Meine Zeit steht in deiner Hand - lebenswert-im

Aus WeissesKreuz – Zeitschrift für Lebensfragen Nr. IV/2000 – Nr. 4
Dr. theol. Hansjörg Bräumer
Meine Zeiten stehen in deiner Hand
Aber ich - auf dich, Jahwe, vertraue ich.
Ich spreche: „Mein Gott bist du!“
Meine Zeiten sind in deiner Hand.
Psalm 31, 15. 16a
Es war am ersten Schöpfungstag: Gott schuf den Himmel und die Erde, und er schuf die Zeit.
Zeit ist der stete Wechsel von Hell und Dunkel in der Natur, der alles Leben lenkt. Auf den
Abend folgt der Morgen, aus Abend und Morgen entsteht ein Tag, auf den weitere Tage folgen. Die Zeit ist ein Schöpfungswerk Gottes. Was das Leben auf dieser Erde betrifft, kann die
Zeit sogar „das erste Schöpfungswerk“ genannt werden (vgl. Christoph Domen, Magnificat
6/2000, S. 5).
Der alttestamentliche Begriff für Zeit kann übersetzt werden mit Zeitpunkt oder mit Zeitspanne. Außerdem kennt das Alte Testament den Begriff Zeiten. Wenn das Alte Testament von
den Zeiten, der Abfolge von den aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten spricht, dann bedeutet
dies soviel wie das Geschick des Menschen (vgl. Kronholm, ThWAT, Bd. VI, S. 474). Dies
kommt in besonderer Weise zum Ausdruck in dem Gebetsruf Davids, den Luther überträgt:
Meine Zeit steht in deinen Händen. Wörtlich übersetzt heißt dieses Urwort des Vertrauens: In
deine Hand sind meine Zeiten, in deine Hand ist mein Geschick!
Das biblische Wort Geschick hat nichts zu tun mit einem blinden Schicksal. Vom blinden
Schicksal oder von Schicksalsschlägen spricht nur der, der keinen persönlichen Gott kennt.
Über seine Lippen kommen schnell die Worte: „Es kommt alles, wie es kommen muß.“ Eine
solche Einstellung ist der Glaube der Fatalisten. Für jeden aber, der an dem persönlichen Gott
festhält, an Gott dem Vater und Jesus dem Retter, gibt es kein blindes Schicksal, kein willkürliches Geschick. Für den Glaubenden ist jedes Geschick eine Schickung Gottes. Als David
von seinen Zeiten, von seinem Geschick sprach, leitete er seine Worte ein mit dem allen blinden Schicksal sich entgegenstellenden Ich-Aber ich vertraue auf dich. Das „Aber ich“ ist die
entschlossene Abkehr von der menschlichen Art und Gewohnheit.
Ich aber ergebe mich nicht einem blinden Schicksal.
Ich aber weiß mich in Gottes Hand.
Ich bin gewiß, daß jedes Geschick eine Schickung Gottes ist.
Das erste Geschick eines Menschen, das allein und fest in Gottes Hand liegt, ist die Zeit im
Mutterleib.
I. Die Zeit im Mutterleib
Schon im Mutterleib, ehe sich der Mensch seiner selbst bewußt wurde, nimmt Gott das Geschick eines jeden Menschen in seine Hand. „Du kennst mich... Du bist es, Gott, der meine
Nieren gebildet hat, mich gewoben in meiner Mutter Schoß“, so betet David Gott an und fährt
dann fort:
„Meine Knöchlein waren dir nicht verborgen,
als ich im Geheimen gebildet ward,
kunstvoll gewirkt in der Tiefe der Erde.
Deine Augen sahen mich als ungeformten Keim,
und in deinem Buch standen eingeschrieben
alle Tage, die vorherbestimmt waren,
als noch keiner von ihnen da war.
(Psalm 139, 1+13+15+16 nach Menge)
Kein Mensch ist nur das Ergebnis einer intimen Verbindung von Mann und Frau. Keiner ist
ein Unglücksfall, weil seine Eltern sich nicht ausreichend gegen ihn geschützt haben. Jeder ist
ein Gedanke Gottes - ein Gedanke seiner Liebe. Wenn es in der Bibel heißt: „Du, Gott, kennst
mich“, dann bedeutet dies nicht, du bist ein Oberaufseher, der mich kontrolliert, belauscht und
verfolgt. „Du kennst mich“ heißt vielmehr: Du liebst mich! Du hast mich aus Liebe geformt.
Du, Gott, siehst mich an mit den Augen der Geduld. Du hast eine ganze Ewigkeit darauf gewartet, daß ich ins Dasein gekommen bin.
Jeder einzelne Mensch ist von Gott um seiner selbst willen gewünscht und geschaffen. Kein
Mensch ist mit einem anderen vergleichbar. Jeder von uns ist einmalig und unvertauschbar.
Mein und Ihr Leben sind dazu bestimmt, mit Gott verbunden zu bleiben und dadurch reich
und groß zu werden. Der Kirchenvater Johannes Chrysostomus faßt dies in die Worte: „Menschenfreundlich ist Gott, und er sehnt sich nach unserem Heil.“
Wenn ich erfassen kann, daß Gott mich meint, mich ganz persönlich, dann erfahre ich, was
der Sinn meines Lebens ist. Nur wenn ich weiß, ich komme aus Gottes Hand, kann ich in Gottes Hand bleiben. Gottes Augen waren auf mich schon im Mutterleib gerichtet. Gott wendet
seine Augen in keinem Abschnitt meines Lebens von mir ab.
II. Die Zeitabschnitte meines Lebens
Die Lebenszeit eines Menschen gliedert sich in Abschnitte, die sich durch das voranschreitende Lebensalter ergeben: Kindheit, Jugend, Höhe des Lebens und der Lebensabend. Die
Zeit besteht aus einzelnen Zeiträumen. Sie ist nicht vergleichbar mit einer Linie, sondern mit
einzelnen Epochen, von der jede ihre eigene Bedeutung und Füllung hat. Jede dieser Epochen
ist eine Herausforderung, keine ist umsonst. Es gibt keine Zeitepoche - so ist es Gottes Wille ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Erfüllung. Keinem Menschen bleibt es jedoch erspart, die Zeitmomente in eigener Entscheidung und Verantwortung zu bewältigen und zu erfüllen. Dies gilt
auch für die schlechten, die schweren Zeiten, die Zeiten, die nicht gefallen.
1. Zeiten, die nicht gefallen
Es gibt schwere Zeiten, die keinem Menschen erspart bleiben. Sie sind bestimmt von Einsamkeit, dunkler Lebensführung, Schmerzen und Krankheit. In seinem Buch „Krankheit als Krise
und Chance“ schreibt Edgar Hein: „Ein Erwachsener macht in 25 Jahren seines Lebens durchschnittlich folgende Krankheiten durch: 1 lebensbedrohliche, 20 ernsthafte, 200 mittelschwere
Erkrankungen.“
Die schweren Zeiten in unserem Leben sind keine blinden Schicksalsschläge, sondern Herausforderungen, die es zu bestehen gilt. Dabei stößt jeder Mensch an die Grenze seiner Kraft.
Keinem bleibt die Angst erspart. Die Angst vor den Schmerzen. Die Angst, ob ich bestehen
kann. Die Angst, ob ich auch wirklich bei Gott bleibe. Wer in Gottes Hand bleiben will, kann
mit den Worten von Oskar Loy beten:
Von Angst - viel heimlicher Angst
sind unsere Tage umstellt im ganzen Leben.
Wem bin ich nun ausgeliefert,
einem blinden Schicksal,
das seine Hand im Spiel hat,
einer unbekannten Macht?
Laß mich erkennen, mein Gott,
es waltet dein Rat.
Du hast alles bedacht,
du hältst meine Zeit,
mein Leben,
in deiner Hand.
Herr, mach du mich frei
von allem ruhelosen Fragen und Tun.
Laß mich in deinen Händen ruh’n.
Gott hat uns nicht nur gewollt. Er erhält uns auch am Leben. Sein Ja zu uns trägt alles. Er ist
bei uns in den Zeiten, die nicht gefallen. Er will, daß wir mit der uns anvertrauten Zeit verantwortlich umgehen - mit den guten und den schweren Zeiten.
2. Der Umgang mit unserer Zeit
Ob wir verantwortlich mit unserer Zeit umgehen, zeigt sich nirgends deutlicher als an unserem
Terminkalender. Trotz aller Mühe und Terminkalender-Seminaren wird kein Mensch genügend Zeit haben, alles tun zu können, was er sich wünscht. Die Grenzen unserer Zeit sind gesetzt durch die Natur, die Gesundheit, im letzten aber durch Gott, den Schöpfer von Sein und
Zeit. Gottfried Hänisch macht dies deutlich durch die Aktualisierung eines Gleichnisses Jesu:
Ein Mann hatte einen großen Terminkalender und sagte zu sich selbst: Nun sind alle Termine
eingeschrieben, aber noch sind die Tagungen X und die Tagungen Y, die Sitzungen des Arbeitskreises und des Gemeinderates nicht eingetragen. Wo soll ich sie alle unterbringen?
Und er kaufte sich einen größeren Terminkalender mit Spalten für die Nachtstunden, plante
noch einmal, schrieb alle Tagungen und Sitzungen ein und sagte zu sich selbst: Nun sei ruhig,
liebe Seele, du hast alles gut geplant. Versäume nur nichts!
Je weniger er versäumte, um so mehr stieg er im Ansehen und wurde in den Ausschuß KO und
in den Ausschuß KA gewählt, Zweiter und Erster Vorsitzender, Präsident. Und eines Tages
war es dann soweit und Gott sagte: „Du Narr, diese Nacht stehst du auf meinem Terminkalender!“
(vgl. Magnificat 6/2000, S. 4+5).
Wer seine Zeitabschnitte ohne mit Gott zu rechnen lebt, hat den Sinn und das Ziel seines Lebens verfehlt. Es kommt alles darauf an, daß wir jeden unserer Zeitabschnitte bewußt annehmen und durchleben. Wie dies geschieht und wie wir unsere Zeitabschnitte füllen können,
zeigt Gott bereits zu Beginn der Schöpfung.
Gott schuf nicht nur die Zeit, sondern er gliederte sie in den Rhythmus von Ruhe und Arbeit.
Dabei steht an erster Stelle die Ruhe.
• „Gott setzte den Menschen in den Garten Eden“ kann übersetzt werden: Gott läßt den
Menschen zur Ruhe kommen (vgl. 1. Mo 2,15).
• Gott gibt dem Menschen das Geschenk der Arbeit. Er trägt ihm auf, den Garten zu bebauen
und zu bewahren (1. Mo 2,15). Die Verben „bebauen“ und „bewahren“ umfassen jegliche
menschliche Arbeit. Ein Leben ohne Arbeit ist kein menschenwürdiges Dasein. Sie gehört
zur Bestimmung des Menschen von Anfang an.
• Gott ruhte am siebten Tag (1. Mo 2,3). Gott gliederte die Zeit in sechs Werktage und einen
Ruhetag (2. Mo 20,11). An diesem Ruhetag ist der Mensch frei von der Arbeit und damit
frei für Gott. Der erste Lebenstag des Menschen war der Ruhetag. Er soll aus der Ruhe heraus an seine Arbeit gehen, und sie soll einmünden in den Ruhetag.
„Die Krönung des Menschen ist die Arbeit. Die Krone der Arbeit ist aber nicht wieder Arbeit,
sondern der Feiertag“ (Bischof Hengsbach).
Zu den Zeitabschnitten, die es bewußt vor Gottes Angesicht zu durchleben und zu erfüllen
gilt, zählen auch die Augenblicke vor der Ewigkeit.
III. Die Augenblicke vor der Ewigkeit
Die von Gott geschaffene und jedem Menschen anvertraute Zeit mündet ein in zwei letzte
Augenblicke: in den Augenblick des Todes und in den Moment des Stehens vor Gottes Thron.
Der Schöpfer der Zeit hat eine völlig andere Beziehung zur Zeit als die Menschen. Vor Gott
sind einmal 1000 Jahre wie ein Tag. Zum anderen gilt vor ihm ein Tag wie eine Stunde im
Leben eines Menschen, in dem sich dieser für Jesus entscheidet als Ewigkeit. In der Entscheidung für Jesus wird ein Tag zur Ewigkeit.
1. Der Augenblick des Todes
Die Zeit des Menschen, wie sie die Bibel versteht, ist nicht vergleichbar mit einem Strahl, der
sich im Nichts verliert. Weit treffender ist der Vergleich mit einer Spirale, bestehend aus lauter kleinen Zeitabschnitten bzw. Zeitpunkten, deren Bewegung in das von Gott gesetzte Ziel
einmündet. Im griechischen Alten Testament und im Neuen Testament wird die Zeit im Sinne
dieses Zielpunktes beschrieben mit dem Wort kairos. Kairos ist die Zeit unter starker Betonung der göttlichen Zielsetzung. Gott hat jedem Menschen ein letztes Ziel gesetzt.
Der letzte Zeitabschnitt auf dieser Welt gleicht dem Durchschreiten einer dunklen Tür. Es gilt,
wie es in einem Psalm heißt, das finstere Tal, das Tal des Todes zu durchschreiten (Ps 23,4).
Diese Tür ist aber nur ein kurzes Durchgangsstadium. Nach dem Tod öffnen sich eine unendliche Helle und Weite. Und hinter dieser Tür erwartet die Menschen, die an Jesus glauben,
nichts anderes als die Hand Gottes, des Vaters. Der Tag des Todes ist der letzte Zeitmoment
in diesem Leben. Aber gerade von ihm gilt: „Er endet und ruht in Gottes Hand.“ Diese Gewißheit ist Trost im Sterben, aber auch der einzige Trost für den, der um einen Verstorbenen
trauert.
Die Hand Gottes, des Vaters, ist seit der Rückkehr Jesu in das Reich der Himmel gleichzeitig
die durchgrabene Hand Jesu. Er, Jesus, sitzt mit dem Vater auf dem Thron, an dem sich das
ewige Geschick des Menschen entscheidet.
2. Das Stehen vor Gottes Thron
Wenn David betet: „Meine Zeiten stehen in deiner Hand“, so umfaßt der Begriff „Zeiten“
nicht nur die Stunde des Todes, sondern auch das Stehen vor Gottes Thron. Der griechische
Begriff kairos ist einmal - wie wir bereits sagten - der Zeitpunkt unter besonderer Betonung
der göttlichen Zielsetzung, und zum anderen ist er der Fachausdruck für das Ende und das
Endgericht.
Seit Jesu Himmelfahrt sitzt Jesus zur Rechten Gottes. Er sitzt auf seinem Richterstuhl als
Schöpfer und Neuschöpfer. Jesu Richten ist nur für die, die sich ganz bewußt aus Gottes Hand
gelöst haben, ein Wegschicken in die ewige Gottferne. Jesus nimmt den Menschen so ernst,
daß er ihn bei der von ihm getroffenen Entscheidung beläßt. Hat sich ein Mensch dazu entschieden, die Zeiten seines Lebens ohne Gott zu verbringen, so wird dieser auch in der Gottferne bleiben.
Diejenigen aber, die Jesus als ihren persönlichen Heiland angenommen haben und in den Zeiten ihres Lebens immer wieder zu ihm zurückfanden, können mit Zuversicht und Freimut vor
seinen Thron treten. Sie erleben die zweite Bedeutung des Wortes „richten“. Richten heißt
nicht nur, den Menschen ewig in seiner Gottferne zu belassen, sondern auch richtig und recht
machen.
Jesus macht bei denen, die ihm nachfolgen, alles, was verbogen und falsch war, richtig und
recht. Dabei ist er der Richter, der Schöpfer und Neuschöpfer. Er ist der Vollender des Lebens, das Gott im Mutterleib geschaffen hat. Auf die Frage: Gibt es denn überhaupt nichts, das
wir vor Jesu Thron mitbringen können?, gibt Marcia Moore folgende Antwort: „Das einzige,
was du durch jene Himmelstür mitnehmen wirst, ist das, was du verschenkt hast.“ Dies gilt im
besonderen für die Zeit.
• Es sind die Zeiten, die Ruhetage, die wir Gott geschenkt haben.
• Es sind die Zeiten, die wir anderen Menschen schenkten, um für sie da zu sein und sie ein
Stück weit zu begleiten.
Das Gebet Davids „Meine Zeiten sind in deiner Hand“ umfaßt die Zeit des Menschen im Mutterleib, die Zeiten der Lebensabschnitte bis hin zu den letzten Augenblicken des Todes und
des Stehens vor Jesu Thron. Gottes Augen, die auf uns gerichtet sind, sind Augen der Liebe.
Er schaut uns voll Liebe an und will in uns das Beste wecken - unsere Liebe zu ihm.
Mit den Worten des Kirchenvaters Augustinus können wir beten: „Schaue mich an, so daß
ich dich liebe.“ Schon im Mutterleib schaute uns Gott an mit seinen Augen der Liebe. Jeder
Mensch ist ein Gedanke der Liebe Gottes. Der Zielpunkt unserer Zeiten ist es, Gott, unseren
Schöpfer, zu lieben, die Menschen, die mit uns sind, zu lieben und Jesus zu lieben, der uns
erlöst hat und vor dem Richterstuhl freisprechen wird.
Dr. Hansjörg Bräumer, Jg. 1941; Studium der Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Göttingen, dort Promotion; seit 1977 Vorsteher der Lobetalarbeit in Celle. (Stand: 2000)