Brennpunkt l Alters- und Generationenpolitik Alters- und Generationenpolitik l Brennpunkt «Pflegende Angehörige sind eine wichtige Ressource» Ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen wären viele Senioren gezwungen, ins Alters- oder Pflegeheim zu gehen – mit entsprechenden Kostenfolgen fürs Gemeinwesen. Ein Forschungsprojekt der Fachhochschule St. Gallen geht der Frage nach, wie man diese wertvolle Ressource bewahren kann. Projektleiter Martin Müller sagt, wo die Gemeinden ansetzen könnten. Interview: Marcel Müller Die Menschen werden immer älter und wollen so lange wie möglich selbstständig zu Hause leben. Wie kann die kommunale Politik dieser Entwicklung begegnen? Martin Müller: Bisher konzentrieren sich viele Gemeinden noch stark auf das Dienstleistungsangebot für ältere Leute wie Spitex, Mahlzeiten- und Fahrdienste. Es wäre aber wichtig, dass sie stärker die verschiedenen Dimensionen, die das Leben und das Alter haben, in den Blick nehmen. Für viele Senioren stellt zum Beispiel die alltägliche Versorgung ein Problem dar, seit es kaum noch Quartierund Dorfläden gibt. Als Konsequenz Das Projekt Das Forschungsprojekt «Unterstützung pflegender und betreuender Angehöriger älterer Menschen – Entwickeln und Validieren verschiedener Handlungsansätze» der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen (FHS) hat zum Ziel, das Unterstützungsnetz für pflegende respektive betreuende Angehörige älterer Menschen auf die zukünftigen Anforderungen passgenau auszugestalten. Durch die Entwicklung eines dynamischen Modells soll es möglich werden, die Situation von pflegenden Angehörigen genauer abzubilden und besser zu verstehen, um die Ressourcen und die Bereitschaft der pflegenden / betreuenden Angehörigen langfristig zu fördern respektive aufrecht zu erhalten. Dabei werden die Lebens- und Pflegequalität aller Akteure des Handlungsfeldes berücksichtigt. Analysiert wurde die Situation in den Städten Chur, Schaffhausen und St. Gallen. Aus der Untersuchung sollen konkrete Empfehlungen für die drei untersuchten Städte hervorgehen. Das dreijährige Forschungsprojekt wird im Februar 2016 abgeschlossen. Weitere Infos unter: www.fhsg.ch 16 l kommunalmagazin.ch stellt sich die Frage, wie sich die Mobilität der Senioren aufrechterhalten lässt, damit sie dennoch selber einkaufen können. Ein weiteres, scheinbar banales, aber häufig geäussertes Anliegen älterer Personen sind mehr Sitzgelegenheiten im öffentlichen Raum. Hinzu kommen bauliche Schranken und verkehrsplanerische Aspekte, die Senioren das Leben erschweren, etwa Lichtsignale, die zu schnell umschalten. Sinnvoll ist sicher auch, wenn Selbsthilfen und soziale Netzwerke gefördert werden. Sonst wird man gerade in der Pflege zusehends an den Anschlag kommen, finanziell und personell. Welche Bedeutung haben die Angehörigen in der Alterspflege? Die Angehörigen sind eine wichtige Ressource. Gemäss einer Hochrechnung pflegen in der Schweiz etwa 171 000 Personen Angehörige. Insgesamt leisten sie jährlich 64 Millionen Stunden. Würden sie mit einem Stundenlohn von 55 Franken bezahlt, wäre ihre Arbeit 3,5 Milliarden Franken pro Jahr wert. Pflegende Angehörige sind Laien. Inwiefern beeinträchtigt das die Pflegequalität? Wenn die Pflegenden überfordert sind, kann es durchaus zu Problemen kommen, die im Extremfall bis hin zu Vernachlässigung oder Gewalt gehen können. Im Allgemeinen ist die Betreuungsqualität für die Patienten aber sehr viel besser, weil sie eine konstante Bezugsperson haben, die ihnen vertraut ist und die oft 24 Stunden pro Tag da ist. Das ist fast nicht zu ersetzen und hat einen grossen Wert. Wie steht es in der Schweiz um die Bereitschaft, Angehörige zu pflegen? Die Ressource ist aus mehreren Gründen gefährdet. Zum einen werden die Familien kleiner. Es gibt darum weniger Leute in der Verwandtschaft als früher, die überhaupt in Frage kommen. Zum anderen wird es immer weniger als Verpflichtung empfunden, Angehörige zu pflegen, während das früher eine Selbstverständlichkeit war. Als drittes kommt hinzu, dass der Druck der Arbeitswelt teilweise extrem gross ist und eine Betreuungsaufgabe mit der Berufstätigkeit fast nicht mehr vereinbar ist. Diese Faktoren tragen dazu bei, die Zahl der möglichen Pflegenden zu reduzieren. Mit unserem Projekt wollen wir dieser Entwicklung entgegensteuern. Wo setzt Ihr Forschungsprojekt an? Eine Pflegesituation ist etwas komplexes, sie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Wie weit weg wohnt der Angehörige? Wie geht es dem Pflegenden gesundheitlich? Arbeitet er daneben noch? Pflegt er eher widerwillig oder gern? Im Rahmen unseres Forschungsprojekts haben wir ein Modell erarbeitet, das eine Pflegesituation in all ihren Dimensionen abbildet. Dadurch wird es möglich, sie in ihrer Komplexität zu verstehen. In einem nächsten Schritt wollen wir auf Basis dieses Modells Simulationen machen. Diese sollen zeigen, wie sich Veränderungen, zum Beispiel eine Entlastungsmassnahme, auf die Pflegeleistung auswirken, die ein Angehöriger erbringen kann. Falls uns das gelingt, lassen sich plausible Aussagen darüber machen, in welchen Fällen und zu welchem Zeitpunkt eine Massnahme angezeigt ist. Nr. 6 Dezember/Januar 2015/16 Das wäre für die ganze Pflegeplanung ein grosser Gewinn. könnten die bestehenden Dienstleistungsangebote besser koordiniert werden. Zum Teil wissen die Anbieter zu wenig genau, was die anderen machen. stützungsleistungen von fünfzehn oder zwanzig Franken pro Tag vor. Das ist nicht viel mehr als ein Taschengeld. In St. Gallen gibt es eine Zeitbörse, wo man freiwillig hilft und dann eine Zeitgutschrift erhält. (Anm. d. Red.: Siehe dazu auch «Alt hilft «Würden pflegende Älter» in Kommunalmagazin Angehörige mit einem Stunden15/03) Dieses Projekt wird von der Stadt finanziell unterstützt, lohn von 55 Franken bezahlt, wäre aber nicht in Form von direkihre Arbeit 3,5 Milliarden Franken ten Zahlungen an die Pflegenpro Jahr wert.» den. Welche Problemkreise konnten Sie im Bereich der Unterstützung von pflegenden Angehörigen in Ihrer Untersuchung identifizieren? Wir haben festgestellt, dass es an allen Orten bereits Angebote gibt, die Angehörige entlasten könnten. Es hat sich aber in allen drei Partnerstädten des Projekts gezeigt, dass diese von vielen Angehörigen nicht genutzt werden. Ein Grund dafür ist, dass zu wenig darüber informiert wird und niederschwelligere Zugänge geschaffen werden müssten. Man muss die Leuten dafür sensibilisieren, dass es nichts Schlimmes ist, Hilfe zu beanspruchen. Teils nehmen pflegende Angehörige solche Angebote aber auch aus finanziellen Gründen nicht in Anspruch. Deshalb muss man sich darüber Gedanken machen, ob es auf lange Sicht in gewissen Fällen nicht günstiger wäre, wenn der Staat die Betroffenen unterstützen würde. So könnte er verhindern, dass die Angehörigen selber krank werden und ausbrennen. In St. Gallen beispielsweise wurde ein Problem bei der Finanzierung temporärer stationärer Aufenthalte genannt. Diese braucht es, wenn ein Angehöriger mal ein, zwei Wochen ausspannen möchte. Kann man aus Ihrem Modell ableiten, in welchem Fall welche Massnahmen sinnvoll sind? Das ist sicher ein Ziel. Wir wollen abbilden können, ob eine bestimmte Massnahme dazu beiträgt, die Pflegeleistung des Angehörigen zu erhalten. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Wir haben nämlich festgestellt, dass Unterstützung auch die gegenteilige Wirkung haben kann. Die Leistungsbereitschaft des Angehörigen kann auch abnehmen, sobald ein Dritter einen Teil der Betreuung übernimmt. Und das ist ja nicht die Absicht. Wie unterschiedlich fallen die Befunde für die untersuchten Städten aus? Unter dem Strich gibt es relativ viele Übereinstimmungen. In allen Städten Nr. 6 Dezember/Januar 2015/16 Zum Teil überschneiden sich ihre Leistungen. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, ist aber auch nicht immer gut. In St. Gallen beispielsweise sind drei verschiedene Spitex-Organisationen aktiv. Diese zusammenzuschliessen ist schon länger ein Politikum. Es gibt zudem private Anbieter, die Ähnliches bieten. Für die Angehörigen ist eine solche Situation unübersichtlich. Sie erschwert es herauszufinden, wo sie die passende Unterstützung bekommen. Was könnte man dagegen tun? Ein Ansatz wäre sicher der Aufbau eines Case Managements. Es bräuchte eine Anlaufstelle, die hilft, an die richtigen Infos und bedarfsgerechte Angebote zu kommen. Und wer müsste eine solche Anlaufstelle einrichten? Das ist grundsätzlich offen. Theoretisch könnte das die Gemeinde machen. Aber man muss aufpassen, weil man ja nicht für jedes Problem eine neue Stelle schaffen will. Möglicherweise gäbe es Alternativen. So decken Pro Senectute oder Spitex einen Teil davon schon heute ab. Aber vielleicht braucht es am Ende dennoch eine neue, ganz neutrale Stelle. Die Gemeinden sind aber in jedem Fall gefordert, eine gewisse Koordination zu übernehmen. Welche Instrumente, um Angehörige finanziell zu unterstützen, haben die untersuchten Städte bereits im Einsatz? Die Stadt Schaffhausen hat einen Fonds für pflegende Angehörige eingerichtet. Allerdings sieht dieser lediglich Unter- In welchem Rahmen sollten Gemeinden alterspolitische Massnahmen umsetzen? Eine Möglichkeit ist es, das im Rahmen eines Alters- oder Generationenkonzepts zu machen. Eine weitere Möglichkeit ist es, das Thema in die Legislaturziele aufzunehmen. Es kommt immer darauf an, wo eine Gemeinde konzeptionell steht. Viele kleinere haben noch nie ein Altersleitbild gemacht. Doch auch sie spüren, dass alterspolitische Fragen drängender werden. Für sie bietet es sich an, das Thema regional anzugehen und zu versuchen, Synergien zu nutzen. Bei der Planung von Alters- und Pflegeheimen ist das ja schon üblich. ■ Zur Person Martin Müller ist Co-Leiter des Instituts für Soziale Arbeit (IFSA-FHS) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen (FHS). Er leitet das Forschungsprojekt «Unterstützung pflegender und betreuender Angehöriger älterer Menschen» (siehe «Das Projekt»). kommunalmagazin.ch l 17
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