Selbstbestimmte Pflege auf der Kippe Bericht: Christian Werner

Selbstbestimmte Pflege auf der Kippe | Manuskript
Selbstbestimmte Pflege auf der Kippe
Bericht: Christian Werner
Alltag für Steffen Kürschner. Seine Assistentin Nicole bringt ihm sein Frühstück.
Was möchtest du zuerst?
Den Aufschnitt.
Hast du die Nacht gut geschlafen?
Ja, sehr gut. Es war nicht so warm.
Na, das ist ja schon mal viel wert.
Seit einem Unfall vor 17 Jahren ist Steffen Kürschner vom Hals abwärts gelähmt, kann weder
Arme noch Beine bewegen. 2006 beantragt er das sogenannte Assistenz-ArbeitgeberModell. Menschen mit Behinderungen haben damit ein Budget zur Verfügung, mit dem sie
ihre Assistenten bezahlen und ihre Pflege selbst organisieren können. So legt Steffen
Kürschner beispielsweise selbst fest, wann er ein paar Besorgungen in seinem Heimatort
Nebra erledigt.
Steffen Kürschner
Durch das Assistenzmodell kann ich spontaner entscheiden, selbstbestimmter entscheiden
wann ich wo hin möchte, beim Pflegedienst müsste ich es anmelden und ich glaube auch
nicht, dass diese Leistungen für den Pflegedienst finanzierbar oder abrechenbar wären.
Im vergangenen Sommer besuchen wir Steffen Kürschner das erste Mal. Da steht seine
Selbstbestimmung auf der Kippe. Der Grund: ein Rechtsstreit mit der Sozialagentur SachsenAnhalt. Doch der Reihe nach. Das Assistenz-Modell wird aus mehreren Töpfen finanziert: von
der Pflegekasse, der Krankenkasse und der Sozialagentur.
Nicole.
So ich werde jetzt einen Katheter legen, um die Blase zu entleeren.
Frage: Wie oft müssen Sie das machen?
So aller vier- fünf Stunden.
Das überlebensnotwendige Kathetern ist eine medizinische Leistung und gehört zur
Behandlungspflege. Die zahlt die Krankenkasse - monatlich fast 1.300 Euro. Dagegen
gehören Waschen, Wohnung putzen oder Essen reichen zur Grundpflege - gezahlt von der
Sozialagentur. Kostenpunkt über 8.000 Euro im Monat. Aus Sicht der Sozialagentur eine
Doppelbezahlung. Sie kürzte deshalb vor sechs Jahren ihre Zuschüsse um rund 1.300 Euro
und fordert außerdem knapp 50.000 Euro von Steffen Kürschner zurück. Seitdem tobt ein
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juristischer Streit. Für Rechtsanwalt Detlef Langbein verstößt die Sozialagentur
geltendes Recht.
gegen
Detlef Langbein, Rechtsanwalt
Der Rechtskonflikt liegt darin, dass die Sozialagentur sagt, wir bringen Leistungen der Hilfe
zur Pflege, das heißt konkret, sie bezahlen dieses Assistenzmodell, die sämtlichen
Pflegekräfte des Herrn Kürschner rund um die Uhr und damit meinen sie, ist auch die
medizinische Leistung eingeschlossen, das konkrete Kathetern, welches lebensnotwendig
ist und wir sagen, diese medizinische Leistung ist eine besondere Leistung, die zusätzlich
zur normalen Hilfe, zur normalen 24 Stundenhilfe bezahlt werden muss.
Steffen Kürschner hat keine 50.000 Euro. Er fürchtet, dass er sein Haus verliert und in ein
Heim ziehen muss. Trotz unterschiedlicher Vorschläge für eine gütliche Einigung, lenkt die
Sozialagentur nicht ein. Die Behörde kümmert sich in Sachsen-Anhalt um pflegebedürftige
Menschen und wird vor Ort durch die Sozialämter vertreten. Im Fall von Steffen Kürschner
das Sozialamt in Naumburg. Das lehnt ein Interview ab, schriftlich heißt es, man bleibe der
Haltung.
Ortswechsel, Hamburg. Sitz der Rechtsanwaltskanzlei Menschen und Rechte, die sich auf
solche Fälle spezialisiert hat und immer wieder Prozesse rund ums Arbeitgeber Assistenz
Modell führt. Oliver Tolmein sieht ein grundsätzliches Problem in der Gesetzgebung.
Rechtsanwalt Oliver Tolmein
Man muss sich klar werden, dass Pflege ja Voraussetzung ist für Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben. Wenn ich nicht gepflegt werde, wenn ich niemanden habe, der
mir aufs Klo hilft, kann ich nirgendwo hingehen. Deswegen muss man sagen, das ist eine
Teilhabeleistung und als Teilhabeleistung gehört nicht in die Sozialhilfe, sondern gehört in
ein eigenes Gesetz, in ein Bundesteilhabegesetz zum Beispiel, über das zurzeit gesprochen
wird.
Der Rechtsanwalt erlebt ein Vorgehen wie das der Sozialagentur Sachsen-Anhalt häufig.
Seine Erfahrungen mit den Ämtern sind eher ernüchternd.
Oliver Tolmein, Rechtsanwalt
Sozialagenturen haben häufig den Eindruck oder die Mitarbeiter oder die Sachbearbeiter
in Sozialagenturen sie verteilen dort ihr eigenes persönliches Geld oder sie sehen am Ende
kommen da 12 000 Euro für Pflege im Monat raus und denken sich, 12 000 Euro im Monat,
ich habe das ja auch nicht. Also es gibt da eine Form von Sozialneid in den Agenturen, der
ist völlig unbegründet. Es geht ja nicht darum, dass die sich, die Betroffenen sich
persönlich bereichern, es geht darum, dass sie ihre Pflege bezahlen können.
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Für Cornelia Lüddemann von den Bündnisgrünen ist die Sozialagentur Sachsen-Anhalt
mittlerweile ein rotes Tuch. Schon seit Jahren gibt es immer wieder Beschwerden von
karitativen Vereinen und Verbänden über die Arbeitsweise der Agentur. Trotzdem komme
diese bis heute nicht ihren Aufgaben nach.
Cornelia Lüddemann, Bündnis 90 Sachsen-Anhalt Sprecherin für Soziales, Kinder und
Jugend
Dann haben wir regelmäßig die Fälle, dass die Betroffenen klagen und wir haben
regelmäßig den Fall, dass die Betroffenen gewinnen. Da muss man doch irgendwann mal
sagen, Leute hier läuft irgendwas falsch. Die Sozialagentur ist viel zu weit weg von den
Realitäten der Menschen, die Sozialagentur ist nicht in der Lage, wenn sie nur nach Akten
entscheidet, wirklich sachgerechte Entscheidungen zu treffen.
Vor einigen Wochen besuchen wir Steffen Kürschner erneut. An seiner Situation hat sich
nichts geändert. In den vergangenen Monaten hatte er noch mit einem weiteren Problem zu
kämpfen. Die Barmer Ersatzkasse wollte ein Insolvenzverfahren gegen ihn einleiten. Der
Grund: Steffen Kürschner konnte die Beiträge für seine Angestellten nicht regelmäßig
bezahlen, weil ihm das Geld von der Sozialagentur fehlte. Ein Teufelskreis. Erst als sich exakt
einschaltet und der BARMER den Fall schildert, kommt es zur Einigung
Dann haben wir uns auf eine Ratenzahlung geeinigt, dass wir die Außenstände in 200 Euro
Raten monatlich zahlen kann.
Das zumindest ist eine gute Nachricht. Der entscheidende Rechtsstreit mit der Sozialagentur
geht in drei Wochen vor Gericht. Seit Jahren schwebt über Steffen Kürschner ein
Damoklesschwert, das er nicht einfach ignorieren kann. Langsam zermürbt ihn das.
Steffen Kürschner
Na ja klar, das sind 50.000 Euro, die nach noch irgendwo schweben, die sie mir anlasten.
Also das im Hinterkopf immer da. Ich habe nur meine Rente und davon das Haus zu halten,
das klappt eh grad so und wenn da noch solche Forderungen im Raum stehen, dann sind
da schon Zukunftsängste da und Existenzängste.
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