Wer zahlt, befiehlt? Vielleicht auch nicht | Alibaba und

GesKR 3
2015
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Daniel Daeniker*
Wer zahlt, befiehlt? Vielleicht auch nicht
Deal Watch
Alibaba und Sika
Inhaltsübersicht
I.Einleitung
II.Alibaba: A tale of two cities
1. Governance-Struktur von Alibaba
2. Hongkong: striktes Regime
2.1 Kotierungsvorschriften der Hong Kong Stock Exchange
2.2 Ausnahme für Alibaba?
3. Die USA sahen das schon immer entspannt
3.1 Keine Schranken im U.S.-amerikanischen
­G esellschaftsrecht
3.2 Keine Schranken im U.S.-amerikanischen Kapitalmarktrecht
3.3 Aber was kriegen die Investoren dafür?
III. Sika: (k)ein Lehrstück der Corporate Governance
1.Ausgangslage
2. Non omne quod licet honestum est
3. Juristischer Grabenkrieg mit Folgen
IV.Konklusion
I.Einleitung
Die politische Willensbildung demokratischer Staaten
beruht auf dem Kopfstimmprinzip, das Recht der Kapitalgesellschaften nicht. Bei Aktiengesellschaften und verwandten Organisationsformen gilt: Wer zahlt, befiehlt.
Anteilseigner mit grossem Kapitaleinsatz kontrollieren
die Unternehmensleitung, Minderheitsaktionäre haben
in Angelegenheiten der Gesellschaft wenig Einfluss1.
In der reinsten Form gilt für Kapitalgesellschaften der
Grundsatz one share, one vote: Kapitaleinsatz und
Stimmkraft sind genau proportional (Art. 692 Abs. 1
OR), und eine Gesellschaft kann nur derjenige kontrollieren, der eine Mehrheit oder zumindest einen grossen
Teil des Kapitals hält. Der Grundsatz ist allerdings, wie
*
1
Dr. iur. Daniel Daeniker, LL.M., Rechtsanwalt, Lehrbeauftragter an
der Universität Zürich.
Arthur Meier-Hayoz/Peter Forstmoser, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 11. Aufl., Bern 2012, § 3 N 8 ff., N 28; Hans-Ueli
Vogt, Aktionärsdemokratie, Zürich/St. Gallen 2012, 9 f. und 123 f.;
zu den ökonomischen Grundlagen vgl. Sanford Grossman/Oliver Hart, One Share – One Vote and the Market for Corporate
Control, J. Fin. Econ. 20 (1988), 175 ff.
andernorts ausgeführt2, eher Idealtypus als Rechtsregel.
Verschiedene Rechtsordnungen, so auch die schweizerische, erlauben eine differenzierte Behandlung von
Stimmkraft und Kapitalbeteiligung.
Der Grundsatz one share, one vote ist im vergangenen
Jahr im Zusammenhang mit zwei Transaktionen besonders diskutiert worden:
• Beim Börsengang der Alibaba Group Holding Limited im Herbst 2014 stellte sich die Frage, welche
Börse bereit war, eine Gesellschaft zu kotieren, deren
Aktionäre praktisch keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Verwaltungsrates haben;
• beim Kampf um die Übernahme der Sika Holding
AG wird viel Tinte darüber vergossen, ob und inwieweit das vorbestehende Stimmrechtsprivileg der
Familienaktionäre der Gesellschaft bzw. das vorbestehende Opting-out aus der börsengesetzlichen
Angebotspflicht noch zeitgemäss oder gar rechtlich
zulässig sind.
Das Problem wird, wie noch zu zeigen sein wird, bei Alibaba (II.) und bei Sika (III.) mit unterschiedlichen Vorzeichen angegangen. Am Ende lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten erkennen (IV.).
II.Alibaba: A tale of two cities
1.
Governance-Struktur von Alibaba
Alibaba ist seit einiger Zeit der wichtigste internet content provider in der Volksrepublik China. Das Unternehmen wurde 1999 von Jack Ma und einigen Kollegen
gegründet und gilt heute als die grösste Online-Handelsplattform der Welt3.
Ein internet content provider, der in China aktiv werden
will, benötigt aufgrund der Telecommunications Regula-
2
3
Daniel Daeniker, One share, one vote – Bedeutung der Debatte
für die M&A-Praxis, in: Tschäni (Hrsg.), Mergers & Acquisitions
XV, Zürich 2013, 145 ff.
Alibaba Group Holding Limited, Registration Statement, 18. September 2014, 86.
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Daniel Daeniker – Wer zahlt, befiehlt? Vielleicht auch nicht
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tions of the People’s Republic of China (2000) eine Lizenz
des zuständigen Ministeriums. Ausländische Bewerber
und ausländisch beherrschte Gesellschaften erhalten keine Zulassung4. Bei Alibaba werden die Geschäftsteile,
die chinesisch beherrscht sein müssen, von Jack Ma und
einem Partner direkt gehalten, während die Publikumsgesellschaft über eine Reihe von Darlehens-, Pfand- und
Optionsverträgen an den entsprechenden Aktivitäten
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Name für Dokument-Eigenschaft.
zumindest
wirtschaftlich
beteiligt ist5. Dieses Modell, als
variable interest entity structure bekannt, wurde im Jahre 2000 von der chinesischen Gesellschaft Sina für ihren
Börsengang in den USA entwickelt6. Im Ergebnis führt
es dazu, dass Alibaba ihre wichtigsten Aktiven – die Internetaktivitäten in China – gar nicht besitzt, sondern
lediglich vertragliche Ansprüche auf die daraus resultierenden Zahlungsströme hat.
Aber nicht nur die Abgrenzung zwischen der chinesischen und der ausländischen Unternehmensstruktur
ist bemerkenswert. Auch die corporate governance von
Alibaba war und ist darauf angelegt, dass nicht die externen Kapitalgeber, sondern die Gründer in der Unternehmensführung das Sagen haben.
Zwar emittierte die auf den Cayman Islands errichtete
offshore-Gesellschaft von Alibaba Einheitsaktien; auf
dem Papier blieb also das Prinzip one share, one vote gewahrt. Die Statuten des Unternehmens legen aber fest,
dass Jack Ma und ein Kollegium von Gründern, die in
4
5
6
Vgl. <https://en.wikipedia.org> unter dem Eintrag variable interest
entity (Stand Juni 2015).
Steven Davidoff Solomon, Alibaba investors will buy a risky
corporate structure, New York Times Dealbook, 6. Mai 2014.
Richard Pearson, Looking at Chinese VIEs, forbes online,
18. Oktober 2012.
der Alibaba Partnership verbunden sind, das Recht haben, die Mehrheit der Mitglieder des Verwaltungsrates
zu nominieren. Die Aktionäre können einem von der
Alibaba Partnership nominierten VR-Kandidaten die
Wahl versagen. Einen besser passenden Ersatz-VR können sie aber nicht wählen. Stattdessen hat die Alibaba
Partnership das Recht, bis zur nächsten ordentlichen
Generalversammlung einen Verwaltungsrat ad interim
zu bestimmen7.
Auch das Recht zur Abberufung der von der Alibaba
Partnership ernannten Verwaltungsräte steht nur Jack
Ma und seinen Kollegen zu. Damit haben die Publikumsaktionäre auch keine Möglichkeit, die von ihnen
«gewählten» Verwaltungsräte im Amt einzustellen oder
ganz zu entfernen8.
2.
Hongkong: striktes Regime
2.1 Kotierungsvorschriften der Hong Kong
Stock Exchange
Die Kotierung von Aktien an der Hong Kong Stock
Exchange (HKEx) untersteht den einschlägigen Listing
Rules. Diese werden wie in der Schweiz9 von der Börse
selbst erlassen10, unterstehen aber der Genehmigung der
zuständigen Kapitalmarktaufsichtsbehörde, der Hong
Kong Securities and Futures Commission (SFC)11.
7
Dies entspricht auch der definitiv gewählten Struktur (Registration
Statement [FN 3], 9, 230 und 275 ff.).
8
Registration Statement (FN 3), 277.
9
Vgl. dazu Art. 8 i.V.m. Art. 4 Abs. 2 Börsengesetz (BEHG).
10 Sec. 23 der Securities and Futures Ordinance (SFO).
11 Sec. 24(2(a)) SFO.
Die Listing Rules der HKEx regeln unter anderem die
Kotierung von Aktien unterschiedlicher Kategorien.
Rule 8.11 lässt die Kotierung solcher Instrumente zu,
verlangt aber ein angemessenes Verhältnis zwischen Kapital- und Stimmkraft:
«The share capital of a new applicant must not include
shares of which the proposed voting power does not bear
a reasonable relationship to the equity interest of such
shares when fully paid … except … in exceptional circumstances agreed with the Exchange.»12
Die Regelung der HKEx stammt aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft und ist der Ausfluss eines
power struggle zwischen den Hongkonger Behörden
und zwei Börsenschwergewichten. 1987 kündigten Jardine Matheson und Hutchison Whampoa die Ausgabe von stimmrechtsprivilegierten «B»-Aktien an. Der
Hang Seng Index, Leitindex für die in Hongkong kotierten Werte, brach aufgrund dieser Ankündigung um
3,7 % ein. Innert weniger Tage publizierte die Kapitalmarktaufsichtsbehörde zusammen mit der HKEx ein
Merkblatt, wonach «B»-Aktien einstweilen nicht mehr
kotiert würden. Der Entscheid wurde getroffen
«… in light of the disadvantages likely to occur in listing
such shares and because of the strong opposition by both
Hong Kong and overseas brokers.»13
Nach einem ausführlichen Konsultationsprozess erliess
die HKEx im Dezember 1989 Rule 8.11. Diese Regel
hat heute noch Bestand14, und die in Rule 8.11 erwähnte Ausnahmeklausel ist bis heute noch nie angerufen
worden15. Insbesondere hat sich die HKEx in konstanter Praxis dagegen ausgesprochen, Gesellschaften aus
dem chinesischen Festland mit Aktien unterschiedlicher
Stimmkraft zu kotieren. Als Konsequenz dieser Praxis
weichen chinesische Gesellschaften regelmässig auf andere Börsenplätze aus, vorab in die Vereinigten Staaten16.
2.2 Ausnahme für Alibaba?
Bereits 2013 war absehbar, dass der Börsengang von
­Alibaba einer der gewichtigsten in der Geschichte sein
würde. Dementsprechend gross war der Druck auf
die HKEx und ihren Chief Executive Officer Charles
Li, entgegen der Praxis zu Rule 8.11 eine Kotierung in
Hongkong zuzulassen oder gar die Regel kurzfristig
abzuändern. Alibaba führte denn auch mit der HKEx
informelle Gespräche über die Frage, ob eine Ausnahme von Rule 8.11 erwirkt werden könne. Dabei stellte
sich Alibaba auf den Standpunkt, die von ihr gewählte
12
13
14
15
16
HKEx Listing Rule 8.11.
HKEx Concept Paper: Weighted Voting Rights (2014), Rz. 86 f.
HKEx Concept Paper (FN 13), Rz. 96.
HKEx Concept Paper (FN 13), Rz. 10.
Andere Börsenplätze, die für chinesische Gesellschaften ebenfalls in
Frage kämen (z.B. Singapur und das Vereinigte Königreich), haben
ein ähnlich strenges Regime wie die HKEx (HKEx Concept Paper
([FN 13], Rz. 17).
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Governance-Struktur stehe durchaus im Einklang mit
dem Grundsatz des one share, one vote. Jack Ma verteidigte das von ihm festgelegte Governance-System:
«This is not a mere profit sharing mechanism, nor is it a
vehicle of power to exert greater control over the company. … The partnership system, operating based on
a foundation of transparency, can shield the company’s
long range development plans from the short-term pro­fit
seeking trends of the capital market.»17
Charles Li führte demgegenüber seitens der HKEx aus,
im Vordergrund stehe der Anlegerschutz, nicht emotionale Argumente oder die Interessen einer einzelnen
Gesellschaft18. Dem Vernehmen nach drängte er später
dennoch auf eine Änderung der einschlägigen Kotierungsvorschriften. Allerdings zeigte der Regulator, der
schon unter britischer Herrschaft eine bemerkenswerte
Unabhängigkeit an den Tag gelegt hatte19, Prinzipientreue: Die Mitglieder der SFC waren mehrheitlich gegen
eine kurzfristige Änderung der Spielregeln, weil
«… a concern is that Hong Kong’s status as a global financial centre could be eroded by the perception that
rules could be changed to suit a powerful player, in particular the Chinese government.»20
Mitte März 2014 gab Alibaba offiziell bekannt, ihre Aktien in New York kotieren zu wollen. Damit entgingen
dem Hongkonger Bankenplatz happige Kommissionen,
die sich am Ende auf mehr als USD 300 Mio. summierten21.
Li verteidigte öffentlich die Entscheidung der Hongkonger Behörden, setzte sich aber auch für eine Änderung
der Regeln ein, um nicht bei künftigen Börsengängen
Terrain zu verlieren22. Die HKEx startete daher im August 2014 eine Anhörung über eine mögliche Änderung
von Rule 8.11. Die Vernehmlassungsfrist lief am 30. November desselben Jahres ab23. Dem Vernehmen nach ist
das Verdikt aus Investorensicht klar: Die überwiegende
Mehrheit der in- und ausländischen institutionellen Investoren hat sich gegen eine Änderung von Rule 8.11
ausgesprochen24.
17
18
19
20
21
22
23
24
Hong Kong Stock Exchange sticks to rulebook on Alibaba IPO,
Bloomberg online, 26. September 2013.
Charles Li Direct, Blog auf der Homepage der HKEx, 25. September 2013 (<https://www.hkex.com.hk/eng/newsconsul/blog/
130925blog.htm>). Lis lesenswerte Darstellung der involvierten Interessen ist im Blog als Traum dargestellt, in dem verschiedene Gestalten das Für und Wider einer Änderung der Regeln debattieren.
Vgl. vorne FN 13.
How Hong Kong lost the Alibaba IPO, Wallstreet Journal online,
15. März 2014.
Registration Statement (FN 3), 311 und 317.
HKEx aims to change as Alibaba picks NY, South China Morning
Post, 17. März 2014.
HKEx Concept Paper (FN 13), Rz. 49.
Aussage eines Mitarbeiters im Rechtsdienst der HKEx anlässlich
des Jahreskongresses 2015 der Inter-Pacific Bar Association.
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3.
Die USA sahen das schon immer entspannt
Die New York Stock Exchange (NYSE) ist mit dem
Prinzip one share, one vote unzimperlich umgegangen,
während die HKEx sich mit einer Ausnahme schwer getan hat. Angesichts der geschichtlichen Entwicklung des
U.S.-amerikanischen Kapitalmarkts überrascht die liberale Haltung amerikanischer Börsen keineswegs.
3.1 Keine Schranken im U.S.-amerikanischen
Gesellschaftsrecht
In der Zeit der Kodifikation der Gesellschaftsrechtsordnungen der einzelnen Bundesstaaten galt das Prinzip
one share, one vote als dispositive Vorschrift, von der im
Einzelfall abgewichen werden konnte25. In den 1920erJahren kamen gestufte Beteiligungsmodelle etwas ausser
Mode: Ein Kommentator nannte stimmrechtslose Aktien damals «a crowning infamy in a series of developments
designed to disenfranchise public investors»26. Aufgrund
des öffentlichen Drucks gab die NYSE 1926 bekannt,
auf die Kotierung von Aktien unterschiedlichen Stimmrechts inskünftig zu verzichten. Sie liess aber immer wieder Ausnahmen zu27.
In den 1980er-Jahren erlebten Stimmrechtsaktien im Zusammenhang mit unfreundlichen Unternehmensübernahmen eine Renaissance. Viele belagerte Gesellschaften
führten in ihre Statuten sogenannte shareholder rights
plans (auch als poison pills bekannt) als Übernahmeschutz ein. Diese Pläne erlaubten es dem Verwaltungsrat,
im Kontext einer unfreundlichen Übernahme Aktien mit
Mehrfachstimmrecht an alle Aktionäre ausser den Angreifer auszugeben28. Die Gerichte des Staates Delaware
betrachteten shareholder rights plans generell als zulässig29, was in den Grundzügen heute noch der Fall ist30.
Ein Versuch der U.S.-amerikanischen Kapitalmarktaufsichtsbehörde (Securities and Exchange Commission,
SEC), solchen Strukturen die Kotierung zu versagen,
scheiterte vor den Gerichten mit der Begründung, die
25
26
27
28
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30
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Hans Caspar von der Crone/Nina Reiser/Evgeny Plaksen,
Stimmrechtsaktien: Eine juristische und ökonomische Analyse,
SZW 2010, 93 ff., 104 ff.; Stephen Bainbridge, The Scope of the
SEC’s Authority over Shareholder Voting Rights, UCLA Working
Paper, Los Angeles 2007, 3 ff.; Daeniker (FN 2), 169 ff.
William Ripley, Main Street and Wall Street, Boston 1927, 77.
Bainbridge (FN 25), 6 f.
Louis Loss/Joel Seligman, Securities Regulation, 3. Aufl., New
York 2003, 1833 ff.; Bainbridge (FN 25), 8 ff.
Wegweisend Unocal v. Mesa Petroleum Co., 493 A.2d 946, 955–956
(Del. Sup. 1985); Paramount Communica­tions, Inc. v. QVC Network, Inc., 637 A.2d 34, 45 (Del. Sup. 1993); In re Unitrin, Inc.
Shareholders Litigation, 651 A.2d 1361, 1373 (Del. Sup. 1995).
Seit Neuestem ist die Praxis differenziert (vgl. dazu Guhan Subramanian, A New Era for Raiders, Harvard Business Review, Nov.
2010, 34; ders., Is Delaware’s Antitakeover Statute Unconstitutional? Evidence from 1988–2008, The Business Lawyer 65 [2010],
No. 3).
SEC habe keine direkte Rechtsetzungskompetenz im
Gesellschaftsrecht31.
Die U.S.-amerikanische Technologiebörse NASDAQ
war schon immer flexibel in der Handhabung von Kotierungen von Gesellschaften mit weighted voting
rights-Strukturen. Im Nachgang zum eben erwähnten
Gerichtsentscheid32 beschloss auch die NYSE, ihre restriktive Praxis aufzugeben33.
Im Rahmen der Kotierung von Technologieunternehmen
der letzten Jahre sind Stimmrechtsaktien abermals populär geworden. Hier geht es nicht um Übernahmeschutz,
sondern um die Möglichkeit, den Gründern ungeachtet
der Beteiligung externer Kapitalgeber die Kontrolle über
ihre Unternehmen zu erhalten. Seit dem Börsengang von
Google im August 2004 haben verschiedene Technologiegesellschaften gestufte Stimmrechtsstrukturen kotieren lassen, unter anderem Facebook im Rahmen ihres
Börsengangs im Mai 201234.
3.2 Keine Schranken im U.S.-amerikanischen
Kapitalmarktrecht
Die SEC war wie gezeigt weighted voting rights-Strukturen gegenüber skeptisch, ist aber letztlich vor den Gerichten unterlegen35. Sofern das einzelstaatliche Recht
also keine Einschränkungen mit Bezug auf Stimmrechtsaktien erlässt, steht auch das Kapitalmarktrecht entsprechenden Strukturen nicht im Wege. Verlangt ist einzig
die klare Offenlegung im Börsenprospekt, einschliesslich
einer einlässlichen Beschreibung der mit solchen Strukturen verbundenen Risiken.
3.3 Aber was kriegen die Investoren dafür?
Der Börsengang von Alibaba ist nicht der erste, wohl
aber der prominenteste, bei dem der Emittent eine Kotierung in den Vereinigten Staaten der näherliegenden
HKEx vorgezogen hat. Von den mehr als hundert Gesellschaften aus der Volksrepublik China, die in den USA
kotiert sind, verfügt knapp ein Drittel über eine weighted voting rights-Struktur; gemessen an der Marktkapitalisierung beträgt der Anteil sogar 70 %36.
Investoren im U.S.-amerikanischen Kapitalmarkt können also die Aktien von Alibaba erwerben, die zu kotieren HKEx nicht bereit war. Doch was kriegen sie dafür?
Eine Gesellschaft, deren Gründer unabhängig von ihrer
Beteiligung die Mehrheit des Verwaltungsrates nominieren und abberufen können. Den Publikumsaktionären
steht nur das Recht zu, die nominierten Kandidaten zu
31
32
33
34
35
36
Business Roundtable v. SEC, 905 F.2d 406 (D.C. 1990).
Vgl. vorne FN 31.
HKEx Concept Paper (FN 15). Anhang III, Rz. 12 und 14.
Vgl. dazu Daniel Daeniker, «Like me, but don’t buy my shares».
Nachlese auf den IPO von Facebook, GesKR 2012, 438 ff.
Vgl. vorne FN 31.
HKEx Concept Paper (FN 13), Rz. 15.
genehmigen; versagen sie dem anointed candidate die
Wahl, wird ein anderer bestimmt.
Hinzu kommt, dass die variable interest entity-Struktur
wie gezeigt37 zwar Zugriff auf die Einkünfte der chinesischen Aktivitäten von Alibaba vermittelt, aber keine
Eigentumsrechte daran – ähnlich wie bei einem Anlagefonds. Ob eine solche Struktur nach chinesischem Recht
überhaupt zulässig ist, wird von den Anwälten zwar vermutet, kann aber letztlich nicht mit Sicherheit bestätigt
werden:
«There are substantial uncertainties regarding the interpretation and application of current PRC laws, rules and
regulations. Accordingly, the PRC regulatory authorities
and PRC courts may in the future take a view that is
contrary to the opinion of our PRC legal counsel.»38
Also investieren renditeorientierte Anleger bei Alibaba
in ein Geschäftsmodell, das möglicherweise rechtlich
unzulässig ist, und erhalten dafür keine Möglichkeit der
Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Verwaltungsrates. An der Beliebtheit der Alibaba-Aktien tun
diese juristische Bedenken allerdings keinen Abbruch.
III. Sika: (k)ein Lehrstück der Corporate
Governance
Dieser Beitrag ist nicht der Ort, die Rechtsfragen umfassend zu analysieren, die sich im Zusammenhang mit
der geplanten Übernahme einer Mehrheit der Sika AG
stellen. Einige Bemerkungen zum Fall sind aber dennoch
angezeigt.
1.Ausgangslage
Betrachtet man die Ausgangslage – gewissermassen die
Aufstellung der Spieler vor dem Anpfiff –, ist die Situation klar: Die Sika hat in der Vergangenheit den rechtlichen Spielraum, der ihr zusteht, so ausgenützt, dass
die Publikumsaktionäre faktisch keinen Einfluss auf die
Kontrolle des Unternehmens ausüben können.
• Die Sika hat zwei Kategorien von Aktien ausstehend:
Inhaberaktien zu CHF 9 Nennwert und Namenaktien zu CHF 1.50 Nennwert, womit die Sika nicht einmal den im Gesetz vorgesehenen maximal zulässigen
Hebel (1:10; Art. 693 Abs. 2 OR) ausgenützt hat39.
37
Registration Statement (FN 3), 49 und 89.
Registration Statement (FN 3), 49 und 92.
39 Zu den Stimmrechtsaktien allgemein vgl. Eddy Wymeersch,
Shareholder(s) matter(s), in: Grundmann/Haar/Merkt et al.
(Hrsg.), Festschrift Klaus J. Hopt, Berlin 2010, 1565 ff., 1577; von
der Crone/Reiser/Plaksen (FN 25), 102 ff.; Adrian Bieri, Statutarische Beschränkungen des Stimmrechts, Diss. Zürich 2011,
389 ff. (SSHW 303); Max Gerster, Stimmrechtsaktien, Diss. Zürich 1997, 50 ff. (SSHW 183); Vogt (FN 1), 123 f.; Daniel Häusermann, Stimmrechtsaktien zwischen Gestaltungsfreiheit und
Minderheitenschutz (erscheint in SZW 3/2015).
38
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Der Stimmkraftshebel führt dazu, dass die Gründerfamilie Burkard-Schenker etwas über 15 % des Kapitals, aber mehr als die Hälfte der Stimmen der Gesellschaft kontrolliert.
• Die börsenrechtliche Angebotspflicht (Art. 32 Abs. 1
BEHG) besteht seit dem 1. Januar 1998. Die Sika war
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der entsprechenden
Bestimmungen bereits kotiert. Sie konnte innerhalb
einer zweijährigen Übergangsfrist durch einfachen
GV-Beschluss und ohne Nachweis eines wichtigen
Grundes die Angebotspflicht wegbestimmen, also
den status quo ante perpetuieren (Art. 53 BEHG).
Seit 1998 hat die Sika denn auch eine Bestimmung in
ihren Statuten, wonach die Angebotspflicht für den
Fall einer Kontrolltransaktion wegbedungen wird.
• Die Aktie ist ein «kausales» bzw. ein typusbestimmtes Wertpapier. Wer die Aktie erwirbt, ist gehalten,
alle bestehenden Einschränkungen betreffend die
Ausübung von Aktionärsrechten zu akzeptieren40.
Dies gilt insbesondere auch für Stimmrechtsaktien
und für Gesellschaften, die die Angebotspflicht für
nicht anwendbar erklärt haben.
Wer Sika-Aktien kaufte, wusste – oder konnte sich ohne
Weiteres informieren –, auf welches Spiel er sich einliess.
So, what’s the problem?
2.
Non omne quod licet honestum est 41
Die Familie Burkard-Schenker hat bekanntlich das kontrollierende Aktienpaket an der Sika einem ausländischen
Erwerber verkauft, ohne Verwaltungsrat oder Geschäftsleitung auch nur über die Verkaufsabsicht in Kenntnis zu
setzen; ein juristisch vertretbares, in der Praxis aber in
jeder Hinsicht unübliches Vorgehen. Man kann sich fragen, was die Verkäufer und ihre Berater zu diesem Vorgehen motiviert hat. Auf jeden Fall überraschte es wenig,
dass sich der Verwaltungsrat – einmal vor vollendete Tatsachen gestellt – weigerte, bei diesem Spiel mitzumachen.
Zweifelsohne hat die Verkäuferschaft den ihr zustehenden rechtlichen Spielraum bis an (oder über) die Grenze
ausgereizt. Auch hatte jeder Investor Anlass zu hoffen,
dass die Familie Burkard-Schenker sich an helvetische
Gepflogenheiten anständigen Geschäftsgebarens halten
würde. Ob sich daraus ein rechtlich durchsetzbarer Anspruch ableiten lässt, steht indes auf einem anderen Blatt:
Fair dealing ist nicht justiziabel.
3.
Juristischer Grabenkrieg mit Folgen
Der Verwaltungsrat der Sika, sekundiert durch enttäuschte Publikumsaktionäre, trägt mit der Verkäufer-
40
Arthur Meier-Hayoz/Hans Caspar von der Crone, Wertpapierrecht, 2. Aufl., Bern 2000, § 19 N 34.
41 Nicht alles, was erlaubt ist, ist anständig (Paulus, D. 50,17,44).
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schaft seit Monaten ein juristisches Scharmützel ums andere aus: zur Frage der Zulässigkeit der Streichung der
Stimmrechte im Aktienbuch vor einer Generalversammlung, zur Zulässigkeit des Opting-out, zur Frage, ob die
Verteidigungsstrategie des Verwaltungsrates eine statthafte Verwendung von Gesellschaftsmitteln darstellt.
Der juristische Grabenkrieg zeigt indes bedauerliche
Folgen über den aktuellen Fall hinaus: Auf der Strecke
bleibt zunächste die positive Wahrnehmung der schweizerischen Regelung betreffend Stimmrechtsaktien und
Opting-out, bislang vielerorts gepriesen als flexible
Lösung für die Bedürfnisse einzelner Publikumsgesellschaften42. Kein Wunder, dass eifrige Parlamentarier bereits den privatautonomen Ansatz des schweizerischen
Rechts in Frage stellen und stattdessen Sympathien für
ein one size fits all bekunden43. Dabei geht vergessen,
dass sich die Regelung des schweizerischen Rechts gut
bewährt hat und die Gestaltungsfreiheit im Recht der
Publikumsgesellschaften eine positive Facette für die
Schweiz im internationalen Standortwettbewerb darstellt.
Auf der Strecke bleibt auch eine gewisse Zurückhaltung,
wenn es um juristische Händel geht. Die Gerichte des
Staates Delaware haben während der Übernahmewelle
der 1980er-Jahre mit Bedauern festgestellt, dass texanische Ellbogenmethoden nun auch in ihrem Staate Einzug halten44. Der Beobachter in der Schweiz, der die
Führung von Prozessen als volkswirtschaftlichen deadweight loss betrachtet, dürfte die neuste Entwicklung mit
ebenso wenig Freude betrachten. Dem Ruf des hiesigen
Unternehmensstandortes wird dieses juristische Gezerre
keinen Nutzen bringen.
IV.Konklusion
Man mag die HKEx für ihre Standfestigkeit beglückwünschen, trotz erheblichen politischen und kommerziellen Drucks am Prinzip one share, one vote und an den
eigenen Regeln festgehalten zu haben. Man mag auch den
Fall Sika zum Anlass nehmen, die gesetzlichen Regeln
betreffend Stimmrechtsaktien und Opting-out als Relikt
alter Zeiten abzutun und lauthals deren Abschaffung zu
fordern. Aber hard cases make bad law45: Einzelfälle eignen sich nicht für regulatorische Wertungsentscheide.
42
Vgl. die Nachweise bei Daeniker (FN 2), 181 f.
Postulat SR Bischof vom 11. November 2014 (Geschäft Nr. 14.4154);
Postulat SR Minder vom 1. Juni 2015 (Geschäft Nr. 15.3504).
44 Paramount Communications, Inc. v. QVC Network, Inc., 637 A.2d
34, 54 (Del. Sup. 1993).
45 «Great cases like hard cases make bad law. For great cases are called
great, not by reason of their importance ... but because of some accident of immediate overwhelming interest which appeals to the feelings and distorts the judgment.» (Northern Securities Co. vs. United
States, 193 U.S. 197 [1904], dissenting opinion von Oliver Wendell Holmes, J.).
43
Daniel Daeniker – Wer zahlt, befiehlt? Vielleicht auch nicht
Das schweizerische Gesellschaftsrecht verleiht mit Bezug auf differenzierte Stimmrechtsmodelle, aber auch
mit Bezug auf die börsenrechtlichen Pflichten, eine grosse Gestaltungsfreiheit. Im internationalen Standortwettbewerb ist diese flexible Haltung des Gesetzgebers ein
Trumpf, den es zu erhalten gilt. Trotz aller Streitigkeiten
um die Kontrolle der Sika bleibt zu hoffen, dass dieser
Trumpf nicht leichtfertig verspielt wird.