Einleitung - In der Welt sein - gedankenträger [man weiß ja nie]

Monika Scheele Knight
MORGEN KANN WARTEN
In Europa unterwegs mit unserem autistischen Kind
Dieses Buch ist für John,
den Jungen mit der Bonbon-Agenda,
der in den Mülleimer beißt,
und die Gitarre wie einen Kontrabass spielt.
Ein Partisan und ein Meister puren Seins.
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Inhalt
In der Welt sein – Einleitung
1. Thassos – Sprache
2. Hiddensee – Elternsein
3. Rhodos – Epilepsie
4. Côte d’Azur – Deligny
5. Mallorca – Prävalenz
6. Connemara – Therapien
7. Südtirol – Neurologische Vielfalt
8. Südschweden – Inklusion
9. Normandie & Elsass – Geschichte
10. Valencia – Kultur
11. Prag & Theresienstadt – Ethik
12. Texel – Freundschaft
13. Berlin - Autismus als Metapher
Teil des Festlands – Epilog
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
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"Was sind wir doch für anmaßende Menschen, anzunehmen,
dass wir uns gleich beim ersten Zusammentreffen verstehen müssten.
Versuchen wir es noch einmal."
(Javier Tomeo)
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In der Welt sein – Einleitung
"In jeder Krankheit treffen sich zwei Ereignisse: Die Geschichte einer Person und die
Geschichte der Gesellschaft, in der diese Person lebt." (Maurice Dorès)
Unser Sohn John wurde im September 2000 in Arlington Heights in den USA geboren. Als
er achtzehn Monate alt war, entwickelte er plötzlich epileptische Anfälle und wurde in ein
Krankenhaus eingewiesen. Sein Gitterbett hatte gepolsterte Stäbe, sogar nach oben hin
verschlossen, ein Käfig. Über eine Klammer an seinem großen Zeh führte ein Kabel zu
einem Monitor, 126/96 war darauf in roten Digitalziffern zu lesen. Unser vorher
fröhliches, starkes und neugieriges Kind lag da wie ein Häufchen Elend, erschöpft von
Medikamenten, Untersuchungen und Krampfanfällen.
Zwei Wochen zuvor hatten ihn alle noch für gesund gehalten, dann hatte ich ein
komisches Zucken bemerkt, vier Tage nach der ersten Beobachtung hatte es sich
ausgeprägter wiederholt, die Arme sprangen nach vorne vom Körper ab und John nickte
dabei mit dem Kopf in Richtung Brustkorb. Nach meiner Beschreibung der Vorfälle beim
Kinderarzt wurden wir zu einer EEG-Ableitung überwiesen, einer Untersuchung seiner
Hirnströme, und noch am selben Tag erfuhren wir das Ergebnis, das uns nüchtern übers
Telefon mitgeteilt wurde: "Ihr Kind hat Epilepsie. Sie müssen zur weiteren Diagnose und
medikamentösen Einstellung so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen." Am
selben Tag beobachtete ich gleich mehrere kleine Anfälle. Die Entwicklung verlief von hier
an rasant: Waren zwischen dem ersten und dem zweiten Anfall noch vier Tage vergangen,
so kamen die Anfälle danach täglich und mehrten sich zudem jeden Tag. Bald wurden wir
vom Vorort-Krankenhaus in das Epilepsiezentrum an der Universität von Chicago
überwiesen.
Es folgte eine mehr als zweijährige Odyssee durch Krankenhäuser und
Epilepsiezentren, ich gewöhnte mich an die Pritschen neben Johns Bett und an den
Schlaftakt, den die Kontrollbesuche der pflegerischen Nachtwache vorgaben. Zahllose
Experten auf zwei Kontinenten wussten keinen Rat, während sich Johns
Gesundheitszustand immer weiter verschlechterte. Medikamente wurden auf- und wieder
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herunterdosiert, John war in einem Kreislauf aus Anfällen und Nebenwirkungen gefangen.
Als Reaktion auf ein Medikament, das für Nebenwirkungen auf der Haut bekannt war,
entwickelte er Neurodermitis, die auch nach Absetzen des Medikamentes blieb. Eine
aggressive Hormontherapie brachen wir ab, nachdem der Kardiologe am Ultraschall eine
lebensgefährliche Verdickung des Herzmuskels beobachtete. Als Ergebnis einer
umfassenden genetischen Untersuchung, in der wir vor allem herausfinden wollten, ob
John vielleicht das Fragile-X-Syndrom hat, stellte sich stattdessen heraus, dass ein seltener
genetischer Defekt namens G-6-PD-Mangel vorliegt. Wir bekamen einen Notfallausweis
und eine lange Liste von Substanzen und Medikamenten, die lebensgefährlich sein
könnten. Als zweitletzten möglichen Ausweg setzten wir John vier Monate lang auf die
Ketogene Diät – eine im Krankenhaus eingeleitete und schulmedizinisch betreute
Ernährungsumstellung, die manchen Menschen geholfen hat, deren Epilepsie gegen
Medikamente resistent geblieben war. Bei John half auch die Ketogene Diät nicht.
Schließlich sollte im Epilepsiezentrum Bethel als letzte Option die Möglichkeit einer
Gehirnoperation untersucht werden und auch dies stellte sich als unmöglich heraus. Die
Leiterin der Neurochirurgie entließ uns mit den Worten: "Sie müssen sich damit abfinden,
dass Ihr Kind keinen Tag in seinem Leben anfallsfrei sein wird."
Wie um diesen fahrlässigen Satz Lügen zu strafen, wurde John kurze Zeit später
anfallsfrei, auf ebenso rätselhafte Weise, wie die Krampfanfälle begonnen hatten. Erst im
anfallsfreien Zustand und ohne die harten Medikamente bemerkten wir verschiedene
Verhaltensweisen, die auf eine veränderte Wahrnehmungsverarbeitung hindeuteten. Die
Psychologin des heilpädagogischen Kindergartens, den John zu dieser Zeit besuchte,
empfahl uns einen Besuch im Autismus-Zentrum. Die Ursachensuche, die zweieinhalb
Jahre zuvor in einem Zimmer mit der Nummer 218 eines amerikanischen Krankenhauses
in der Nähe von Chicago begonnen hatte, fand nach einer Fährübersetzung in Vegesack ihr
Ende in Bremen: John wurde nach einem etwa zweistündigen Test mit frühkindlichem
Autismus diagnostiziert.
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Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch eine veränderte
neurologische Verarbeitung der Wahrnehmung ausgelöst wird und die zu einem sehr
vielfältigen Erscheinungsspektrum führt. Einige Autisten sind in der sozialen
Kommunikation mit ihren Mitmenschen beeinträchtigt oder von den Reizen in ihrer
Umwelt schneller überfordert. Es gibt Autisten, die in ihren intellektuellen Fähigkeiten
keineswegs beeinträchtigt sind und andererseits auch Autisten, deren Beeinträchtigung mit
einer mittelschweren oder schweren geistigen Behinderung einhergeht. Einige mögen keine
körperliche Nähe und haben Probleme mit Augenkontakt. Andere suchen, mögen und
brauchen viel Nähe. Einige können nicht sprechen, sind aber mit ihrer Umwelt und ihren
Bezugspersonen emotional sehr eng verbunden. Viele Menschen unterschätzen die
Bandbreite und höchst unterschiedlichen Ausprägungsformen von Autismus.
Die Beobachtungen des Autismus reichen bis ins neunzehnte Jahrhundert zu den
deutschen Psychiatern Karl Ludwig Kahlbaum und Emil Kraepelin zurück. Doch erst als
der schweizerische Psychiater Eugen Bleuler das Adjektiv autistisch 1912 als Symptom im
Zusammenhang mit schizophrenen Patienten verwendete, gewann der Begriff an
Popularität. Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger benutzte den Begriff in einem
Vortrag im Jahr 1938 in Wien erstmals öffentlich als unabhängiges Syndrom. Der Vortrag
"Das psychisch abnorme Kind" wurde 1944 unter dem Titel "Die autistischen
Psychopathen im Kindesalter" veröffentlicht und ging so als Geburtsstunde des Autismus
in die Geschichte ein. Unabhängig davon beschrieb der ebenfalls österreichische, aber in
den USA lebende Psychiater Leo Kanner 1943 die autistischen Störungen im affektiven
Kontakt als Frühkindlichen Autismus.
Das fast gleichzeitige Benutzen desselben Begriffs wirft bis heute Fragen auf. Die
beiden Österreicher sind sich nie begegnet und durch den Zweiten Weltkrieg war die
Kommunikation zwischen Österreich und den USA weitgehend unterbrochen. War es also
Zufall, dass die beiden Männer sich denselben Begriff aussuchten, um ein Syndrom zu
beschreiben? Sicher ist, dass beide Deutsch sprachen und denselben intellektuellen
Hintergrund teilten, also vermutlich mit den Ausführungen von Kahlbaum und Kraepelin
bis zu Bleuler vertraut waren. Das macht den Zufall weniger unwahrscheinlich. Über
weitere Gründe für die Gleichzeitigkeit wird spekuliert. Leo Kanner könnte Aspergers
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Terminologie zum Beispiel auch von jüdischen Wissenschaftlern gehört haben, die in die
USA geflohen waren und denen Kanner half, sich in Amerika zu etablieren. Asperger hatte
schließlich schon 1934 in Briefen an mehrere Kollegen vorgeschlagen, dass Autismus ein
nützlicher Diagnosebegriff sein könnte. Sicher ist nur, dass Asperger und Kanner keinen
direkten Kontakt zueinander hatten und dass die Störungsbilder, von denen beide
berichteten, auch sehr unterschiedlich waren.
Asperger beschrieb Kinder, die Schwierigkeiten im sozialen Umgang hatten,
Obsessionen für spezielle Wissensgebiete entwickelten und deren Sprachkompetenz durch
verbale Besonderheiten gekennzeichnet war. Kanner beschrieb Kinder, die zwanghaften
Wiederholungen nachgingen und die kaum oder keine Sprache entwickelten. So lässt sich
das heute so vielfältige Spektrum des Autismus bis in die Entstehungsgeschichte des
Syndroms hinein zurückverfolgen.
Die Popularität des Films Rain Man hinterlässt ein ambivalentes Erbe: einerseits
haben dadurch viele Menschen den Autismus überhaupt erst kennen gelernt, andererseits
hat der Film die Ansicht geprägt, dass Autisten außergewöhnliche Fähigkeiten hätten.
Tatsächlich haben nur etwa 10% der Autisten solche Inselbegabungen.
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Als John im Alter von anderthalb Jahren die Epilepsie entwickelte, hatte ich mich von
meiner Festanstellung in Chicago beurlauben lassen. In den USA war für eine Freistellung
aus medizinischen Gründen gesetzlich nur eine Dauer von maximal drei Monaten
vorgesehen. Da wir aber fast zwei Jahre in Krankenhäusern verbracht hatten, war ich nicht
an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, und selbst nach der Anfallsfreiheit blieb John stark
pflegebedürftig. Er entwickelte sich motorisch zwar gut, aber kognitiv fast gar nicht weiter.
Er sprach nicht, hatte aggressive Ausbrüche und massive Schlafstörungen. Mit seinen
multiplen Diagnosen bekam er die Pflegestufe III. Das Versorgungsamt stellte einen Grad
der Behinderung von 100% fest, wir erhielten einen Schwerbehindertenausweis.
Durch unsere Betreuung im Sozialpädiatrischen Zentrum erfuhren wir von der
Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. So fanden wir einen Einzelfallhelfer, der uns
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im Alltag unterstützte. Es fühlte sich gut an, dass John schon früh lernte, auch andere
Menschen in sein Leben zu lassen. Wir sahen, dass sowohl der Helfer als auch John Spaß
miteinander hatten und für uns war die Entlastung wichtig.
Wir fanden einen Platz in einem auf Autismus spezialisierten Kindergarten in
Berlin. Ich hatte in der Zwischenzeit begonnen, für meine Chicagoer Firma von Europa
aus weiter freiberuflich zu arbeiten. Scott blieb zunächst in den USA, wir lebten getrennt,
aber er flog viel hin und her und gab dann auch seine Festanstellung auf, um zu uns nach
Berlin zu ziehen. Es dauerte nach den beiden Jahren in den Krankenhäusern weitere drei
Jahre, bis wir wieder in eine halbwegs normale Lebenssituation kamen. In Berlin
absolvierte Scott Deutschkurse und wurde ebenfalls zum Freiberufler. So hatten wir die
größtmögliche Freiheit zur Organisation von Johns Betreuung.
Schon während unserer Krankenhausaufenthalte hatte ich begonnen, Treffen von
Eltern autistischer Kinder zu besuchen. Die Geschichten, die ich dort hörte, waren oft
entmutigend, es waren vor allem Erzählungen von Kampf und Isolation. Um die Kämpfe
würden wir nicht herumkommen, das fing bei den Behörden an und endete bei den für
Johns Behinderung typischen Verhaltensauffälligkeiten. Der Alltag mit einem schwer
autistischen Kind ist schwierig. Kein Nutzen oder Grund, dies zu beschönigen. Aber sicher
müsse es möglich sein, die Isolation zu verhindern, dachte ich.
Eine etwa sechzigjährige Frau zog mich bei einem dieser Elterntreffen zur Seite und
erzählte mir vom Leben mit ihrem dreißigjährigen, autistischen Sohn. Von montags bis
freitags war er von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags in einer Werkstatt für
Menschen mit Behinderungen untergebracht, ansonsten lehnte er jegliche Aktivitäten oder
Treffen mit anderen Menschen ab. Die späten Nachmittage und Abende verbrachte die
Mutter alleine mit ihrem Sohn Zuhause, ebenso die Wochenenden, an denen er sich
weigerte, etwas anderes als einen Schlafanzug anzuziehen. Er wusste, dass man im
Schlafanzug nicht nach draußen geht und so stellte er sicher, keinen Fuß vor die Tür setzen
oder andere Menschen treffen zu müssen. Dann waren da noch die Feiertage und
Ferienzeiten, an denen die Werkstatt geschlossen war, manchmal für mehrere Wochen.
Die Mutter erzählte mir von ihrer Isolation. Ihr Mann hatte sie vor Jahren
verlassen, er konnte dieses abgeschiedene Leben einfach nicht mehr ertragen. Sie sagte, sie
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könne ihn gut verstehen, sehe aber für sich selbst keinen anderen Ausweg. Ihren Sohn in
ein Heim zu geben, das könne sie nicht übers Herz bringen, und die Routinen Zuhause zu
verändern, das gelinge ihr nicht mehr. Sie sprach sehr eindringlich mit mir: "Dein Sohn ist
noch klein. Er kann noch lernen, an normalen Aktivitäten teilzunehmen – in der Welt zu
sein. Darum komme ich zu diesen Treffen: Ich hoffe, dass junge Mütter von mir lernen
können. Mein Sohn und ich leben Zuhause wie auf einer verlassenen Insel. Lass es nicht so
weit kommen."
John war zwar noch klein und der Einzelfallhelfer ein guter Anfang, aber vielleicht
sollten wir jetzt schon mehr Ideen entwickeln, wie wir mit ihm gut in der Welt sein können
würden?
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Selbst wenn das Spektrum des Autismus sehr breit gefächert ist, haben Autisten eines
gemeinsam: Sie haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Studien haben gezeigt, dass autistische Kinder auf bestimmten Gebieten Defizite
aufweisen, etwa in der Wahrnehmung von Scham, Schuldgefühlen und in der Sorge um
andere. Diese Gefühle erfordern ein Bewusstsein für das vom eigenen Erleben getrennte
Selbst eines anderen Menschen. Die Studien haben aber auch gezeigt, dass sich autistische
Kinder auf anderen sozialen Gebieten kaum von Nicht-Autisten unterscheiden. Die
Stimmung in ihrem Umfeld beeinflusst sie zum Beispiel stark. Und sie können stolz,
schüchtern oder eifersüchtig sein wie jedes andere Kind. Dies sind selbst erlebte Gefühle,
bei denen die Einfühlung in ein Gegenüber keine so große Rolle spielt.
Dass Autisten sich nur begrenzt (oder auf jeden Fall anders als Nicht-Autisten) in
ihre Mitmenschen hineinfühlen, lässt also keinesfalls den verbreiteten Umkehrschluss zu,
sie hätten selbst keine Gefühle. Sie sind nicht gefühlskalt, wie sie manchmal
fälschlicherweise beschrieben werden. Ganz im Gegenteil, aus Erfahrungsberichten von
Autisten wissen wir heute, dass ihr inneres Erleben reichhaltig und eng mit der Welt
verknüpft ist. So beschreibt etwa die Autistin Dawn Eddings Prince: "Soweit meine
Erinnerung zurückreicht, hat mir die Intensität des Lebens schon immer Schmerzen
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bereitet. Ich habe sehr früh verstanden, dass ich in einer Kultur lebe, die eine gewisse
Abtrennung trainiert. Doch selbst als erwachsene Frau hat alles um mich herum, von den
Brombeerblättern bis hin zu den Biegungen des Baches, eine Persönlichkeit, eine Art
Resonanz, die wie ein erweitertes Bild von mir selbst ist und die zu einer freundlichen
Vertrautheit führt. Meine Welt ist ein Ort, an dem die Menschen gleichzeitig zu schön und
zu schrecklich anzusehen sind. Ihre Münder sprechen Worte, die ich manchmal nicht höre,
aber ich höre, wie ihr Herz zerbricht. Ich frage mich, wie die Welt es schafft, nicht gehörlos
zu werden vom Lärm der brechenden und aufgeregten Herzen, vom Getöse unvergossener
Tränen und ungeweinter Freude."
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Diese anthropomorphischen Schilderungen berührten mich, denn ich hatte das Gefühl,
dass auch John Details wahrnahm, die wir nicht sahen oder hörten. Es ließ sich sogar
erklären: Eine Hirnstamm-Audiometrie im Alter von drei Jahren hatte ergeben, dass in
seinem Gehirn eine sehr überdurchschnittliche Menge an Geräuschen ankam. Der normale
Filtermechanismus funktionierte nicht. Das leise Ticken einer Uhr könnte in Johns Gehirn
das viel lautere Rufen seines Namens übertönen. Spätestens nach diesen Ergebnissen hatte
es uns nicht mehr gewundert, dass John auf Sprache oft nur unzuverlässig reagierte. Und
erst durch das Nachvollziehen seiner Aufmerksamkeit konnten wir manchmal entdecken,
was John bewegte. Eines Abends lag er zum Beispiel fröhlich auf dem Boden vor dem
Wohnzimmerfenster, unter dem zugezogenen Vorhang. John sah sehr glücklich aus, aber
ich konnte nicht erkennen, warum. Ich legte mich neben ihn und folgte seinem Blick. Das
grau-weiße Muster des Vorhangs über uns bewegte sich im Luftzug der Heizung zwischen
der Dämmerung draußen und dem Licht drinnen in einer Art tanzendem Muster, das sich
ständig veränderte. Es war tatsächlich sehr schön anzuschauen. Ohne John hätte ich es
niemals bemerkt.
Wir hatten von Anfang an nicht das Gefühl, dass John in einer eigenen Welt lebt
und ich halte diese in Bezug auf Autismus oft benutzte Beschreibungsweise bis heute für
irreführend. Scott und ich hatten vielmehr schon früh das Gefühl, dass John aus der
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gleichen Welt andere Erfahrungen herauszieht und auf eine andere Weise mit ihr verknüpft
ist. Er scheint der Welt stärker ausgeliefert zu sein, mit ihr auf eine Weise zu verschmelzen,
die ihn einerseits schutzloser macht und die ihn andererseits auch daran hindert,
übergeordnete Zusammenhänge zu verstehen. Doch wir haben auch früh gemerkt, dass die
verschwimmenden Grenzen zwischen dem Ich und dem Außen für John nicht
ausschließlich problematisch sind, sondern ihm manchmal auch Freude bereiten können.
Wie könnte es möglich sein, einerseits die Isolation zu verhindern, vor der mich die
Mutter in der Elterngruppe so dringend gewarnt hatte, und andererseits für John auch die
positiven Aspekte seiner intensiven Wahrnehmung zu fördern? Ich dachte sofort ans
Reisen. Ich war immer viel gereist und hatte seit 1995 in der Reisebranche gearbeitet.
Vielleicht könnte die Erfahrung neuer Orte, Landschaften, Gerüche und Geräusche John
Freude bereiten, ihm neue Möglichkeiten geben, seine besondere Verbindung mit der Welt
zu erleben, und dabei gleichzeitig das Heraustreten aus Routinen trainieren. Solange wir
dabei eine zu große Reizüberflutung vermeiden könnten, würde das Reisen John vielleicht
neue Zugriffe auf die Welt ermöglichen. Reisen also als Versuch, in der Welt zu sein, wie
die Mutter in der Elterngruppe es formuliert hatte.
Die Idee hatte aber auch einen egoistischen Anteil. Ich konnte mir einfach nicht
vorstellen, irgendwann so zu leben, wie die Mutter es mir geschildert hatte. Mit der Geburt
eines Kindes verlieren die Eltern nicht ihre eigenen Interessen, ganz grundsätzlich
gesprochen, das ist selbstverständlich. Aber auch ein Kind mit einer schweren Behinderung
ist wie jedes andere Kind Teil einer Familie, in der mehrere Menschen zusammenleben, die
dennoch weiterhin alle ihre eigenen Wünsche, Träume und Interessen haben.
Wir erwarteten und wussten, dass das Leben mit einer chronischen Erkrankung
und einer schweren Behinderung von uns deutlich mehr Kompromisse fordern würde, und
dennoch hofften wir, dass wir nicht in einer totalen Aufopferung landen müssten. Wenn
wir dauerhaft zusammenleben wollten, brauchte doch jeder auch seinen Platz. Wie anders
könnten wir sonst auf lange Sicht belastbar sein?
Sollte das Reisen John überfordern, würden wir es aufgeben müssen, aber wenn es
funktionierte, könnte es für uns alle etwas Schönes sein.
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"Willkommen in Holland" heißt ein bekannter Text von Emily Perl Kingsley aus dem Jahr
1987 über das Leben mit einem behinderten Kind. In ihrem Text beschreibt Kingsley, ein
Kind zu erwarten sei, wie eine Reise nach Italien zu planen. Nach Monaten freudiger
Erwartung ist der Tag endlich da, die Koffer werden gepackt und es geht los. Ein paar
Stunden später landet das Flugzeug und die Flugbegleiterin sagt: "Willkommen in
Holland." Sie wollten nach Italien und nun sind Sie in Holland gelandet. Dort geht es viel
langsamer zu. All das Tolle, was Sie von Italien gehört hatten, gibt es hier nicht – und Sie
vermissen es. Nach einer Weile aber sehen Sie die Windmühlen und die Tulpen. Sie
merken, dass es hier andere Dinge gibt, sogar Rembrandt. Sie erfahren, wie schön Holland
ist und dennoch ändert es nichts daran, dass Ihre Freunde in Italien sind und begeistert von
Dingen erzählen, die Sie niemals werden erfahren können. Das Fazit des Textes ist, dass
Sie zwar bis ans Ende Ihres Lebens Italien nachtrauern können, dann aber niemals frei
genug sein werden, die besondere Schönheit von Holland zu genießen.
Der Text kommt tröstend daher, schließlich ist es auch in Holland schön. Dennoch
etabliert die Parabel in ihrem an der Oberfläche versöhnlichen Ton eine klare Dichotomie.
Hier Holland, da Italien. Der Familie mit einem behinderten Kind wird ein anderes Land
zugewiesen: Ein Ghetto am Ende, egal wie viele Tulpen man in ihm pflanzt. Im Internet
gibt es eine kritische Antwort auf Kingsleys Text. Darin reißen die Eltern eines Tages die
Rembrandts von der Wand, gehen in ein Reisebüro, nehmen sich Broschüren über
Brasilien, Griechenland, Ägypten, Alaska, Japan und Tahiti mit nach Hause, drehen den
Globus und wählen mit geschlossenen Augen einen Ort darauf aus. Tschüß, Holland.
Viel später, lange nachdem ich sowohl die Parabel als auch die kritische Antwort
gelesen hatte, und nachdem wir viele Reisen mit John unternommen haben, ist uns
aufgefallen, dass wir eigentlich genau diese kritische Antwort in die Tat umgesetzt haben.
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