modernen Sprachwissenschaft herausarbeiten zu können. 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 4 19 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung Eine der nachhaltigsten Auseinandersetzungen mit der Sprachursprungsproblematik erfolgt 1769 in Deutschland im Rahmen der durch die Berliner Akademie gestellten Preisfrage: „Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können? Und auf welchem Wege wären sie am füglichsten dazu gelangt?“ (Ricken 1984: 302). Eine der insgesamt 31 Einsendungen stammt von Johann Gottfried Herder, dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache letztlich die gekürte Preisschrift wird. Dass alles in allem 31 Schriften zur Frage des Sprachursprungs eingegangen sind, spricht für ein außerordentlich hohes Interesse an der ‚Lösung’ des Sprachursprungsproblems. (vgl. Neis 2003: 100). Die nun immer populärer werdende Perspektive eines natürlichen Sprachursprungs zieht sich durch einige der eingesandten Schriften.4 Das Aufeinanderprallen theologisch und anthropologisch motivierter Sichtweisen in diesem institutionellen Kontext der Berliner Akademie scheint ein Spiegel seiner Zeit zu sein und den Zwiespalt des 18. Jahrhunderts widerzugeben. Da das Jahrhundert sich zwischen Tradition und Moderne bewegt, soll vorab kurz skizziert werden, wie sich die Begriffe von ‚Tradition’ und ‚Moderne’ im 18. Jahrhundert zueinander verhalten. Um den Zeitgeist der Epoche der Aufklärung besser einfangen zu können, sei hier dargelegt, dass sich dieses Jahrhundert in einem sich verändernden Geschichtsverständnis bewegt. Im 18. Jahrhundert wird die Vielzahl an Geschichten der Vergangenheit zu einer einzigen Geschichte verbunden. (vgl. Koselleck 1979: 142) Mit dem neu generierten Wissen über die Vergangenheit entwickeln sich zeitgleich Furcht und Neugier vor der Zukunft. Tradition wird also als etwas begriffen, das bekannt und vertraut ist, wohingegen Moderne auch immer eine Ablösung der Tradition aufgrund von Krise bedeutet und Ungewissheit mit sich bringt. 4 Für eine ausführliche Gegenüberstellung der Preisschriften vgl. auch: Neis, Cordula (2003): Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/New York: De Gruyter. 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 20 Johann Gottfried Herder reiht sich in die sich von der Tradition loslösende Kategorie, die anthropologisch motivierte Perspektive, ein und bejaht in seiner Preisschrift die Frage nach einem menschlichen Sprachursprung, wenngleich er auch nicht gänzlich eine göttliche Wirkmacht aus seiner Argumentation verbannt (vgl. hierzu auch Kap. 4.2.3). Im ersten Teil seiner Abhandlung entwirft Herder vor allem in Bezug auf Etienne Bonnot de Condillac, Johann Peter Süßmilch sowie Jean-Jaques Rousseau seine eigene Sprachursprungstheorie. In den Mittelpunkt rückt dabei die Frage, ob der Mensch aus seinen natürlichen Fähigkeiten heraus überhaupt Sprache erfinden konnte. Innerhalb seiner Ausführungen, dies sei vorweggenommen, kommt es zum Teil zu so starken Diffamierungen der benannten wissenschaftlichen Annahmen, dass gerade die Theorien Süßmilchs und Condillacs lange Zeit von der Sprachphilosophie unbeachtet blieben. Im zweiten Teil dann stützt er sich auf die im ersten Teil gewonnen Ergebnisse und zeigt anhand vierer Naturgesetze den Menschen als besonnenes und deshalb sprachinnehabendes Wesen, den Menschen als Gesellschaftswesen sowie die Entwicklung der Familien- und Nationalsprachen auf. Im Weiteren erfolgt nun die Darstellung der Herder’schen Kritik an Süßmilch und Condillac, wodurch im Anschluss ex negativo Herders eigene Sprachursprungstheorie herausgearbeitet wird. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird schließlich auf die drei Kernpunkte von Historizität von Sprache, Sprache als menschliches Merkmal und die theologischen Aspekte eingegangen, die im Hinblick auf die Frage eines Paradigmenwechsels von besonderem Interesse sein werden. 4.1 Herders Kritik Herder entwickelt also seine Argumentation in Abgrenzung zu bereits existierenden Sprachursprungstheorien seiner Zeit. Er geht dabei im Besonderen auf Condillacs Theorie einer aus den Urlauten entwickelten menschlichen 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 21 Sprache sowie auf die von Süßmilch hervorgehobene göttliche Ordnung innerhalb der menschlichen Sprache ein. In seiner Kritik wird Herders Argumentation dabei häufig Inkonsequenz vorgeworfen: Er verleiht seinen Kontrahenten Condillac und Süßmilch immer wieder eine Stimme innerhalb seiner eigenen Argumentation, um ihre Position zu verdeutlichen und diese im nächsten Schritt durch seine eigene These wiederum zu entkräften. Diese Methodologie spricht jedoch nicht für einen inkonsequenten Argumentationsgang Herders, sondern für einen starken Einbezug des Rezipienten. Durch die Strategie des dialogischen Philosophierens verhilft er der Argumentation in Bewegung zu bleiben und nicht zu erstarren. (vgl. Gaier 1988: 80) Dieses Kapitel wird im Folgenden Herders Kritik an Condillac und Süßmilch in seinem dialogischen Charakter herausarbeiten, um anschließend Herders eigenem Standpunkt Gesicht zu verleihen. So beginnt er in scheinbarer Einigkeit mit Condillac seine Abhandlung mit der Analogie: „Schon als Thier, hat der Mensch Sprache“ (Herder 1978: 9). Die Analogie manifestiert sich in Condillacs Annahme, dass sowohl der Mensch als auch das Tier zu einem Seelenleben und ebenso zur Sprache fähig sind. Das Tier wird in Herders Formulierung als eine vorevolutionäre Stufe des Menschen angenommen. Er provoziert eine abwehrende Reaktion des Rezipienten, der sich nicht in einer Evolutionskette mit dem Tier eingereiht sehen will. Herder kreiert absichtlich ein sympathisierenden Standpunkt zu Condillac, um umso stärker seine eigentliche Position herausarbeiten zu können: Er argumentiert im weiteren Verlauf für eine absolute Trennung von menschlicher und animalischer Lebensform. Während Condillac für ein Seelenleben von Tieren plädiert, verbirgt sich in Herders Verständnis der tierischen Lebensform ein eher mechanisch gefärbtes Weltbild. 5 So schreibt er: Selbst die feinsten Saiten des thierischen Gefühls (ich muß mich dieses Gleichnißes bedienen, weil ich für die Mechanik fühlender Körper kein beßeres weiß!) selbst die Saiten, deren Klang und Anstrengung gar nicht von Willkühr und langsamen Bedacht herrühret, ja deren Natur noch von aller forschenden Vernunft nicht hat erforscht werden können, selbst die sind in ihrem ganzen Spiele, auch ohne das Bewußtsein fremder Sympathie zu einer Äußerung auf andre Geschöpfe gerichtet. (ebd.) 5 Cordula Neis verneint die Annahme, dass Herder einem cartesianischen Tierverständnis unterliegt (Neis 2003: 565f.) Es sei dennoch angemerkt, dass der Bezug von Tier und Maschine zumindest auf eine Färbung der Argumentation durch ein cartesianisches Verständnis verweist. 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 22 In dieser Aussage liegen drei Aspekte verborgen, die allesamt als Unterscheidungskriterium zur menschlichen Gattung dienen sollen: Zum einen die Annahme, dass der fühlende Körper des Tieres und die durch Empfindungen erzeugten Laute nach einer Art Mechanik, gemeint ist wohl eine Art Zwang, funktionieren. Zum zweiten verbirgt sich hierin auch – als deutliche Unterscheidung zum Menschen – die Unfähigkeit des Tieres zur Vernunft. Und im letzten Punkt eine Art Zusammenschluss der zuvor benannten Aspekte: Das Tier produziert trotz fehlender Vernunft Laute, die auf andere Lebewesen bezogen sind. Ob jedoch eine Art Kommunikation aus Herders Perspektive angenommen werden kann, scheint zweifelhaft, denn diese würde die Fähigkeit zur Vernunft voraussetzen. Neben den Ausführungen zur Unterscheidung von Mensch und Tier, die, dies kann als Zwischenfazit festgehalten werden, sich in Sprache und Vernunft manifestieren, geht Herder aber auch auf Gemeinsamkeiten beider Lebensformen ein und tritt somit wieder in einen positiven Dialog mit Condillac. Mensch und Tier verbindet im Ursprung, dass ihnen das Produzieren von Lauten aufgrund von Empfindungen gemein ist. Der Unterschied liegt allerdings in den Schlussfolgerungen Condillacs und Herders. Während Condillac hierin die Ursprünge der menschlichen Sprache begründet sieht, formuliert Herder die Annahme, dass diese Sprache gänzlich von der menschlichen zu unterscheiden sei. Hier liegt eine andere Sprache vor, die nicht den Ursprung der menschlichen Sprache bildet. In den Tönen der Empfindungen sieht Herder eher „die Säfte, die die Wurzeln der Sprache beleben“ (ebd.: 12). Die Sprache der Empfindungen, aber auch die Ursprünglichkeit der menschlichen Sprache, erfährt bei Herder somit eine absolut positive Konnotation. Aus dem gerade zitierten Passus geht hervor, dass die unartikulierten Laute durchaus als kreatives Potential der späteren, menschlichen Sprache gewertet werden können. Zugleich führt Herder im weiteren Verlauf aus, dass die Sprache, je näher sie sich am Sprachursprung befindet, umso unartikulierter und kreativer wird. Er verweist auf das Hebräische, das mehr Töne artikuliert als schreibt und sich dadurch näher am Sprachursprung befinde als andere Sprachen: Nehmet die sogenannte Göttliche, erste Sprache, die Hebräische, von der der gröste Teil der Welt die Buchstaben geerbet: daß sie in ihrem Anfange so lebendigtönen, so unschreibbar gewesen, daß sie nur sehr unvollkommen geschrieben werden konnte, dies 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 23 zeigt offenbar der ganze Bau ihrer Grammatik, ihre so vielfachen Verwechslungen ähnlicher Buchstaben, ja am allermeisten der völlige Mangel ihrer Vokale. (ebd.) Er stellt diesen Aspekt im besonderen Maße heraus und kreiert im eigentlichen Bedürfnis, das Mystische des Sprachursprungs durch wissenschaftliche Arbeit aufzuklären, gleichzeitig wiederum eine Mystifizierung der positiv betonten Ursprachen.6 Unbewusst verweist Herder hier auf die Motivation der Sprachursprungsdebatte und unterstreicht zugleich seine Annahme, dass vor der nun bekannten menschlichen Sprache Menschen bereits eine andere Art der Sprache besessen haben.7 Hier rückt eine Periodisierung von Sprachen in den Fokus, die später auch noch einmal bei Jacob Grimm aufgegriffen werden wird. Doch Herder tritt nicht nur mit Condillacs Thesen in einen Dialog, auch Süßmilchs These eines göttlichen Sprachursprungs unterzieht sich der Herder’schen Kritik. Herder referiert dabei auf Johann Peter Süßmilchs Annahme, dass Sprache aufgrund ihrer vollkommenen Ordnung durch Gott gegeben sein muss. Der Mensch kann ein so durchdachtes Werk, das sich beispielsweise in der Vollkommenheit der Grammatik äußert, also nicht erfunden haben. Herder hingegen verweist darauf, dass die Zeichensysteme der Sprachen allerdings nicht dazu fähig seien, die lautliche Sprache abzubilden. (vgl. ebd: 16) Beiden Sprachphilosophen zeigen dabei ein unterschiedliches Verständnis von Sprache und Vernunft, das sich auch in ihren Theorien manifestiert. Während Herder den Begriff der ‚Sprache’, wenn auch nicht gänzlich kohärent, sowohl als innere als auch als äußere Sprache begreift, geht Süßmilch ausschließlich von einer sich äußernden Sprache aus. (vgl. Gesche 1993: 13) Daher rührt auch der Zirkelschluss seiner Schrift, der auf der Tatsache beruht, dass er die inneren Prozesse menschlicher Entwicklung nicht verhan- 6 Die Mystifizierung der Ursprachen resultiert aus dem Fakt, dass keine dieser Ursprachen mehr existiert. Die positive Konnotation der Ursprachen tritt besonders durch die Abwertung der ‚künstlichen’ Sprache in den Vordergrund: Unsre künstliche Sprache mag die Sprache der Natur so verdränget: unsre bürgerliche Lebensart und gesellschaftliche Artigkeit mag die Fluth und das Meer der Leidenschaften so gedämmet, so ausgetrocknet und abgeleitet haben, als man will; der heftigste Augenblick der Empfindung, wo? und wie selten er sich finde? nimmt noch immer sein Recht wieder, und tönt in seiner mütterlichen Sprache unmittelbar durch Accente. (Herder 1978: 10) 7 Für die vorliegende Arbeit scheint die Unterscheidung dieser beiden Sprachen von besonderem Interesse zu sein. Andere Theorien gehen von bis zu sechs unterschiedlichen Sprachen innerhalb der Abhandlung aus. (vgl. hierzu auch Gaier 1988) 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 24 delt. Mit dem Verständnis von Sprache und Sprachursprung äußert sich aber auch ein grundsätzlich anderes Verständnis von Vernunft beider Sprachphilosophen: Süßmilch argumentiert auf der Grundlage, dass der Mensch erst dann Vernunft besitzt, wenn diese sich auch äußert. Herder hingegen nimmt eine bereits innere Vernunft des Menschen an, der die Sprache nicht als äußeres Merkmal vorausgehen muss. Die Vernunft wird dann als Disposition des Menschen verstanden und nicht als Wirkung sprachlicher Prozesse. (vgl. ebd.: 18) Letztlich mündet Herders hier umrissene Kritik in der grundständigen Erkenntnis, dass der Mensch sich aufgrund seiner Disposition zur inneren Vernunft durch seine menschliche Sprache vom Tier unterscheidet. Daraus folgt, dass die Sprache des Menschen nur in ihren Unterschieden zum Tier näher untersucht werden kann, um Schlüsse auf den Ursprung der Sprache herausarbeiten zu können. Dieser Prämisse folgt Herder und entwickelt daraus eine eigene Konzeption der ‚Lösung’ der Sprachursprungsproblematik. 4.2 Herders Sprachursprungstheorie Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt worden ist, geht Herder grundlegend von der Vernunft als eine Disposition des Menschen aus, die, ähnlich wie die Entwicklung von Sprache, ein genuin menschliches Merkmal ist, denn „[d]iese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache“ (Herder 1978: 31). Der Ursache der menschlichen Disposition widmet sich Herder zu Beginn seiner Sprachursprungstheorie, in der er auf den ersten Part der Preisfrage Bezug nimmt: „Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können?“ (Ricken 1984: 302). Dabei untersucht er die Unterschiede zwischen menschlicher und tierischer Lebensform, um daraus resultierend Rückschlüsse auf den menschlichen Sprachursprung ziehen zu können. Herders Beobachtungen richten sich auf die natürliche Abfolge von Handlungsmustern bei Tieren. Sie bewegen sich in ihrem eigenen Lebens- 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 25 raum ohne jegliches Anzeichen des Nachdenkens über die eigenen Handlungen. Die Bewegungsmuster sind in Herders Augen so artifiziell, dass er sie auch als „Kunsttrieb[e]“ bezeichnet (Herder 1978: 22). Der Instinkt des Tieres befähigt es, in seinem eigenen Lebensraum Gefahren zu bemerken und auf Grundlage instinktgeleiteter Handlungsmuster das Überleben der Gattung zu sichern. Der Mensch hingegen verfügt, so Herder, von Natur aus über keinen Instinkt. Seine Instinktlosigkeit macht ihn zwar freier in der Wahl seines Lebensraumes, gleichzeitig aber auch angreifbarer als alle anderen Lebewesen. Die Instinkt- und Schutzlosigkeit wird auf natürliche Weise durch seine Fähigkeit zur Vernunft und Sprache wieder ausgeglichen. Vernunft und Sprache befähigen den Menschen, Gefahrensituationen (wieder) zu erkennen und vernünftig, das meint reflektiert, zu handeln. Die Vernunft ist das Merkmal der menschlichen Gattung, durch diese erst Sprache möglich wird. Herders Argumentationsstrang bindet in das Gerüst von Sprache und Vernunft des Weiteren die Komponente der Seele mit ein. Sie bildet im Zusammenspiel mit dem Sinnesorgan des Gehörs die Verbindung zwischen Vernunft und Sprache und erklärt, wie erste sprachliche Zeichen entstehen: Die tönende Welt, die den Menschen umgibt, prägt ein Abbild auf der Seele, das wiederum in sprachliche Zeichen transponiert. Er exemplifiziert einen Gedankengang wie folgt: Wenn ein Kind einem Schaf begegnet, so prägt sich das Blöken des Schafes als Merkmal in die Seele des Kindes ein. Das Kind wird das Schaf an diesem Merkmal wiedererkennen und nennt es ‚das Blökende’. (vgl. ebd.: 45) Und an dieser Stelle beginnt in Herders Augen der Ursprung der Sprache: Sobald sich Merkmale der Umwelt auf der menschlichen Seele abbilden und der Mensch den Objekten seiner Umgebung Namen geben kann, ist der Grundstein der Sprache gelegt. Der zweite Teil gliedert sich dann in vier Naturgesetze, die alle auf der Prämisse gründen, dass der Mensch ein „freidenkendes, thätiges Wesen“ ist, dessen natürliches Streben in der Progression liegt, „darum sei er ein Geschöpf der Sprache!“ (ebd.: 73). Unter Progression wiederum versteht Herder durch Vernunft einsetzende Reflexionsprozesse. Dabei werden Erinne- 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 26 rungen bereits durchlebter Ereignisse als Referenz für zukünftige Erlebnisse herangezogen. Herder nimmt dabei grundsätzlich an, „daß nicht die mindeste Handlung seines Verstandes, ohne Merkwort, geschehen konnte: so war auch das erste Moment der Besinnung Moment zu innerer Entstehung der Sprache“ (ebd.: 74). Die Sprache als inneres Merkmal ist folglich gleichzeitig Ursache und Wirkung menschlicher Handlungen. Der Prämisse, dass die menschliche Gattung nach Progression strebt, folgend, entwickelt er sein erstes Naturgesetz: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier äußert sich letztlich in der fehlenden Vernunft des Tieres. Dieses kann sich aufgrund seines Instinktes nur sinnlich, nicht jedoch vernünftig erinnern. Herder resümiert, dass das Tier zwar eine bestimmte Bewegung wie die einer schlagenden oder streichelnden Hand identifizieren, jedoch nicht reflektieren kann. Die Erkenntnis, wie es zu der anschließenden Handlung gekommen ist, bleibt aus. Die fehlende Vernunft und darauf basierend auch die fehlende Reflexion stellen außerdem die Ursache für die ausbleibende Progression der tierischen Gattung dar. (vgl. ebd.: 75) Das zweite Naturgesetz betont den sprachsoziologischen Kontext, denn Herder postuliert, dass der Mensch „ein Geschöpf der Heerde, der Gesellschaft“ sei (ebd.: 85). Aufgrund dieser Charakteristik und seinem instinktlosen Wesen erscheint das Ausbilden der Sprache außerordentlich notwendig. Herder hebt hier besonders hervor, dass der Mensch eben deswegen das hilfloseste Wesen der Natur ist, damit es aufgrund seiner Verbundenheit zur Gemeinschaft durch Erziehung ein Teil von ihr werden kann. So bildet sich eine spezielle Verbundenheit der Menschen untereinander aus, die sich dann in einer eigenen sogenannten Familiendenkart und Familiensprache niederschlägt. (vgl. ebd.: 87ff.) Herder verweist an dieser Stelle auf eine Art Gesetzmäßigkeit, die sich in der Natur des menschlichen Geschlechts niederschlägt. Dieser Aspekt wird in Kapitel 4.2.2 unter dem Gesichtspunkt einer genuin menschlichen Sprache noch näher beleuchtet. Das dritte Naturgesetz dann beschreibt die weitere Entwicklung des menschlichen Geschlechts, in der deutlich wird, das Progression auch Aufspaltung des menschlichen Geschlechts in unterschiedlichen Familien bedeutet. Das Zusammenleben zu vieler Menschen innerhalb einer Gruppe forciert die Aufspaltung in mehrere kleine Gruppen. Die Familie teilt sich 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 27 aufgrund von entstehendem Familienhass, der aus einem Eifersuchtsgefühl aufkeimt, auf, wodurch wiederum aus den Familiensprachen eigene Nationalsprachen werden. Hier verbindet sich bald die neue Sprache mit anderem Denken und ebenso einer anderen Lebensart. (vgl. ebd.: 97) Und schließlich im vierten und letzten Naturgesetz führt Herder alle bereits benannten Aspekte noch einmal zusammen: Durch das natürliche Streben nach Progression und durch Erziehung entwickelt sich in der Familie eine einheitliche Sprache sowie aufgrund der Vernunft ein Reflexionsvermögen. Der Mensch besinnt sich darauf, dass er sich in einer Reihe von Generationen befindet und gibt sein Wissen an die nächste weiter. Nur so ist es ihm möglich, im Gegensatz zum Tier, das eigene Geschlecht weiterzuentwickeln. (vgl. ebd.: 100f.) Johann Gottfried Herders Abhandlung grenzt sich also im ersten Teil von bereits bestehenden Theorien, wie die Condillacs und Süßmilchs, ab, und entwickelt aus dieser Abgrenzung heraus seine eigene Argumentation, in Bezug auf die Frage, warum die Sprache von Menschen selbst ausgehen muss. Im zweiten Teil baut er auf dieser Grundlage ein stark anthropologisch motiviertes Argumentationsgebäude auf, das Sprache im Kontext von Gesellschaft und ihrer Progression situiert. Im Weiteren soll das historische Verständnis, das in der Abhandlung zum Vorschein kommt, beleuchtet werden. Es beinhaltet letztlich den Grundstein der Herder’schen Sprachursprungstheorie. 4.2.1 Historizität von Sprache Da das 18. Jahrhundert stärker als die Jahrhunderte zuvor eine Einordnung seiner selbst in den geschichtlichen Kontext offenbart, ist es unbedingt notwendig, das historische Verständnis Herders in seiner Abhandlung in den Blick zu nehmen. Die vorliegende sprachhistorische Untersuchung referiert auf das geschichtliche Verständnis der untersuchten Zeit, weshalb im Folgenden der Begriff der Historizität in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache untersucht werden soll. 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 28 Eine Veränderung der Auffassung von ‚Geschichte’ und ‚Geschichtlichkeit’ steht im 18. Jahrhundert in enger Verbindung mit dem aufkeimenden Interesse an der Frage nach dem Ursprung der Sprache. Es soll hier allerdings nicht der Eindruck vermittelt werden, dass vor dem 18. Jahrhundert keine Auseinandersetzung mit dem Sprachursprung stattgefunden hat, doch eine solche Masse an Sprachursprungstheorien fällt im besonderen Maße in diesem Jahrhundert auf. Dabei treffen zwei Punkte aufeinander: die Verortung des Selbst in der Geschichte und gleichzeitig – aufgrund von Säkularisierungsprozessen – die denkbare Möglichkeit, dass die Sprache nicht von Gott gegeben ist. Herder verarbeitet beide Aspekte in seiner Abhandlung, dennoch soll sich vorerst auf den Begriff der Historizität gestützt werden, um danach sowohl auf die anthropologische als auch auf die theologische Perspektive in Herders Argumentation einzugehen. Herders Verständnis von Sprache und Sprachursprung erweitert die sprachphilosophische Perspektive kaleidoskopartig: Bereits vorhandene sprachphilosophische Ansätze werden in eine andere Formation gebracht, sodass ein neuer historischer Ansatz entsteht. Herder sucht also nach dem Ursprung der Sprache wie bereits andere Sprachphilosophen vor und in seiner Zeit auch, jedoch fragt er nicht nach einem Fakt, das die Sprache begründet, sondern er fügt ihr eine Funktion zu. (vgl. Heise 2006: 23) Sprache als Funktion, dem Menschen das Leben in seiner Sphäre zu ermöglichen. Sprache als Funktion, um Gedanken zu ordnen und den Menschen sich in seiner eigenen Welt verorten lassen zu können. Diese neue Perspektive auf den Sprachursprung scheint ein besonderes Novum seiner Theorie zu sein, denn Sprache benötigt in dieser Argumentation keinen mythischen Überbau, sondern sie existiert, da der Mensch existiert. Herders Argumentationskette, so Heise, verortet den Menschen in seiner Sphäre als stummes Wesen, das aufgrund seiner ihm natürlich gegebenen Vernunft wahrnimmt, diese Wahrnehmungen durch ihre Merkmale verarbeitet, sortiert und letztlich durch die Sprache verbalisieren und in einem größeren Kontext – in seiner Welt – verorten kann. „Diese Welt hat sich der Mensch ebenso erschließen müssen wie die Sprache. Beides sind Erzeugnisse der Vernunft, aber ihrerseits ist Vernunft an Sprache, Geschichte und 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 29 Empfindung gebunden“ (ebd.: 22). Das bedeutet, dass sich der Mensch nicht nur die Sprache zu Nutze macht und erfindet, um in seiner Sphäre überleben zu können, sondern dass durch Sprache, Wahrnehmung und Empfindung auch diese Welt erst konstruiert wird. Dieser Blick auf Sprache eröffnet der Sprachphilosophie eine neue historische und zugleich zukunftsbezogene Perspektive, denn sich eine eigene Sprache und ebenso die eigene Welt zu erfinden bedeutet auch, sich selbst in dieser Welt zu erfinden. (vgl. ebd.: 22f.) Bezüglich des Konstruktionsprozesses der eigenen Welt nimmt gerade die Besonnenheit ein außergewöhnliches Glied in der Kette von Sprache, Seele und Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung ein. Jede Handlung des Menschen ist immer die Folge von Besonnenheit. Dies bedeutet, dass die Handlung zwar nicht seiner Besinnung entsprungen sein muss, so Herder, doch die Besonnenheit macht ihn zu dem, was er ist: zu einem Menschen. Konnte nun der erste Zustand der Besinnung des Menschen nicht ohne Worte der Seele würklich werden, so werden alle Zustände der Besonnenheit in ihm Sprachmäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten. (Herder 1978: 77) Dieses Vermögen, Handlungen in Worte zu kleiden und ebenfalls Gedanken in Worten auszudrücken, wie es im ersten Naturgesetz von Herder definiert wird, führt zu einem Bewusstsein von Historizität. Nur durch ein Bewusstsein sowie die Fähigkeit zur Reflexion ist überhaupt die Möglichkeit geschaffen, dass der Mensch sich nicht nur in seiner ihm selbst erfundenen Welt, sondern auch in einem größeren geschichtlichen Kontext verorten kann. Die geschichtliche Verortung seiner selbst mit dem von Herder besonders herausgearbeiteten Streben nach Progression sowie der Sprache und seiner Vernunft, die alle dem Menschen innewohnen, ermöglichen es überhaupt erst, dass der Mensch in einer Sphäre überleben kann. Der Mensch teilt seine eigene Historie nun nicht mehr in ein Bewusstsein von Geschichten ein, sondern in eine Geschichte. (Koselleck 1979: 142) Es schließt sich hier die Frage an, ob der Mensch anhand des neuen Sprachursprungsbildes nicht auch ein neues Bild der Menschheit in ihren Ursprüngen kreiert und der umfassende Säkularisierungsprozess die Wissenschaften ergreift. 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 30 Diese Art einer kopernikanischen Wende muss auch Auswirkungen auf die Sprachphilosophie selbst haben: Mit dem Perspektivwechsel hin zu einem funktionsbehafteten Sprachursprung scheint auch eine Fokussierung der Anthropologie innerhalb der Sprachphilosophie einherzugehen. Die metaphysische Dimension schwingt zwar noch in Herders Theorie mit, jedoch nicht, wenn es explizit um den Sprachursprung geht – dort überwiegen anthropologische Argumentationsreihen. 4.2.2 Sprache als menschliches Merkmal Herders Überlegungen zur Sprache als genuin menschliches Merkmal resultieren aus den bisher gewonnenen Ergebnissen. Wie bereits dargelegt worden ist, unterscheidet Herder Mensch und Tier grundsätzlich in den Charakteristika Triebhaftigkeit, Vernunft, Reflexionsvermögen und Sprache. Während dem Tier die Triebhaftigkeit eigen ist, verfügt es nicht über Vernunft, Reflexionsvermögen oder eine dem Menschen ähnliche Sprache. Die menschliche Trieb- und Instinktlosigkeit hingegen wird durch seine Vernunft, sein Reflexionsvermögen und seine Fähigkeit, sich Sprache anzueignen, wieder ausgeglichen. Die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs unterstellt jedoch nicht, dass der Mensch von seiner Geburt an fähig ist, zu sprechen: Vielmehr wird er als sprachloses Geschöpf geboren, das durch Empfindungsschreie erste Versuche der Kommunikation unternimmt. Erst mit der Zeit kann der Mensch sich die Sprache aneignen, die nicht nur Laute, sondern Wort-Objekt-Beziehungen generiert und die Wahrnehmungen widergeben kann. Tieren hingegen ist ihre Sprache – die sich gänzlich von der menschlichen unterscheidet – von Natur aus eigen. Die Biene summt, der Vogel singt „– aber wie spricht der Mensch von Natur“? Herder beantwortet die Frage prompt: „gar nicht, so wie er wenig oder nichts durch völligen Instinkt, als Thier thut“ (ebd.: 25). Dieses Postulat offenbart dem Rezipienten, wie bereits schon in Grundzügen bei Süßmilch mit der angedachten Sprachfähigkeit und weiter ausgebaut bei Condillac deutlich wird, dass der menschlichen Sprache ein Entwicklungsprozess zugrunde liegt, der offenbar 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 31 auch auf das sich verändernde Geschichtsbewusstsein zurückgreift: Sprache offenbart sich dem Menschen nicht weiter als fertiges Produkt, sondern sie ist vielmehr ein sich veränderndes Konstrukt. Es entwickelt und verändert sich je nach Familiendenkart und Familiensprache. Der einzige Ausweg des Überlebens ist also nicht in Sprache und Vernunft allein zu finden, sondern auch in der Sozietät des Menschen. Das „Geschöpf der Heerde“ ist fähig, Sprache zu erlernen (ebd.: 85): Und so weiß auch im Ganzen des Geschlechts die Natur aus Schwachheit Stärke zu machen. Eben desßwegen kommt der Mensch so schwach, so dürftig, so verlaßen von dem Unterricht der Natur, so ganz ohne Fertigkeiten und Talente auf die Welt, wie kein Thier, damit er, wie kein Thier, eine Erziehung genieße und das Menschliche Geschlecht, wie kein Thiergeschlecht, ein innigverbundnes Ganze werde! (ebd.: 87) In diesem Passus steckt nicht allein die Aussage, dass der Mensch seine Schwäche der Instinktlosigkeit in die Stärke der Sozietät wandeln kann. Es verbirgt sich hierin auch der Gedanke, der bereits im vorangegangenen Kapitel skizziert worden ist: der Gedanke der Funktionalität von Sprache. Der personifizierten Natur wird hier die Rolle eines Agens zugeschrieben, der die Menschen in ihrer Ausbildung der Sozietät bestärkt, oder gar für die Schwachheit und Stärke des Menschen zugleich verantwortlich ist. Diese Gesetzmäßigkeit wird jedoch ausschließlich auf die menschliche Gattung und nicht auf die Tierwelt übertragen. Es scheint, als betone Herder die Schwäche des Menschen, um seiner ebenso natürlichen Stärke ein besonderes Augenmerk zukommen zu lassen. Zusammengefasst bedeutet das, dass sich der Mensch grundlegend vom Tier unterscheidet, denn dieser besitzt die Fähigkeit zur Vernunft, Sprache und Progression des eigenen Geschlechts, während jenes Instinkte und Triebe hat. Beides veranlasst sowohl diesen als auch jenes zu einem Überleben in ihren Lebensräumen. Der Mensch ist jedoch aufgrund seiner Sprache in der Lage, sein eigenes Geschlecht, seine Familie und die daraus entstehenden Nationen weiterzuentwickeln. Das Tier jedoch ist auf den eigenen Lebensraum sowie die Kunstfertigkeit und seine Triebe beschränkt und besitzt aufgrund fehlender Reflexion und Vernunft nicht die Fähigkeit, seine eigene Gattung weiterzuentwickeln. Die ganze Natur stürmt auf den Menschen, um seine Kräfte, um seine Sinne zu entwickeln, bis er Mensch sei. Und wie von diesem Zustande die Sprache anfängt, so ist die 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 32 ganze Kette von Zuständen in der Menschlichen Seele von der Art, daß jeder die Sprache fortbildet – Dies große Gesetz der Naturordnung will ich ins Licht stellen. (ebd.: 75) In der Sprache als genuin menschliches Merkmal spiegeln sich Gesetzmäßigkeiten der Natur wider. Die den Menschen umgebende Welt fordert die Verarbeitung der Wahrnehmungen durch die Seele regelrecht ein. Welche Rolle der Natur hier zugedacht wird, soll im anschließenden Kapitel dargelegt werden. 4.2.3 Theologische Aspekte Nachdem nun Herders Kritik an einem göttlichen Sprachursprung dargelegt worden ist, scheint ein Kapitel zu theologischen Aspekten innerhalb der Abhandlung über den Ursprung der Sprache im ersten Moment widersprüchlich. Doch auch Herder, selbst Theologe, kann sich trotz einer starken Befürwortung des menschlichen Sprachursprungs nicht ganz einer theologisch geprägten Weltanschauung entziehen. Er ist durchaus in der Dichotomie von weltlicher und geistlicher Weltanschauung befangen. Es soll in diesem Kapitel der Frage nach semitheologischen Elementen in Herders Abhandlung nachgegangen werden, um im nächsten Schritt eine solide Grundlage für die Beurteilung Herders im Kontext eines Paradigmenwechsels gewährleisten zu können. Wo lassen sich also theologische Aspekte ausmachen und wie kann Herder die zwei gegensätzlichen Positionen innerhalb seiner Abhandlung vereinen, ohne sich in seiner Argumentation gegen Süßmilch selbst zu widersprechen? Um diese Frage im Licht ihrer Zeit beantworten zu können, schauen wir noch einmal auf das 18. Jahrhundert, das nicht nur von Säkularisierungsprozessen geprägt ist, sondern in dem gleichzeitig auch eine Welle eines neu aufkommenden Naturbegriffs entsteht. Die Abkehr von theologisch motivierten Erklärungsmustern geht gleichzeitig mit einem sich verändernden Verständnis des Erkenntnis- und Naturbegriffs einher. Ein Richtungswandel, innerhalb dessen die Erkenntnis im Menschen selbst entsteht, zeichnet sich stark in den (sprach-)philosophischen Schriften dieser Zeit ab. Dabei kommt der Natur eine besondere Rolle zu: In ihr manifestiert sich das Gegenkonstrukt zur Theologie. Der Naturbegriff wird verbunden mit der 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 33 Vorstellung, dass im Menschen selbst Erkenntnisprozesse aufkeimen. Diese Annahme ermöglicht dem Menschen auch eine Veränderung der Verortung seiner selbst in der ihn umgebenden Welt. Er wird selbst zum Ursprung von Erkenntnissen ohne eine göttliche Instanz als Initiator annehmen zu müssen. Doch auch wenn der Naturbegriff eine Ablösung des theologisch motivierten Weltbildes darstellt, löst er nicht die Frage nach dem Ursprung an sich auf. Dieser Zwiespalt zeichnet sich auch innerhalb Herders Abhandlung ab: Herder negiert grundsätzlich den theologischen Sprachursprung und reiht sich mit dem immer wiederkehrenden Naturbegriff in den aufkeimenden wissenschaftlichen Zeitgeist des 18. Jahrhunderts ein, jedoch scheint der Naturbegriff als eine Art Synonym für metaphysische Erklärungsmuster zu dienen. Der Leser kann also dazu geneigt sein, Herder zu unterstellen, innerhalb seiner Abhandlung ‚Gott’ durch ‚Natur’ zu ersetzen und sich dadurch dem Vorwurf zu entziehen, auch er könne den sprachlichen Ursprung nicht anders als durch eine metaphysische Instanz erklären. Dieser Vorwurf scheint nicht ungerechtfertigt, denn Herder nutzt den Begriff der ‚Natur’ selbst als eine Art metaphysische Instanz, wenn er schreibt: Nun laßet dem Menschen alle Sinne frei: er sehe und taste und fühle zugleich alle Wesen, die in sein Ohr reden – Himmel! welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache! Führet keinen Merkur und Apollo, als Opernmaschienen von den Wolken herunter – die ganze vieltönige, göttliche Natur ist Sprachlehrerin und Muse! Da führet sie alle Geschöpfe bei ihm vorbei: jedes trägt seinen Namen auf der Zunge und nennet sich, diesem verhüllten sichtbaren Gotte! als Vasall und Diener. Es liefert ihm sein Merkwort ins Buch seiner Herrschaft, wie einen Tribut, damit er sich bei diesem Namen seiner erinnere, es künftig rufe und genieße. Ich frage, ob je diese Wahrheit: »eben der Verstand, durch den der Mensch über die Natur herrschet, war der Vater einer lebendigen Sprache, die er aus Tönen schallender Wesen zu Merkmalen der Unterscheidung sich abzog!« ich frage, ob je diese trockne Wahrheit auf Morgenländische Weise edler und schöner könne gesagt werden als »Gott führte die Thiere zu ihm, daß er sähe, wie er sie nennete! und wie er sie nennen würde, so sollten sie heißen!« Wo kann es auf Morgenländische Poetische Weise bestimmter gesagt werden: der Mensch erfand sich selbst Sprache! – aus Tönen lebender Natur! – Und das ist, was ich beweise. (ebd.: 43f.) Herder führt hier aus, dass der Mensch allein durch die ihn umgebende, tönende Natur Sprache erlerne. Durch die Geräusche können Objekten bestimmte Merkmale zugewiesen werden, diese sich wiederum in der inneren und bald auch in der äußeren Sprache des Menschen manifestieren. Der Mensch ist dann fähig, Dinge zu benennen und ihnen Namen zu geben. Doch Herder benennt gleichzeitig die Natur eine ‚göttliche Natur’. In dieser 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 34 Formulierung steckt nicht nur das theologische Grundverständnis Herders, was auch seiner Weltanschauung noch zugrunde liegt, sondern ebenfalls ein guter Argumentationsgang, der ihn aus der Bredouille manövriert, ein theologisches Grundverständnis erklären zu müssen: Indem er die Natur als von Gott gegebene annimmt und im weiteren Verlauf seiner Argumentation nur noch auf eben diese verweist, wird die grundsätzliche Annahme, dass es einen Schöpfer gibt, weitestgehend in den Hintergrund gedrängt. Herders Abhandlung ist als aufklärerische Schrift in dem Kontext ihrer Zeit verhaftet und offenbart sich durchaus als ‚modern’ und von einer göttlichen Ursprungstheorie losgelöst. Dennoch kann auch Herder den Konflikt nicht überwinden, eine göttliche Kraft anzunehmen, die sowohl den Menschen als auch die Natur sowie die Tiere erschaffen hat. Dies wird erneut deutlich, als Herder vorstellt, wie der Mensch ‚auf die Welt gekommen sei’. So ist hier, mit Sicherheit auch bedingt durch die gängige Forschung, noch nicht die Rede von einem naturwissenschaftlichen Ansatz der Entstehung des Menschen, sondern vielmehr von einem schöpferischen. So sehr wie sich Herder für eine sich entwickelnde menschliche Sprache einsetzt, so sehr negiert er Buffons Ansatz eines menschlichen Wesens, dass sich selbst noch entwickeln muss: Man laße ihm zu dieser ersten deutlichen Besinnung soviel Zeit, als man will: man laße, nach Buffons Manier (nur philosophischer, als er,) dies gewordne Geschöpf sich allmählich sammlen: man vergeße aber nicht, daß gleich vom ersten Momente an kein Thier, sondern ein Mensch, zwar noch kein Geschöpf von Besinnung, aber schon von Besonnenheit ins Universum erwache. Nicht wie eine große, schwerfällige, unbehülfliche Maschiene, die gehen sollte, und mit starren Gliedern nicht gehen kann: die sehen, hören, kosten sollte, und mit starren Säften im Augen, mit verhärtetem Ohr und mit versteinerter Zunge nichts von alle diesem kann – Leute, die Zweifel der Art machen, sollten doch bedenken, daß dieser Mensch nicht aus Platons Höle, aus einem finstren Kerker, wo er von seinem ersten Augenblick des Lebens, eine Reihe von Jahren hin, ohne Licht und Bewegung sich mit offnen Augen blind, und mit gesunden Gliedern ungelenk geseßen, sondern daß er aus den Händen der Natur, im frischesten Zustande seiner Kräfte und Säfte, und mit der besten, nächsten Anlage kam, vom Ersten Augenblicke sich zu entwickeln. (ebd.: 74f.) Der Mensch sei von Beginn an, so Herder, ein Wesen mit wachen Sinnen und gesundem Körper – er entstammt direkt aus den Händen der Natur, womit wohl zumindest eine semitheologische Ursprungstheorie nahegelegt wird. Aus seiner Beweisführung folgt, dass er sich seines eigenen Zwiespaltes zwischen theologischem Ursprungsgedanken und menschlichem Sprachursprung durchaus bewusst ist, da in seiner Argumentation die Begrifflichkeit 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 35 der ‚Natur’ stark hervorsticht. Wohingegen die Begrifflichkeit ‚Gott’ fast ausschließlich dann benannt wird, wenn Herder sich von der göttlichen Sprachursprungstheorie abgrenzen will. Diese Argumentationsstrategie führt sogar soweit, dass Herder zur Unterstützung seiner eigenen Argumentation im zweiten Teil seiner Abhandlung die Sprachverwirrung des Turmbaus zu Babel als ein „Poetisches Fragment“, jedoch nicht als biblischen Bezug, angibt und dieses Fragment als Unterstützung seiner Argumentation heranzieht. Eine Morgenländische Urkunde über die Trennung der Sprachen (die ich hier nur als ein Poetisches Fragment zur Archäologie der Völkergeschichte betrachte) bestätigt durch eine sehr Dichterischer Erzählung, was so viel Nationen aller Welttheile durch ihr Beispiel bestätigen. Nicht allmählich verwandelten sich die Sprachen, wie sie der Philosoph durch Wanderungen vervielfältigt; die Völker vereinigten sich, sagt das Poem, zu einem großen Werke; da floß über sie der Taumel der Verwirrung und der Vielheit der Sprachen – daß sie abließen und sich trennten – was war dies als eine schnelle Verbitterung und Zweitracht, zu der eben ein solches großes Werk den reichsten Anlaß gab? Da wachte der vielleicht bei einer Gelegenheit beleidigte Familiengeist auf: Bund und Absicht zerschlug sich: der Funke der Uneinigkeit schoß in Flammen: sie flogen aus einander: und thaten das jetzt so heftiger, dem sie durch ihr Werk hatten zuvor kommen wollen: sie verwirrten das Eine ihre Ursprungs, ihre Sprache. So wurden verschiedne Völker und da, sagt der spätere Bericht, heißen noch die Trümmer: Verwirrung der Völker! – wer den Geist der Morgenländer in ihren oft so umhergeholten Einkleidungen und Epischwunderbaren Geschichten kennet (ich will hier für die Theologie keine höhere Veranstaltung ausschließen) der wird vielleicht den sinnlich gemachten Hauptgedanken nicht verkennen, daß Veruneinigung über einer großen gemeinschaftlichen Absicht, und nicht blos die Völkerwanderung mit eine Ursache zu so vielen Sprachen geworden ist. (ebd.: 99f.) Herder führt in diesem Passus die Sprachverwirrung aus der Genesis an, um seine eigene These der Nationenbildung anzuschließen. Die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist für eine theologische Sprachursprungsdebatte die Argumentationsgrundlage, anhand derer zu beweisen versucht wird, dass alle menschlichen Sprachen einen gemeinsamen Ursprung haben. Herder will aus der biblischen Geschichte heraus sein eigenes Argument verstärken, indem er sie nicht als aus der Bibel stammend kennzeichnet, sondern die Geschichte als ein poetisches Fragment betitelt, in dem schon berichtet wird, dass die Menschen der gleichen Familie und der gleichen Sprache entstammen und dann aufgrund von Uneinigkeit sich in verschiedene Nationen spalten – dies entspricht genau der Argumentation seines dritten Naturgesetzes. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Herder sich in einem Konflikt seiner Zeit befindet: Der Naturbegriff löst weitestgehend die theo- 4 Johann Gottfried Herder: Der menschliche Sprachursprung 36 logisch motivierte Argumentation ab, stellt sich jedoch nicht dem Dilemma, dass die Frage nach dem Ursprung nicht endgültig aufgelöst werden kann. Die Philosophen und Wissenschaftler dieses Zeitgeistes, [...] wie E. WEIGEL, LEIBNIZ, der junge KANT sprachen von Gott als dem Schöpfer und Herrn der N[atur], aber sie gaben der N. eine freie und selbständige Stellung aufgrund des allgemeinen Gesetzes, welches Gott als der Architekt des Weltbaues in der N. investiert habe. Die N. sei keines einzelnen, zufälligen und willkürlichen Eingriffes von Seiten Gottes fähig oder bedürftig, weil sie von Gott von vornherein insofern freigesetzt worden ist, als alles nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen geschehe. (Ritter & Gründer 1984: 470) Der Natur wird in dieser Beweisführung innerhalb der Philosophie des 18. Jahrhunderts eine Eigenständigkeit zugesprochen, die sich auch in Herders Abhandlung wiederfinden lässt. Eingesetzt durch einen etwaigen Gott wird die Natur Symbolträger einer (gottes-)unabhängigen Weltanschauung. Die Annahme, dass die Ordnung der Natur auf Grundlage bestimmter Gesetzmäßigkeiten funktioniere, durchzieht das Denken jener Zeit und so manifestiert sie sich auch in Herders Abhandlung, wenn er postuliert, dass der Mensch als hilfloses Wesen geboren wird, um sich dann durch die Erziehung der Gemeinschaft zu einem Teil der Gesellschaft auszubilden. 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 5 37 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert Da das Ziel der Arbeit die Untersuchung der Abhandlung Herders in Hinblick auf einen potentiellen Paradigmenwechsel der Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert ist, soll im Folgenden zuerst skizziert werden, worin das Wesen eines Paradigmenwechsels überhaupt besteht. Der Begriff des Paradigmenwechsels wird in den 1970er Jahren von Thomas S. Kuhn in seinem Essay Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1976) geprägt. Seine Arbeit resultiert aus der Beobachtung, dass wissenschaftliche Theorien und Entdeckungen gerade in wissensvermittelnden Werken immer als kumulative Prozesse dargestellt werden. In seinem Essay stellt Kuhn die Hypothese auf, dass wissenschaftliche Entwicklungen keinesfalls als kumulativ, sondern vielmehr als Revolutionen verstanden werden müssen. Seiner Überlegung gehen zweierlei Erkenntnisse voraus: Zum einen sind neue wissenschaftliche Theorien immer ein Resultat aus einer vorangegangenen Krise. Und zum anderen werden neue Theorien nicht ohne Widerspruch in den bestehenden wissenschaftlichen Konsens aufgenommen. Der Weg zu einer neuen Theorie und eventuell zu einem neuen Paradigma beschreibt Kuhn wie folgt: Die normale Wissenschaft, die soeben mit dem Begriff des ‚wissenschaftlichen Konsens’ charakterisiert worden ist, zeichnet sich dadurch aus, dass die Wissenschaftler, die ihr angehören, die zugrundeliegenden Theorien als Paradigma anerkennen. Zum Alltag der normalen Wissenschaft gehört es, sogenannte „Rätsel“ zu lösen (Kuhn 1976: 49). Immer wieder zeigen sich kleine Unstimmigkeiten innerhalb der Theorien, die es zu lösen gilt. Das Rätsellösen funktioniert insofern, als dass die Schemata der Theorien immer weiter spezifiziert werden und somit eine außerordentliche Präzision erlangen. Die Rätsel, die sich innerhalb der wissenschaftlichen Theorien auftun, führen allerdings nie soweit, als dass die gesamte Theorie noch einmal überdacht werden muss. Sie ist möglichst in ihrer Existenz nicht zu gefährden. Das Wesen der normalen Wissenschaft besteht also darin, sich selbst durch das Rätsellösen regelmäßig zu bestätigen, jedoch keine innovativen Entwicklungsprozesse hervorzubringen. (vgl. ebd.: 65) 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 38 Kuhn insistiert, dass eine Entdeckung erst dann gemacht werden kann, wenn dem Forscher eine Anomalie bewusst wird. Die Entdeckung beginnt mit dem Bewußtwerden einer Anomalie, das heißt mit der Erkenntnis, daß die Natur in irgendeiner Weise die von einem Paradigma erzeugten, die normale Wissenschaft beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat. Sie geht dann weiter mit einer mehr oder weniger ausgedehnten Erforschung des Bereichs der Anomalie und findet erst einen Abschluß, nachdem die Paradigmatheorie so berichtigt worden ist, daß das Anormale zum Erwarteten wird. (ebd.: 65f.) Das bedeutet, dass eine Anomalie nur dann eintreten kann, wenn der Forscher zulässt, dass durch die Bearbeitung der Anomalie die gesamte wissenschaftliche Forschung dieses Bereichs noch einmal überdacht wird. Dieser Schritt gestaltet sich in der Wissenschaftswirklichkeit als einer der schwierigsten, denn er bedeutet, dass der Forscher die Existenz seiner eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaft durch seine Arbeit gefährdet. Anomalien sind also eng mit der Wahrnehmung des Wissenschaftlers verknüpft. Nur wenn der Wissenschaftler die Anomalie tatsächlich wahrnimmt, gibt es überhaupt die Chance, diese auch zu bearbeiten. Kuhn verweist an diesem Punkt darauf, dass der Wissenschaftler in seiner Wahrnehmung durch die Perspektive seiner eigenen Forschung beeinflusst ist. Eine Anomalie wahrzunehmen bezeichnet also nicht den rein physischen Prozess des Sehens, sondern eine vorangegangene Wahrnehmungsveränderung, die das Bewusstsein für eine Anomalie öffnet. Da das Auftauchen neuer Theorien eine umfassende Paradigmazerstörung und größere Verschiebungen in den Problemen und Verfahren der normalen Wissenschaft erfordert, geht ihm im allgemeinen eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit voraus. Wie zu erwarten, wird diese Unsicherheit durch das dauernde Unvermögen erzeugt, für die Rätsel der normalen Wissenschaft die erwartete Auflösung zu finden. Das Versagen der vorhandenen Regeln leitet die Suche nach neuen ein. (ebd.: 80) Eine Wahrnehmungsveränderung kann also nur dann eintreten, wenn die Regelhaftigkeit, in der die Wissenschaft agiert, keine adäquaten Erklärungsmodelle für die auftretenden Rätsel mehr birgt. Die Unlösbarkeit von Rätseln mithilfe des ursprünglichen Paradigmas führt zur Perspektiverweiterung: Die Suche nach einem Paradigma, das neue Erklärungsschemata hervorbringt, schließt sich an die Krise der wissenschaftlichen Disziplin an. Erkennt die Fachwissenschaft nun an, dass sich ihr wissenschaftlicher Bereich in einer Krise befindet, die sich nicht durch eine überschaubare Paradigmamodifikation beziehungsweise eine Modifikation der Regeln lösen lässt, kann dies eine Fülle neuer Theorien verursachen, die die Probleme des 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 39 alten Paradigmas versuchen, zu lösen. Dies sei, so Kuhn, ein typisches Symptom einer Krise. (vgl. ebd.: 83) Die ersten Angriffe auf das Widerstand leistende Problem werden sich eng an die Paradigmaregeln halten. Aber bei fortdauerndem Widerstand werden immer neue Angriffe mehr oder weniger entscheidende Paradigmaartikulationen erfordern, von denen kaum zwei gleich sind, jede teilweise erfolgreich ist, aber doch keine so sehr, daß sie von der Gruppe als Paradigma anerkannt würde. Durch diese Wucherung divergierender Artikulation (man wird sie immer häufiger als ad hoc-Anpassungen beschreiben) werden die Regeln der normalen Wissenschaft in zunehmendem Maße aufgeweicht. Obwohl es noch immer ein Paradigma gibt, zeigen doch nur wenige Fachleute völlige Übereinstimmung darüber, worin es besteht. (ebd.: 95f.) Die Fachwissenschaft löst sich also mehr und mehr von dem eigentlichen Paradigma und versucht, durch neue Theorien das Problem des Paradigmas zu lösen. Kuhn postuliert, dass diese Krise nun in drei unterschiedlichen Weisen enden kann: Entweder ist das alte Paradigma letztlich doch noch dazu in der Lage, das Problem zu lösen und kann bestehen bleiben. Oder das Problem widersetzt sich auch neuen Ansätzen, kann nicht gelöst werden und wird daraufhin archiviert, um es einer späteren Generation von Wissenschaftlern zu überlassen. (vgl. ebd.: 97) Oder das krisenhafte Paradigma befindet sich auf dem Weg zu einem neuen. Mit diesem Schritt würde eine wissenschaftliche Revolution eingeleitet. Im Falle der letzten Option, der Annahme eines neuen Paradigmas, geht in der wissenschaftlichen Revolution auch ein gänzlicher Neuaufbau des Fachgebietes einher, aus dem dann wiederum eine neue Tradition der normalen Wissenschaft erwachsen kann. Gerade wissenschaftliche Revolutionen kämpfen stark mit dem Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Tradition bedeutet immer eine bewährte Theorie zu bewahren und zu spezifizieren, wohingegen Moderne die Ablösung von bekannten Strukturen beinhaltet und nicht zwangsläufig mit der positiven Konnotation des Fortschritts verbunden ist. Dieses Dilemma ist als Grunddisposition von wissenschaftlichen Revolutionen anzuerkennen. Im Folgenden wird versucht, den sprachwissenschaftlichen Paradigmenwechsel des 18. Jahrhunderts anhand der Kontextualisierung der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache nachzuzeichnen. 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 5.1 40 Die Krise Die Annahmen theologisch beziehungsweise menschlich motivierter Sprachursprünge wurden bereits in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich beleuchtet. Im Folgenden werden sie in den Kontext eines möglichen Paradigmenwechsels gerückt. Dabei wird versucht, Herders moderne Gedankengänge im angenommenen Paradigmenwechsel der Sprachphilosophie des 18. Jahrhundert einzufangen und mit den ausgewählten Vergleichsschriften zu kontextualisieren. Die Ergebnisse werden dann als ‚Erbe’ innerhalb des Grimm’schen Vortrags über den Sprachursprung und die Entwicklung der Sprachwissenschaft wieder aufgegriffen. Wendet man die nun bereits eingeführten Begrifflichkeiten von Thomas S. Kuhn an, so erweist sich die Annahme eines theologischen Sprachursprungs als ein seit langer Zeit situiertes Paradigma, das bis in das 18. Jahrhundert hinein Bestätigung findet. Der sprachphilosophische Kontext, in dem sich Herder, Süßmilch und auch schon Condillac bewegen, ist gezeichnet durch eine Krise innerhalb der Sprachphilosophie mit besonderem Fokus auf den Ursprung der menschlichen Sprache. Die alte Schule des theologischen Sprachursprungs scheint durch Fortschritte in der Naturwissenschaft und aufgrund eines neu aufkeimenden Geschichtsverständnisses erschüttert worden zu sein. Die bisher angeführte Beweisführung, nach der der Sprachursprung aus der Schöpfungslehre und letztlich aus göttlicher Hand resultiert, greift nicht weiter. Es setzt folglich eine Veränderung der Wahrnehmung ein, die mit der ausbleibenden Lösung für das wissenschaftliche Problem zusammenhängt. Es bildet sich eine Anomalie heraus, die über das Lösen gängiger Rätsel hinausgeht. Die Reaktion auf die Anomalie wird aufgrund der Vielfalt neuer Sprachursprungstheorien deutlich: Condillac verfasst in Anlehnung an John Locke eine sensualistische Sprachursprungstheorie, Rousseau verweist darauf, dass Sprache ein gesellschaftliches Produkt sei, und Herder sucht den Sprachursprung im Menschen selbst. Gleichzeitig bilden sich auch weiterhin Sprachursprungstheorien heraus, die am göttlichen Sprachursprung festhalten – wie man anhand Süßmilchs Theorie exemplarisch ablesen kann. Er versucht durch den aufgestellten Zirkelschluss, dass Sprache nur durch Ver- 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 41 nunft und Vernunft wiederum nur durch Sprache entstehen kann, den Beweis eines göttlichen Sprachursprungs zu liefern. Damit bemüht er sich, das ursprüngliche Paradigma aufrechtzuerhalten. Die nun hinzutretenden Sprachursprungstheorien hingegen entspringen einer neuen Perspektive, einer neuen Wahrnehmung, die auch im Zuge naturwissenschaftlicher Entdeckungen entsteht. Die Untersuchung legt die Hypothese zugrunde, dass die Krise rund um die Sprachursprungsfrage in einer wissenschaftlichen Revolution mündet. An welchen Aspekten dies festzustellen ist und worin die wissenschaftliche Revolution besteht wird im folgenden Kapitel dargelegt. 5.2 Die wissenschaftliche Revolution Wie bereits angedeutet geht der wissenschaftlichen Revolution der Sprachursprungstheorie eine Zeit der Krise voraus, die durch eine Fülle an Theorien symptomatisch gekennzeichnet ist. In dieser Zeit entstehen auch Condillacs, Süßmilchs und Herders Sprachursprungstheorien. Die Krise wird maßgeblich von der Berliner Akademie der Wissenschaften gespiegelt. Indem sie die Preisfrage nach dem menschlichen Sprachursprung ausschreibt, signalisiert sie als Institution bereits eine tendenzielle Ablösung von der theologischen Sprachursprungstheorie. Auch die eingehenden Preisschriften legen nahe, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft sich nicht mehr auf ein gemeinsames Paradigma des göttlichen Sprachursprungs beruft, sondern die Annahme eines menschlichen Sprachursprungs zunehmend in die Theorien eindringt. Die besondere Situation, nämlich dass eine akademische Institution einen Wettstreit der Theorien herausfordert, kreiert eine Art künstliches Szenario, das die Ablösung vom alten und die Annahme des neuen Paradigmas stark in der wissenschaftlichen Gemeinschaft forciert. Aus dem Wettbewerb geht letztlich Johann Gottfried Herder mit seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Sieger hervor. Die Anerkennung der Preisschrift durch die Berliner Akademie schlägt sich schließlich auch in der Anerkennung eines menschlichen Sprachursprungs im Gros der wissenschaftlichen Gemein- 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 42 schaft nieder und führt über einen längeren Zeitraum zur Verwerfung des alten, theologisch motivierten Paradigmas sowie zur Annahme des menschlichen Sprachursprungs. Mit der Annahme der neuen Theorie als Paradigma muss unumgänglich eine Ablösung vom alten, theologisch motivierten Sprachursprung geschehen. Kuhn beschreibt die Unmöglichkeit, dass nach einer wissenschaftlichen Revolution sowohl das alte als auch das neue Paradigma nebeneinander gleichbedeutend ihre Existenzberechtigung haben. Vielmehr ist das Verhältnis der alten und der neuen Theorie als inkommensurabel zu beschreiben. Paradigmata unterscheiden sich aber in mehr als der Substanz, denn sie zielen nicht nur auf die Natur, sondern auch wieder zurück auf die Wissenschaft, die sie hervorbrachte. Sie sind die Quelle aller Methoden, Problemgebiete und Lösungsnormen, die von einer reifen wissenschaftlichen Gemeinschaft zu irgendeinem Zeitpunkt anerkannt werden. Daraus ergibt sich, daß die Annahme eines neuen Paradigmas oft eine neue Definition der entsprechenden Wissenschaft erfordert. Manche alte Probleme können an eine andere Wissenschaft abgegeben oder für völlig »unwissenschaftlich« erklärt werden. Andere wieder, die vorher nicht existierten oder völlig unbedeutend waren, können mit einem neuen Paradigma geradezu ein Haupttypus wichtiger wissenschaftlicher Leistung werden. Und wie sich die Probleme ändern, so ändert sich oft auch die Norm, die eine wirklich wissenschaftliche Lösung von einer bloßen metaphysischen Spekulation, einem Wortspiel oder einer mathematischen Spielerei unterscheidet. Die normalwissenschaftliche Tradition, die aus einer wissenschaftlichen Revolution hervorgeht, ist mit dem Vorangegangenen nicht nur unvereinbar, sondern oft sogar inkommensurabel. (ebd.: 116) Die Durchsetzung eines neuen Paradigmas und die Gründung einer neuen normalen Wissenschaft benötigen allerdings Zeit. Vorerst existieren häufig das alte Paradigma und die neue Theorie zeitgleich nebeneinander. Gegnern der neuen Theorie widerfährt nicht selten, dass ihnen aufgrund ihrer Verschlossenheit der neuen Theorie gegenüber der Status des Wissenschaftlers aberkannt wird. Auch Süßmilch sieht sich dieser Situation ausgesetzt. Er wird unter anderem aufgrund von Herders scharfer Kritik in die Ecke des ‚Nicht-Wissenschaftlers’ gedrängt. Seinen eigenen Standpunkt kann er allerdings selbst nicht mehr verteidigen, da er beim Erscheinen von Herders Abhandlung bereits nicht mehr lebt. Es entsteht ein neues, nicht an die alte Theorie anknüpfendes Paradigma. Dieses Charakteristikum der Entwicklung einer eigenständigen Theorie negiert zugleich, dass es sich bei neu entstehenden Paradigmata um einen kumulativen Prozess innerhalb der Wissenschaftsgeschichte handelt. Kumulative Prozesse finden lediglich beim Rätsellösen statt. Hier hingegen bildet sich eine völlig neue wissenschaftliche Grundlage, die zu einem Neuaufbau 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 43 der Disziplin und damit auch zu einer Erneuerung der Paradigmamethoden und Paradigmaanwendungen führt. (vgl. ebd.: 97f.) Genau in diesem Schritt eines nicht weiter kumulativen Prozesses, sondern dem Neuaufbau einer Disziplin, liegt die wissenschaftliche Revolution. In dem Sprachursprungsdiskurs des 18. Jahrhunderts wird letztlich durch Herders überzeugende Argumentation sowie gleichzeitig seine Kritik an Johann Peter Süßmilch die Theorie eines göttlichen Sprachursprungs aus dem Diskurs zunehmend verdrängt. Es ist der göttlichen Sprachursprungstheorie nicht möglich, sich in gleicher Weise wie die menschliche Sprachursprungstheorie wissenschaftlich zu situieren. Sie verliert in dem Moment, in dem die Anomalie zu einer Krise führt und dann nach einer wissenschaftlichen Revolution durch das neue Paradigma abgelöst wird, ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit – beide Theorien werden inkommensurabel. (vgl. Gesche 1993: 10) Herder wird bis heute als Begründer der Theorie des menschlichen Sprachursprungs rezipiert. Folgt man Kuhns Theorie, lässt sich allerdings nie eine Einzelperson als Initiator eines Paradigmenwechsels ausmachen. Vielmehr muss Herder als Wissenschaftler im Zeitgeist des 18. Jahrhunderts verstanden werden, in dem auch andere Sprachphilosophen, wie am Beispiels Condillacs dargelegt worden ist, für einen menschlichen Sprachursprung plädieren. Herder ist involviert in einen größeren Paradigmenwechsel, anhand dessen der Paradigmenwechsel des 18. Jahrhunderts nachvollzogen werden kann – er ist jedoch nicht der ‚Erfinder’ des menschlichen Sprachursprungs. Die verzerrte Rezeptionsgeschichte der Abhandlung Herders lässt sich lediglich aus dem Umstand erklären, dass er als Preisträger innerhalb einer wichtigen, institutionellen Einrichtung gekürt worden ist und ihm damit scheinbar automatisch die Rolle des Vordenkers zugewiesen worden ist. Neben der in der Rezeption häufig benannten ‚Revolution’ Herders, den Sprachursprung beim Menschen selbst anzusiedeln und nicht in einer metaphysischen Instanz, finden sich in seiner Abhandlung jedoch noch weitere, für die vorliegende Arbeit wichtige und weitestgehend moderne Ansätze, die auch von Herders eigenem historischem Bewusstsein beeinflusst sind. Denn er versteht Sprache als ein Resultat menschlicher Schwäche und Stär- 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 44 ke zugleich: Die Instinktlosigkeit des Menschen schwächt ihn in seiner Überlebensfähigkeit und offenbart ihm zugleich – auf dem Hintergrund seiner inneren Vernunft – die Fähigkeit, Sprache auszubilden. Das Ausbilden der Sprache kann sich allerdings nur durch die sensorische Interaktion mit der Seele vollziehen. Die Seele nimmt in dem hier von Herder beschriebenen Prozess die Funktion eines Katalysators ein: Durch die Sinnesorgane – und am prägnantesten durch das Gehör – dringt die Umwelt in das Bewusstsein des Menschen und hinterlässt spezifische Merkmale auf der Seele. Mithilfe der eingeprägten Merkmale hilft dann die Seele beim Erinnerungsprozess Objekte wiederzuerkennen, um sie letztlich anhand ihrer Merkmale auch benennen zu können.8 Herders Beweisführung insgesamt offenbart dem Leser einen Blick auf das historische Verständnis von Sprache, die sich im Laufe ihrer Zeit entwickelt hat und nicht als bereits fertiges Produkt Teil des Menschen ist. Dieses Bewusstsein für historische Prozesse führt Herder des Weiteren zu der Annahme, dass die Sprachprozesse von unterschiedlichen Arten von Sprachen begleitet sind. So vehement er seine Argumentation auch gegen Condillac einsetzt, so kommt er doch nicht umhin, auch in seiner Theorie die Naturlaute als Sprache anzuerkennen. Jedoch betont er, dass es sich hierbei um eine besondere Art der Sprache handelt, die nichts mehr mit unserer heutigen Sprache zu tun hat. Herder deutet also an, dass er bereit ist, einen Sprachentwicklungsprozess anzunehmen, der unterschiedliche Sprachen miteinschließt, letztlich jedoch die Sprache in seinem Verständnis aus einem anderen, davon separierten Prozess entstanden sei. Dieses sich neu ausbildende Sprach- und Geschichtsbewusstsein, das nicht allein bei Herder seine ersten Triebe zeigt, steht insgesamt für ein neues Verständnis des eigenen Selbst und der sich langsam ausbildenden wissenschaftlichen Linguistik. Es ist insgesamt eingebettet in den Paradigmenwechsel der Sprachwissenschaft. Cordula Neis hingegen wirft bezogen auf die gemeinschaftliche Anerkennung eines neuen Paradigmas innerhalb der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts ein, dass keineswegs Herders Abhandlung als die Lösung der 8 Diese Erkenntnis übernimmt Herder aus Condillacs sensualistischer Sprachursprungstheorie, ohne diesen jedoch als Urheber des Gedankens zu zitieren. 5 Der Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert 45 Sprachursprungsdebatte angesehen werden kann. Sie verweist dazu auf Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Antrag 1850 vor der Berliner Akademie, die Frage nach dem Sprachursprung erneut zu stellen. Die hier manifestierte Unzufriedenheit mit Herders Lösung der Sprachursprungsproblematik sowie die weiterhin entstehenden Abhandlungen über den Ursprung der Sprache und das Diskussionsverbot der Pariser Societé de Linguistique 1866 zum Thema Sprachursprung veranlassen Neis zu der Schlussfolgerung, dass mit Johann Gottfried Herders Abhandlung noch kein Konsens in der Sprachphilosophie eingegangen ist. (vgl. Neis 2003: 553f.) Unsere eigens aufgeführten Argumente hingegen deuten darauf hin, dass die Annahme eines Paradigmenwechsels innerhalb der Sprachphilosophie durch der Ablösung vom göttlichen Sprachursprung mit gleichzeitiger Annahme einer neuen Theorie bestätigt wird. Unstimmigkeiten, die ein Jahrhundert später noch einmal bezüglich der Sprachursprungsfrage auftauchen, werden, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, zum Teil schnell wieder im Keim erstickt. Das folgende Kapitel wird versuchen, die Bezüge zwischen dem Paradigmenwechsel des 18. Jahrhunderts und Johann Gottfried Herders Positionierung innerhalb des Paradigmenwechsels auch noch einmal im Hinblick auf die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts darzustellen. Als exemplarische Textgrundlage wird dazu Jacob Grimms Vortrag Über den Ursprung der Sprache (1852) herangezogen. 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 6 46 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert bildet sich nun mehr eine autarke Disziplin der Sprachwissenschaft heraus. Einer der führenden Sprachwissenschaftler wird Jacob Grimm sein, dessen sprachwissenschaftliche Schrift Über den Ursprung der Sprache als Untersuchungsfläche für die Auswirkungen der Herder’schen Abhandlung auf die Sprachwissenschaft dienen soll. Jacob Grimm verfasste den Vortrag aufgrund der Forderung Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, der eine erneute Ausschreibung der Preisfrage forderte. Schelling zog nach kurzer Zeit diesen Vorschlag wieder zurück. Dennoch hielt Grimm den Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften, um darauf zu verweisen, dass diese Preisfrage eine der wichtigsten in der Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft war. 6.1 Jacob Grimm: Über den Ursprung der Sprache Der Vortrag Über den Ursprung der Sprache scheint für die vorliegende Arbeit nicht nur als Reaktion auf Herders Schrift mit fast einem Jahrhundert Abstand von Interesse zu sein, sondern Grimm beginnt ihn bereits mit einer Reflexion über die Sprachwissenschaft an sich. So schreibt er: Wie man aber auch den im jahr 1770 erlangten und erlangbaren ergebnissen zugethan oder ungeneigt sei, das seitdem die lage der sprachforschung wesentlich oder gänzlich verändert worden ist und darum schon ein versuch, was sie uns gegenwärtig biete, auf jene frage in erneuter antwort anzuwenden wünschenswerth erscheinen mag, da auf jedweden in philosophische oder historische betrachtung zu ziehenden gegenstand die ihm gewordne größere pflege und feinere ausbildung günstig einwirken muß. Alle sprachstudien finden sich nun heutzutage ungleich vorteilhafter gestellt und ausgerüstet, als zu jener zeit, ja sie sind, kann man sagen, erst in unserem jahrhundert zur wahren wissenschaft gediehen. (Grimm 1852: 6) Die Preisfrage über den Sprachursprung veranlasst Grimm achtzig Jahre später zu einem Vergleich über die Situation der Sprachwissenschaft 1770 und 1852. Das geschichtliche Bewusstsein und die Verortung der eigenen Sprachwissenschaft liefern einen Einblick in die Begrifflichkeit vom Historizitätsverständnis Grimms. So definiert er die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert als weitaus ausgereifter. Außerdem sei nun die Sprachwissenschaft wirklich zur „wahren wissenschaft gediehen“ (ebd.). Daraus lässt sich 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 47 eine wesentlich weniger autarke Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert resümieren, die noch zu sehr mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen verknüpft zu sein scheint. Erst das Aufkommen erster Wörterbücher und die ersten Schritte in der Erforschung des Sanskrits ermöglichen die Anerkennung einer selbständig wissenschaftlichen Disziplin der Sprachwissenschaft. (vgl. ebd.: 9) Grimms einleitende Reflexion über die Entwicklung der Sprachwissenschaft mündet in der Darlegung seines eigenen Verständnisses vom Ursprung der Sprache. Dazu eröffnet er seine Schrift mit drei möglichen Lösungen der Sprachursprungsproblematik: Entweder die Sprache ist dem Menschen angeboren oder sie ist durch Gott gegeben oder durch den Menschen selbst erfunden. Die Widerlegung des ersten Gedankens, den einer angeborenen Sprache, illustriert Grimm anhand des folgenden Beispiels: Wir wollen dem für des naturlauts unverrückbarkeit beigebrachten fall einen andern für das unangeboren sein der menschensprache gegenüber halten und einmal setzen, daß auf einem schlachtfeld das neugeborne kind einer französischen oder russischen mutter aufgenommen und mitten in Deutschland erzogen würde; es wird nicht französisch, nicht russisch, sondern gleich allen andern kindern, unter welchen es erwächst, deutsch zu sprechen anheben. seine sprache war ihm nicht angeborn. (ebd.: 16f.) Anders als die Naturlaute des Tieres (oder aber auch die des Menschen, die jedoch nicht zur eigentlichen menschlichen Sprache gehören) kann die menschliche Sprache also keine angeborene sein, da der Mensch je nach Ort als Kind die Sprache erlernt, mit der er aufgezogen wird. Wäre die Sprache eine angeborene, so müssten dem Kind im oben angeführten Beispiel auch bestimmte Merkmale der Sprechorgane angeboren sein, die ihm die Artikulation spezifischer Laute der Sprache des anderen Landes erschweren würden. Jacob Grimm selbst ist von angeborenen Merkmalen in der Anatomie der Sprechorgane allerdings nicht überzeugt und verwirft diesen Gedanken wieder. (vgl. ebd.: 20) Hat die Sprache ihren Ursprung in Gott, so müsste sie dem Menschen nicht direkt mit der Schöpfung mitgegeben worden sein, sondern sich nach der Schöpfung im Gedächtnis des Menschen manifestiert haben, so dass die Sprache von Generation zu Generation weitergegeben werden kann. (vgl. ebd.: 21) 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 48 Wäre die Sprache dem Menschen lediglich direkt bei der Schöpfung mitgegeben worden, so Grimm, hätte sich dem Menschen wie allen anderen „erschafnen unfreien wesen“ (ebd.: 11f.) die geschichtliche Dimension und die Einordnung seiner selbst in ihr nie offenbart. Grimm resümiert, dass die Sprache dem Menschen nicht mit seiner Schöpfung mitgegeben worden sein kann, da sie dann vollkommen sein müsste. Hier eröffnet sich eine Parallele zwischen Grimms und Herders Argumentation gegen den göttlichen Sprachursprung, denn bereits Herder verwarf den Gedanken einer vollkommenen, göttlich gegebenen Sprache. Sprache, so Grimm, befindet sich in einem Entwicklungsprozess und somit nie in einem Zustand der Vollkommenheit, sodass sie nach der Schöpfung dem Menschen durch Gott mitgeteilt worden sein müsste. (vgl. ebd.: 21) Er widerlegt diesen zweiten Gedanken zudem mit der Frage, ob, wenn die Sprache eine von Gott gegebene wäre, wir uns Gott dann auch denkend und sprechend vorstellen dürften. redete, d.h. spräche er menschliche worte, so müsten wir ihm auch menschlichen leib, zumal alle jene leiblichen Organe beilegen, von welchen gegliederte rede abhängt. es scheint mir aber gleich widersinnig einen vollkommenen menschenleib ohne eins seiner gliedmaße, z.B. ohne zähne, als die gottheit mit zähnen, folglich essend sich vorzustellen, da die zähne nach unerer weisen natur zwar mit beholfen sind zum sprechen, hauptsächlich aber zum zermalmen der speise dienen. auf solche weise würde es ganz unmöglich sein, eins der andern glieder des leibs, deren innerer und äußerer einklang unsre höchste bewunderung rege macht, irgend der schaffenden gottheit abzusprechen oder beizulegen. [...] ohne ihres gleichen, doch uneinsam waltet die gottheit allenthalben in der unendlichen natur fülle, des behelfs einer der menschlichen auch nur von ferne vergleichbaren sprache bedarf sie nicht, wie ihre gedanken nicht den weg des menschendenkens gehen (ebd.: 27). Die Komponente von Sprache und Denken als eine menschliche, weil körpergebundene, schließt somit einen menschenähnlichen Gott aus. Das heißt, für das menschliche Denken und die menschliche Sprache gibt es aus der Perspektive Jacob Grimms kein göttliches Vorbild, das gleichzeitig dem Menschen die Sprache gegeben haben könnte. Mit diesem Gedanken schließt Jacob Grimms Widerlegung eines göttlichen Sprachursprungs. 9 Es bleibt nun das dritte Argument zu bestärken: Die Sprache als durch den Menschen selbst erfundene. Hat der Mensch sich die Sprache selbst erfunden, so offenbart sie sich der Forschung der Sprachwissenschaft als ein 9 Hier findetn Jacob Grimms Argumentation der Aspekt der Blasphemie wider. Laut christlicher Tradition darf sich kein Bild von Gott gemacht werden und so wird er als körperlos anerkannt. Ohne Körper hat er jedoch auch nicht die Möglichkeit, Sprache auszubilden, die er dann wiederum an die Menschen weitergeben könnte. So schließt sich der Kreis in der Widerlegung eines göttlichen Sprachursprungs. 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 49 „stufenweise zu stande gebrachtes Werk“ (ebd.: 11f.). Grimm betont also eine prozesshafte Entwicklung der Sprache, die sich auch nochmals als Gegenargument eines göttlichen Sprachursprungs manifestiert. Die Sprache entwickelt sich abhängig von räumlicher und zeitlicher Dimension, innerhalb derer der Mensch lebt. In diesen beiden Komponenten steckt auch „die manigfaltigkeit und abweichung der einem quell entstammenden völker“ (ebd.: 17). In der Darlegung seiner Argumentation, dass die Sprache allein ihren Ursprung im freien Menschen selbst haben kann, entwickelt Grimm im gleichen Zuge die Unterscheidung von tierischer und menschlicher Sprache, um daraus letztlich die menschlichen Sprachmerkmale auf seine eigentliche Argumentation zurückzubeziehen. Sowohl den Tieren als auch den Menschen, betont Grimm, sind die Stimmwerkzeuge ganz natürlich eigen. Jedoch unterscheiden sich die produzierten Laute erheblich voneinander, denn die des Menschen seien „ruhig und gemessen“ (ebd.: 18). Dies habe anatomische Ursachen, denn der aufrechte Gang des Menschen beeinflusse die Lautproduktion in erheblichem Maße. Das Merkmal des aufrechten Ganges findet sich allerdings auch bei Tieren wieder. Grimm benennt den Vogel als dem Menschen durch den aufrechten Gang ähnlich. Ihm ist es möglich, die Laute des Menschen adäquat nachzuahmen und auch selbst imposanten Gesang hervorzubringen. Die Unterscheidung zwischen tierischer und menschlicher Sprache liegt letztlich jedoch in der Denkfähigkeit des Menschen begründet. „Die thiere reden nicht, weil sie nicht denken [...]“ (ebd.: 30). Sobald ein Kind beginnt zu denken, so Grimm, wächst in ihm auch das Bedürfnis des Sprechens heran und so ergänzt sich beides zu einem sich stetig weiterentwickelnden Werk. Die Sprache erscheint als eine fortschreitende arbeit, ein werk, eine zugleich rasche und langsame errungenschaft der menschen, die sie der freien entfaltung ihres denkens verdanken, wodurch sie zugleich getrennt und geeint werden (ebd.: 30f.) Grimm nimmt Sprache, ähnlich wie Herder, als ein in Entwicklungsprozesse involviertes Konstrukt an. Welche Ansätze Herders im Vortrag Grimms als moderne Ansätze antizipiert werden, wird das nachfolgende Kapitel beleuchten. 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 6.2 50 Ansätze Herders als Ursprung der modernen Sprachwissenschaft? Die Parallelen zwischen Johann Gottfried Herders Sprachursprungstheorie und derjenigen Jacob Grimms schimmern im vorangegangenen Kapitel immer wieder durch. Jacob Grimm stützt seine Argumentationskette hauptsächlich auf die Argumente Herders, reflektiert jedoch auch über die Weiterentwicklung der früheren Ansätze, indem er betont, dass sich die Ursachen, auf denen Herders Beweisführung aufbaut, durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse verändert haben. Das Resümee bleibt jedoch in seinen Grundfesten bestehen: Die Sprache kann nur durch den Menschen erfunden worden sein. In Grimms Vortrag kommt aber neben der Bestärkung der Herder’schen Theorie noch mehr zum Ausdruck: Es wird deutlich, dass die sich ausbildende sprachwissenschaftliche Forschung vor allem an dem Entwicklungsprozess, den Herder für die Sprache manifestiert, festhält und dieses Verständnis vertieft. So arbeitet Grimm in seinem Vortrag eine Periodisierung von Sprachstufen heraus: Die älteste sprache war melodisch aber weitschweifig und haltlos, die mittlere voll gedrungener petischer kraft, die neue sprache sucht den abgang an schönheit durch harmonie des ganzen sicher einzubringen, und vermag mit geringeren mitteln dennoch mehr. (ebd.: 39) Bereits bei Herder, analysiert Gaier, lassen sich unterschiedliche Sprachbenennungen ausmachen. So unterscheidet er beispielsweise die Urlaute, zu denen in früheren Zeiten auch der Mensch fähig war, von der wohlartikulierten Sprache des Menschen, die wiederum von vier anderen Sprachstadien divergiert. Auch ist nicht von kumulativen Entwicklungsstadien auszugehen, folgt man Gaier, denn die Urlaute werden nicht als erste Entwicklungsstufe der menschlichen Sprache angesehen, sondern als separiertes Stadium der ersten Lautäußerungen. (vgl. Heise 2006: 24) Grimm arbeitet mit der bei Herder bereits angesprochenen Entwicklungsgeschichte der Sprache weiter, wobei er bereits Verbindungen zwischen den verschiedenen Sprachstufen sieht, wie im zitierten Passus deutlich wird. Die erste Periode der Sprache bezeichnet er dabei als „melodisch“ jedoch auch als „haltlos“. Dieser Aspekt begegnet uns bereits auch schon bei Herder: Die Ursprachen nimmt er als lebendiger als die neueren Spra- 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 51 chen an. Herder konnotiert die alten Ursprachen als positive, nie wieder zu erreichende Periode der Sprache. Mit dieser Mystifizierung weist Herder den alten Ursprachen eine so übergeordnete, glorifizierende Stellung zu, dass es unmöglich erscheint, dass die neueren Sprachen diesen noch erlangen können. Grimm hingegen verlässt diese Ebene der Glorifizierung und gesteht zwar der „mittleren Sprache“ eine höhere poetische Kraft zu, dennoch betont er, dass auch die „neue Sprache“ mit geringeren Mitteln durch Harmonie die fehlende Poetik wettmacht. Der Verweis auf die Harmonie einer Sprache kann gleichzeitig, versucht man mit Grimms Augen Sprache zu betrachten, ein Verweis auf ein sich ausbildendes einheitliches Sprachsystem darstellen. Jacob Grimm zeigt hier bereits eine außerordentliche Sensibilität für Sprachentwicklungsprozesse, die sein weiteres Schaffen innerhalb der diachronen Sprachforschung noch prägen werden. In der neu aufkommenden Frage nach dem Sprachursprung referiert Jacob Grimm auf Herders Abhandlung und verstärkt somit den Eindruck, dass das Verständnis der Geschichte von Sprache und ihrer verschiedenen Entwicklungslinien auch seine eigenen Arbeiten beeinflusst habe. Es sei noch einmal, auch im Sinne einer adäquaten Kuhn’schen Analyse betont, dass Herder zu seiner Zeit nicht der einzige oder gar erste ist, der sich mit dem Geschichtsbegriff von Sprache auseinandersetzt, dennoch prägt – unter anderem aufgrund der Nominierung seiner Preisschrift – sein Ansatz von Sprachgeschichte mitunter den Beginn der aufkeimenden Sprachwissenschaft. Herder führt dann die Ausbildung verschiedener Sprachen auf die Entwicklung unterschiedlicher Familiensprachen zurück, die wiederum zu Nationalsprachen werden. Grimm hingegen, der zum Ende seines Vortrages betont, dass Herder zwar die richtigen Schlüsse jedoch aus den falschen, weil noch nicht erforschten, Ursachen zog, kann bereits auf erste sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse des Sanskrits zurückgreifen. Seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten können also auf Verbindungen zwischen Sanskrit und dem Indogermanischen verweisen und somit die sprachwissenschaftliche Geschichte des Deutschen erweitern. Diese Entdeckung führt Grimm, wenn wir auch hier noch einmal die Kuhn’sche Perspektive anwenden, nicht zu einer Widerlegung der Argu- 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 52 mentation Herders, sondern zu einer Affirmation der Theorie des menschlichen Sprachursprungs jedoch auf einer anderen Grundlage von Fakten. Es scheint sich hier eine wissenschaftliche Schule ausgebildet zu haben, deren Paradigma anerkannt wurde und innerhalb derer es nun um die Verfestigung der paradigmatischen Regeln geht. Das Paradigma definiert sich darin, dass der Mensch sich seine Sprache selbst erfunden habe und sie ihm nicht durch eine göttliche Kraft übertragen worden ist. Eine der wichtigsten Regeln des Paradigmas ist, dass Mensch und Tier gänzlich voneinander zu unterscheiden sind, sodass sie sich auch sprachlich nicht ähneln können. Zuletzt gehört zu der Ausdifferenzierung des Paradigmas, dass der Mensch Vernunft besitzt und das Tier nicht, weshalb das Tier auch nicht dazu fähig ist, Sprache auszubilden. Mit dem zuvor aufgezeigten historischen Verständnis von Sprache geht allerdings noch ein weiterer moderner sprachwissenschaftlicher und auch sprachsoziologischer Ansatz einher: Sprache ist auch ein Produkt von Erziehung. Herder legt diesen Punkt in Zusammenhang mit der dem Menschen eigenen Vernunft dar. Die Vernunft ermöglicht der menschlichen Gattung sich weiterzuentwickeln, da sie ihr Wissen an die nachfolgenden Generationen aufgrund von Sprache weitergeben kann. Diesem Wissenstransfer geht natürlich die Ausbildung der Sprache voraus, die Herder als Familienerzeugnis beschreibt. Die Familie lehrt ihre Kinder die eigene Sprache. Grimm fokussiert in puncto sprachsoziologische Aspekte eher, ob bei der Erlernung von Sprache auch vererbte sprachliche Merkmale ausgemacht werden können. Dabei stellt er sich der Frage, ob ein Kind, das beispielsweise aus einer russischen Familie stammt und in Deutschland in einer deutschen Familie aufwächst, ohne Schwierigkeiten die deutsche Sprache erlernen könne. Da Grimm nicht davon ausgeht, dass anatomische Merkmale der Sprechwerkzeuge vererbt werden, bejaht er diese Frage und verdeutlicht damit zugleich, dass die erlernte Sprache von räumlicher und zeitlicher Dimension abhängt, in der man sich befindet – und nicht von ererbten anatomischen Merkmalen vorgeprägt ist. Wo die Sprache bei Herder, wie bereits angedeutet, als Distinktionsmerkmale der einzelnen Familie, Völker und Nationen dient, sieht Grimm in 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 53 ihr – und dieser Aspekt schließt gleichzeitig gut an den sprachsoziologischen Aspekt an – vielmehr eine einigende Wirkung. So betont er: Die thiere reden nicht, weil sie nicht denken [...]. Das kind beginnt zu reden, wie es anhebt zu denken und die rede wächst ihm wie ihm der gedanke wächst, beides nicht additiv, sondern multiplicativ. Menschen mit den tiefsten gedanken, weltweise, dichter, redner haben auch die größte sprachgewalt; die kraft der sprache bildet völker und hält sie zusammen, ohne solches band würden sie sich versprengen, der gedankenreichthum bei jedem volk ist es hauptsächlich was seine weltherrschaft festigt. (ebd.: 30) Dieser Passus könnte die Annahme nahe legen, dass Herder und Grimm letztlich von zwei unterschiedlichen Perspektiven den Ursprung der Sprache betrachten: Herder nimmt eine gemeinsame erste Familiensprache an, aus der sich wiederum weitere Familiensprachen und zuletzt ganze Völker und Nationen herausgebildet haben. Grimms Argumentation erweckt eher den Anschein, als gehe er nicht d’accord mit Herders Annahme einer einzigen Ursprache. Dieses vorsichtige Herantasten an die Annahme verschiedener Entwicklungslinien von Sprachen entspricht auch die ausgedehntere Faktenlage und Erforschung des Sanskrits. Wesentlich lässt sich also festhalten, dass Grimm die bedeutendsten Argumente Herders in seiner Rede vor der Berliner Akademie übernommen und in die eigene Zeit im Hinblick auf die sich weiterentwickelnde Forschung transponiert hat. Dieser Umgang mit der Herder’schen Abhandlung verweist auf zweierlei: Zum einen scheint die Diskussion um den Ursprung der Sprache noch nicht gänzlich und für alle Wissenschaftler im gleichen Maße abgeschlossen zu sein, denn Grimms Vortrag fußt ja auf der Forderung Schellings, den wissenschaftlichen Diskurs um die Sprachursprungstheorie erneut aufzunehmen. Allerdings darf hier auch die Annahme herangezogen werden, dass sich Schelling noch nicht mit dem neuen Paradigma und der neuen Schule identifizieren konnte. Grimms harsche Reaktion auf Schellings Forderung und die gänzlich positive Einstellung gegenüber Herders Abhandlung verstärken diesen Eindruck. Zum zweiten wird in Grimms Umgang mit der Herder’schen Abhandlung außerdem deutlich, dass eine aktive Auseinandersetzung mit der Periodisierung von Sprachentwicklungsprozessen eingesetzt hat. Das Bild der Sprache an sich hat sich verändert: Sie ist nun nicht weiter ein Element der Schöpfungsgeschichte, sondern sie wird vielmehr zu einem Produkt des Menschen 6 Das Erbe: Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert 54 selbst. Damit beginnt sich aber auch im Allgemeinen das Menschenbild zu verändern. Denn wenn die Sprache ein Konstrukt des Menschen mit einem geschichtlichen Entwicklungsprozess ist, dann muss auch der Mensch sich in Entwicklungsprozessen verorten können. Eine Negierung der Schöpfung der Menschheit durch eine göttliche Instanz bedeutet, dass der Mensch sich selbst als unvollkommenes, nach Progression strebendes Wesen ansieht. Dieser Aspekt fungiert auch in Herders Abhandlung als ein zentrales Schlüsselelement. Der Mensch als ‚Mängelwesen’ trägt in sich den Drang, das eigene menschliche Geschlecht durch Progression zu verbessern. Die Abkehr von einer theologischen Perspektive des Sprachursprungs führt insgesamt zu einer Veränderung des Menschenbildes an sich. Das 18. Jahrhundert – und in Fortsetzung auch das 19. Jahrhundert – bedeutet nicht nur für das gesellschaftliche Leben einen völligen Wandel durch Säkularisierungstendenzen. Vielmehr offenbaren sich auch den wissenschaftlichen Bereichen neue Optionen der Wahrnehmung, wodurch Revolutionen und Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaften möglich werden. Dieser übergeordnete Paradigmenwechsel von einer theologischen hin zu einer eher rationalen, naturwissenschaftlich begründeten Weltanschauung trägt den Kern in sich, dass Wissenschaften, sofern sie sich auf theologische Argumente berufen, in eine Krise geraten. Auch die Sprachphilosophie gelangt in eine solche Krise, die die Berliner Akademie durch ihre Preisfrage versucht zu lösen. Es lässt sich festhalten, dass Johann Gottfried Herder nicht der einzige, innovative Sprachphilosoph war, der sich vom göttlichen Sprachursprung abwendet, dennoch ermöglicht die Nominierung seiner Preisschrift der Sprachphilosophie eine neue Perspektive auf Sprache und sprachliche Entwicklungsprozesse. Letztlich trägt Herder neben dem Verweis auf entwicklungshistorische Prozesse von Sprache auch dazu bei, das Verständnis für Sprache als Konstrukteur des menschlichen Universums zu begreifen. Erst durch die Sprache erschafft sich der Mensch seine Umwelt, Kultur, Religion etc., denn „[d]er Mensch ist ohne natürlich Sphäre und deswegen stumm; erst durch Sprache bildet er eine kulturelle Welt aus“ (ebd.: 29). 7 Fazit 7 55 Fazit Die vorliegende Arbeit fokussierte insgesamt zwei Untersuchungsschwerpunkte: Zum einen setzte sie sich zum Ziel, Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache im Zeitgeist eines etwaigen Paradigmenwechsels der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts zu verorten. Zum anderen sollten die daraus gewonnenen Ergebnisse in den Blick nehmen, inwieweit sich moderne Ansätze der Herder’schen Abhandlung auf die sich entwickelnde Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts auswirken. Das 18. Jahrhundert erweist sich als eine Epoche der Umbrüche, der Abkehr von traditionellen Argumentationsstrukturen hin zu modernen Wahrnehmungs- und Denkmustern. Einsetzende Säkularisierungsprozesse betreffen nicht nur politische und religiöse Umstrukturierungen, sie schlagen sich vielmehr auch in neu aufkeimenden theoretischen Überlegungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen nieder. Durch die sich verändernde Wahrnehmung und die nicht weiter ausreichenden theologischen Erklärungsmodelle entsteht gleichzeitig ein neues anthropologisches Bild: Der Mensch ist, unabhängig von einer göttlichen Instanz, Ursprung erkenntnistheoretischer Ideen. Das Selbstbild und Selbstbewusstsein im ursprünglichen Wortsinne verändern sich. Theologische Begriffe werden mehr und mehr von einem entstehenden Naturbegriff abgelöst, der den Blick auf den Menschen und die durch ihn initiierten Erkenntnisprozesse schärft und zum Zeichen der Epoche der Aufklärung wird.10 In diesem Zeitgeist situiert sich auch die Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts: Die Frage nach dem Ursprung der Sprache, der nun aufgrund jüngsten Veränderung der Wahrnehmungs- und Denkstrukturen nicht weiter als durch Gott gegeben angenommen werden kann, bestimmt den Diskurs der Sprachphilosophie. 10 Mit dem Naturbegriff werden zwar traditionelle, theologische Denkmuster abgelöst und neue Selbstwahrnehmungen des Menschen auf sich selbst ermöglicht, dennoch verschafft der Naturbegriff nicht die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung. Er dient jedoch dazu, die Denkrichtung – auf den Menschen und nicht auf eine göttliche Instanz hin ausgerichtet – zu reformieren. 7 Fazit 56 Johann Gottfried Herder, Johann Peter Süßmilch und Etienne Bonnot de Condillac bewegen sich in dem Zwiespalt der traditionellen und modernen wissenschaftlichen Theorien. Auch der Berliner Akademie der Wissenschaften ist die Spaltung der Sprachphilosophie bewusst und so, wie es scheint, schreibt sie 1769 die Preisfrage nach dem Sprachursprung aus, um die Kontroverse anhand der Nominierung einer Preisschrift beilegen zu können. Die Anwendung der Kuhn’schen Theorie zu wissenschaftlichen Revolutionen und Paradigmenwechseln ergab, dass das, was gemeinhin als Umbruch innerhalb der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts rezipiert wird, bereits die Krise kennzeichnet. Die Fülle an wissenschaftlichen Theorien, die sich im Zuge der Sprachursprungsfrage abzeichnet, verweist eindeutig darauf, dass das alte Paradigma der theologischen Begründung des Sprachursprungs nicht weiter greift. Die Sprachphilosophie gerät in diesem Umbruch so sehr ins Wanken, dass sie bestrebt ist, eine neue Theorie hervorzubringen, die alle nun bestehenden Erklärungslücken zu schließen vermag. Die Berliner Akademie forciert diesen Entwicklungsschritt, indem sie die Preisfrage ausschreibt. Herders daraus hervorgehende Abhandlung über den Ursprung der Sprache vertritt die These des menschlichen Sprachursprungs und wird nachdrücklich sehr positiv von der wissenschaftlichen Gemeinschaft aufgenommen. Die Untersuchung ergab, dass Herder sich innerhalb der Spaltung der wissenschaftlichen Lager in moderne und traditionelle Sprachursprungstheorien mit der ‚modernen’ Seite identifiziert. Seine Kritik an Süßmilchs Schrift lässt keinen Zweifel an seiner Grundüberzeugung eines menschlichen Sprachursprungs zu. Süßmilchs Argumentation, die zirkelschlussartig angelegt ist, kann nur zu dem Schluss führen, dass Sprache dem Menschen von einer göttlichen Instanz gegeben worden ist. Innerhalb der Untersuchung seiner Schrift stach besonders hervor, dass Süßmilch durchaus innerhalb des traditionellen Ansatzes moderne Elemente zulässt, indem beispielsweise seine Beweisführung eher dahin zielt, dass dem Menschen eine Sprachfähigkeit und nicht die Sprache als fertiges Produkt verliehen worden ist. Gleichzeitig verweist Süßmilch fast widersprüchlich immer wieder darauf, dass die Sprache an sich vollkommen sei, worin Herder die größte An- 7 Fazit 57 griffsfläche sieht, denn Sprache, so Herder, ist nicht vollkommen, da sie in Entwicklungsprozesse involviert ist, die immer weiter, wie der Mensch selbst, nach Progression streben. Das hier zugrundeliegende Geschichtsverständnis Herders verweist auf die eigentliche Stärke seiner Abhandlung. Zwar bildet im Sinne der Sprachphilosophie die Abkehr vom göttlichen Sprachursprung die Besonderheit der Abhandlung, doch Herder öffnet den Blick auch für ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein: Wenn die Sprache vom Menschen selbst ausgeht, da nur er sie aufgrund seiner Vernunft ausbilden kann, dann bedeutet das, dass sich Sprache innerhalb von Entwicklungsprozessen ausbildet. Zugleich ist auch der Mensch ein nach Progression strebendes Wesen. Somit kann der Mensch nicht durch einen Schöpfer als vollkommenes Lebewesen erschaffen worden sein. Wenn sich nun der Mensch die Sprache erfindet, bedeutet das, und hierin liegt der besondere Kern der Herder’schen Theorie, dass der Mensch sich selbst, seine Umwelt, seine Kultur und auch die Natur anhand von Sprache konstruiert. Die Erkenntnis, dass der Mensch durch Sprache seine Umwelt und Wahrnehmung entwirft, versucht die Kontroverse um die Ursprungsfrage aufzulösen. Denn wenn der Mensch durch Sprache seine Umwelt hervorbringt, liegt in ihm der Ursprung für die weiteren Entwicklungsprozesse. Wie Heise betont, lebt der Mensch „nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum“ (Heise 2006: 29). Doch Herders Sprachursprungstheorie wurde in der vorliegenden Arbeit nicht allein auf der Folie eines theologisch motivierten Sprachursprungs gelesen, sondern auch mit Etienne Bonnot de Condillacs sensualistischen Überlegungen in Verbindung gesetzt. Der Vergleich beider Theorien offenbarte, dass Herder bei aller Kritik an Condillac durchaus Anleihen bei dessen sensualistischer Theorie macht. Der Grundgedanke des von Condillac ausgebauten sensualistischen Ansatzes ist, dass sich Sprache allein aufgrund von Sinneseindrücken und Empfindungen entwickelt. Äußern sich die ersten Kommunikationsversuche noch in Gebärden und Mimik, werden sie nach und durch Laute unterstützt, bis sich dann die Lautsprache gegenüber der langage d’action durchsetzt. Herder entwickelt daraus die Annahme, dass sich die Töne der Umwelt als Merkmale auf der Seele abbilden und durch Laute widergegeben werden 7 Fazit 58 können – ähnlich der Argumentation Condillacs. Die kritische Stellungnahme Herders gegenüber Condillac verschleiert Herders eigene Affinität dem sensualistischen Ansatz gegenüber und verschachtelt zugleich seine Argumentation mit der Condillacs. Während Condillacs Theorie allerdings lange Zeit – unter anderem aufgrund von Herders starker Diffamierung – in der Sprachwissenschaft unberücksichtigt blieb, erfährt Herders Abhandlung selbst in überaus großem Maße positive Resonanz, sodass er für die weitere Entwicklung der Sprachphilosophie noch eine besondere Rolle einnehmen wird. Hier tritt die leitende Frage in den Vordergrund, inwieweit Herder selbst als Ursprung einer aufkommenden modernen Sprachwissenschaft aufgefasst werden kann. Die Arbeit referierte exemplarisch auf Jacob Grimms Vortrag vor der Berliner Akademie im Jahr 1852 Über den Ursprung der Sprache, um die Auswirkungen der Herder’schen Schrift in der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert nachvollziehen zu können. Der Vortrag Grimms wurde bewusst als Referenztext ausgewählt, da Grimm nach einer erneuten Frage nach der Erforschung des Sprachursprungs durch Schelling explizit die Schrift verfasst und darin Position gegenüber Herders Abhandlung bezieht. Grimm führt dabei im Speziellen den auf die Historizität von Sprache referierenden Aspekt weiter: Er begreift Sprache, wie auch Herder, als etwas Unvollkommenes, nicht von Gott Gegebenes, denn Sprache findet sich immer in Entwicklungsprozesse involviert. Hier bestärkt Grimm Herders These von Sprachentwicklung. Grimm zeichnet jedoch einen anderen Entwicklungsweg der Sprache nach, indem er von einer Periodisierung der Sprache ausgeht, die sich über drei Phasen erstreckt. Es nimmt den Anschein, als seien die drei Phasen nicht gänzlich voneinander getrennt, sondern eine Verbindung von Sprachstufen. Herder, wie bereits ausgeführt, geht zwar von Sprachentwicklungsprozessen aus, negiert jedoch beispielsweise, dass aus den ersten Empfindungslauten Sprache erwachsen sein kann. Es ist Jacob Grimms Schrift anzumerken, dass diese sich bereits im Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der diachronen Sprachwissenschaft, befindet. Grimm betont, dass Herders Abhandlung die richtigen Schlüsse allerdings auf einer anderen Forschungsgrundlage als er selbst zieht. Die fortschreitende Erforschung des Sanskrits ermöglicht der Sprachwissenschaft, 7 Fazit 59 insgesamt neue Perspektiven und Rückschlüsse auf Entwicklungslinien der Sprache zu ziehen. Es zeichnet sich also auch ein sich veränderndes geschichtliches Bewusstsein ab. Herders Historizitätsbegriff einer sich entwickelnden Geschichte der Sprache und Menschheit dient als Hintergrundfolie für die spätere Sprachwissenschaft. Er verknüpft das historische mit dem anthropologischen Verständnis und weist der Sprache somit die Rolle der Wissensvermittlerin zu, wodurch Menschen in gesellschaftlichen Strukturen sich progressiv weiterentwickeln können – im Gegensatz zu Tieren. Herder erkennt, so Heise, als erster die Verbindung von Sprache und Sphäre hat. Die Sprache übernimmt in diesem Verständnis die Funktion, die Unfähigkeit des Überlebens in der Natur resultierend aus Trieblosigkeit zu kompensieren (vgl. ebd.: 29). Damit verändert sich zugleich die Sprache als ein zuvor passiv verstandenes Produkt – Sprache als von Gott gegeben – hin zu einem aktiven, durch den Menschen selbst entwickelten Konstrukt. Die Sprachphilosophie wird letztlich im 19. Jahrhundert zu der eigenständigen Disziplin der Sprachwissenschaft, die unter anderem aufgrund der sich herausbildenden Verknüpfungen von Anthropologie, Sprache und Historizität neue Herangehensweisen an Sprachentwicklungsprozesse entwickelt. Angestoßen wird der Prozess unter anderem durch den Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert und Herders moderne Ansätze innerhalb seiner Abhandlung. Der Paradigmenwechsel ermöglicht einen neuen Umgang mit sprachwissenschaftlichen Fragestellungen. Die sich verändernde Wahrnehmung öffnet den Blick für neue Erklärungsmodelle und Theorien. Schaut man nun aus dem Zeitgeschehen Grimms auf das ausgehende 19. Jahrhundert, so gelangt man zu Hermann Paul, der die Geschichte der Sprachwissenschaft mit seinem Werk Prinzipien der Sprachgeschichte fortsetzt. Er bringt hier die ursprünglichen Überlegungen von der Entwicklung der Sprache als maßgeblich initiiert durch die abgebildeten Vorstellungen auf der Seele mit seinen eigenen Thesen von Kommunikation und Vorstellungen zusammen. Dabei nimmt er an, dass innerhalb von Kommunikation die eigenen Vorstellungen nie auf den Gegenüber übertragen werden können, vielmehr funktioniere Kommunikation nur anhand der Ähnlichkeiten 7 Fazit 60 der Vorstellungen. Der Lebensraumbezug nimmt dabei eine wichtige Rolle ein: Ähnliche Lebensräume verursachen ähnliche Vorstellungen und ermöglichen Kommunikation. (vgl. Paul 1966: 14f.) Paul nimmt die in der Untersuchung vorgestellten Erkenntnis- und Sprachmodelle auf und überträgt sie auf den soziolinguistischen Wissenschaftsbereich. Herders These einer Ausbildung von Nationalsprachen, die wiederum nicht darauf ausgelegt sind, dass die Völker untereinander kommunizieren, findet sich indes bei Paul in einem anders ausgerichteten Blickwinkel – einem eher sprachsoziologischen – wieder. Herders sprachursprungstheoretische Überlegungen werden also durchaus in Aspekten wie Historizität von Sprache, Sprache und ihre anthropologischen Merkmale sowie Sprache als distinguierendes Merkmal in der weiterschreitenden Geschichte der Sprachwissenschaft antizipiert. Sie erhalten durch den fortschreitenden Zeitgeist zwar ein neues Gesicht, die ursprünglichen Ansätze jedoch lassen sich in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache wiederfinden. Für die heutige Sprachwissenschaft bleibt die Forderung nach einer kritischen Rezeptionsgeschichte der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache festzuhalten. Die vorliegende Arbeit ist als erster Versuch einer umfassenderen Darstellung Herders im wissenschaftlichen Zeitgeist des 18. Jahrhunderts zu verstehen. Sie bindet Herder in den Zeitgeist der Aufklärung mit ein und verweist auf seine modernen sprachwissenschaftlichen, anthropologischen und historischen Ansätze, die in der Entstehung der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen werden, ohne Herder selbst als Initiator des Paradigmenwechsels einzuordnen. 8 Literaturverzeichnis 8 61 Literaturverzeichnis Primärliteratur Condillac, Etienne Bonnot de (2006): Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt. Übersetzt, herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Angelika Oppenheimer. Würzburg: Königshausen & Neumann. Grimm, Jacob (1852): Über den Ursprung der Sprache. Berlin: Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung. Herder, Johann Gottfried (1978): Johann Gottfried Herder. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. Herausgegeben von Wolfgang Proß. München/Wien: Hanser (Reihe Hanser Literatur-Kommentare Bd. 12). Kuhn, Thomas S. (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Paul, Hermann (1966): Prinzipien der Sprachgeschichte. 7. Aufl. Tübingen: Niemeyer. Süßmilch, Johann Peter (1766): Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe. Berlin: Buchladen der Realschule. Sekundärliteratur Braun, Edmund (1996): Der Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gaier, Ulrich (1988): Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstadt: frommann-holzboog (problemata Bd. 118). Gesche, Astrid (1993): Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen. Würzburg: Königshausen & Neumann (Epistemata Reihe Lieteraturwissenschaft Bd. 97). Heise, Jens (2006): Johann Gottfried Herder zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag. Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 8 Literaturverzeichnis 62 Lyons, John (1975): Einführung in die moderne Linguistik. 4. Aufl. München: C.H. Beck. Neis, Cordula (2003): Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin/New York: de Gruyter (Studia Linguistica Germanica, 67). Ricken, Ulrich (1984): Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Sprachtheorie und Weltanschauung. Berlin: Akademie-Verlag (Sprache und Gesellschaft, Bd. 18). Ricken, Ulrich (1988): Condillac: Sensualistische Sprachursprungshypothese, geschichtliches Menschen- und Gesellschaftsbild der Aufklärung. In: Joachim Gessinger/Wolfert von Rahden (Hrsg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. Bd. 1. Berlin/New York: de Gruyter. S. 287-311. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (1984): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6: Mo-O. Basel/Stuttgart: Schwabe & Co AG. 9 Anhang 9 63 Anhang Erklärung Ich versichere, dass ich die vorliegende Abschlussarbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken und Texten entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quellen als Entlehnung deutlich gemacht. __________________________ (Schönfelder, Nora) __________________________ (Ort, Datum)
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