Rezension Rezension Johannes Bittner (2003): Digitalität, Sprache, Kommunikation. Eine Untersuchung zur Medialität von digitalen Kommunikationsformen und Textsorten und deren varietätenlinguistischer Modellierung rezensiert von Dajana Knappe (Hannover) Rezension Rezension JOHANNES BITTNER (2003). Digitalität, Sprache, Kommunikation. Eine Untersuchung zur Medialität von digitalen Kommunikationsformen und Textsorten und deren varietätenlinguistischer Modellierung. Berlin: Erich Schmidt 323 S./EUR 39,80/ISBN 3-503-06173-8 Das Digitalmedium Computer und damit eng verbunden das Internet gelten als Inbegriffe des digitalen Zeitalters und stehen damit für das oft prophezeite »Ende der Gutenberg-Galaxis«. Beide – Computer und Internet – haben sich nicht nur in unserem Alltag feste Plätze geschaffen, sondern auch in unserer Kommunikationskultur und in unserem Medienspektrum. Die besondere Eigenschaft der so genannten »neuen Medien«, die Digitalität, ermöglicht die Aufnahme und Verbindung der alten analogen Codes sowie deren digitale Nutzbarmachung. Dies bedeutet nicht nur das Fortbestehen der alten Medien, sondern ebenfalls die Herausbildung bisher unbekannter Sprach- und Kommunikationsformen, deren spezifische Eigenschaften neue Analysemodelle und Herangehensweisen erfordern. In seiner Dissertation zeigt Johannes Bittner Beschränkungen und Grenzen etablierter Modelle und Methoden auf, die analogmedial orientiert sind. Eine ausführliche empirische Analyse geschäftlicher E-Mails, privater Homepages und Kommunikationssituationen aus dem Chat zeigt die besonderen Merkmale von Sprache in digitalen Medien auf, die schließlich auch zu einer Veränderung unserer Auffassung von Sprechen, Schreiben, Sehen, Lesen und Hören geführt haben. Auf dieser Basis entwickelt Bittner ein Modell, welches das jeweilige Kommunikationsmedium mit berücksichtigt. Unter www.digitalitaet.net stehen dem Leser neben dem Korpus auch weiterführende Informationen zur Verfügung. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, mit dem Autor in Kontakt zu treten. Im Folgenden wird gezeigt, wie Johannes Bittner auf 323 Seiten einen Forschungsüberblick liefert, die Veränderungen innerhalb der Sprache aufzeigt, um in der Konsequenz das Augenmerk der Sprachwissenschaft auf die Entwicklung neuer Analyseverfahren zu lenken. Nach einem kurzen Vorwort, in dem Bittner über die Veränderungen durch digitale Medien zum ema hinführt, beginnt der erste Teil seines Buches »Grundlegung«. Es folgt der Haupteil »Darstellung und Analysen« sowie der abschließende Teil »Konsequenzen«. Am Ende der Kapitel 2 bis 8 hat Bittner unter der Überschrift »Fazit« jeweils das Wichtigste des vorangehenden Kapitels zusammengefasst und bietet damit dem Leser eine gute Möglichkeit, seinen Gedankengang konsequent nachzuvollziehen. Zu Beginn arbeitet Bittner Digitalität als das qualifizierende Merkmal moderner Technologien heraus. Dabei verweist er neben dem digitalen Fernsehen und der Fotografie auch auf die kommenden Veränderungen durch UMTS Lizenzen. 2 In diesem Zusammenhang nimmt der Autor ebenfalls zu den Begriffen »Medienrevolution« und dem damit verbundenen »Ende der GutenbergGalaxis« Stellung. Revolutionär an den »neuen Medien« sei dabei nur die Tatsache, dass die Veränderungen nicht auf den medialen Bereich beschränkt bleiben, sondern nahezu »ganzheitlich« unsere Weltsicht verändern. Von einer Revolution kann laut Bittner jedoch keine Rede sein, denn die alten Medien bleiben bestehen, werden in digitale Medien integriert, erweitert, modifiziert – und das friedlich. Obwohl sich Psychologie, Medienwissenschaften, Kommunikations- und Sozialwissenschaften bereits intensiv mit den digitalen Medien auseinandergesetzt haben und sie in ihrer Lehre berücksichtigen, hängt die Sprachwissenschaft diesen Disziplinen hinterher. Bittner lehnt die bisherige Vorgehensweise auf diesem Gebiet ab, bei der eine Diskrepanz zwischen der Konstatierung zahlreicher Veränderungen durch und in den digitalen Medien und der Anwendung konventioneller eorien und Modellbildungen besteht. In Kapitel 2 berücksichtigt Bittner jedoch die anfängliche Unsicherheit seiner Kollegen und untersucht vorliegende Arbeiten, wie etwa von Turkle, Schlobinski, Schmitz und anderen. Dabei arbeitet er Defizite im Bereich eorie und Modellbildung heraus, die auf das »Zwei-Welten-Modell« zurückzuführen sind. Er konstatiert, dass die Unterscheidung zwischen Schrift und Sprache, zwischen Langue und Parole, ebenso wie die medienindifferenten Modelle durch die neuen Sprachformen in den digitalen Medien an ihre Grenzen gestoßen sind. In dem letzten Kapitel des ersten Teils stellt Bittner die Modelle von Löffler und Koch/Oesterreicher vor, welche beide Unterschiede in ihren Ansätzen, Kategorisierungen und Modellierungen aufweisen, die oppositionelle Einteilung von Schrift und Rede jedoch gemeinsam haben. Anhand dieser beiden Modelle wird Bittner im zweiten Teil seines Buches »Darstellung und Analysen« untersuchen, inwieweit traditionelle Modelle geeignet sind, die neuen Kombinationen von Schrift und Zeichen zu analysieren. Er beginnt mit den Homepages, denen er die Funktion eines Orientierungspunktes im Hypertextsystem und der Konstruktion von Identitäten zuweist. Damit der Laie ihm folgen kann, erläutert Bittner zuerst den grundlegenden Aufbau des World Wide Webs und anschließend den Begriff der Textsorte. 3 Mithilfe des von Wolfgang Raibles entwickelten Bezugssystems arbeitet Bittner die wichtigsten Unterschiede zu analogen Texten heraus. Diese liegen hauptsächlich in der Digitalität begründet und führen zu einer prinzipiell öffentlichen, faktisch jedoch begrenzt öffentlichen neuen Textform, in der die emen frei wählbar sind, die Konstruktion von Identitäten möglich ist und deren hypertextbasierter Aufbau sowie die Notwendigkeit der Nutzung eines Bildschirms eine neue Strukturierung erforderlich machen. Damit prägen der Computer und das Netz nachhaltig Form, Inhalt und Funktion der Textsorte Homepage. Problematisch sind hierbei die Wirklichkeitsabbildung, -modellierung und -ablösung: Der Beobachter kann nicht immer eindeutig entscheiden, was real oder unwirklich (= virtuell) ist. Damit ergänzt das Medium Internet das Spektrum unserer Wirklichkeiten um eine weitere Ebene, die neue Qualitäten mit sich bringt, welche in traditionellen Modellen nicht erfasst werden können. Im Kapitel 5 widmet sich Bittner der E-Mail-Kommunikation. Nach einer Beschreibungsphase hebt er besonders die technischen Bedingungen hervor, die dem Nutzer das Schreiben, Weiterleiten und Beantworten der E-Mails erleichtern. Unterschiede zu herkömmlichen Briefen sieht er vor allem in der Betreffzeile, die dem Empfänger vor dem Öffnen der Nachricht ermöglicht, die Wichtigkeit einer Nachricht abzuschätzen. Hinzu kommt die verwendete Syntax, die weder der schriftlichen, noch der mündlichen Kommunikation eindeutig zuzuordnen ist, sowie der (noch) unsichere Umgang mit Anrede und Grußformel. Eine Sonderrolle nehmen bei der E-Mail-Kommunikation Tippfehler und Sprachspiele ein, die laut Bittner noch einer näheren Untersuchung bedürfen. Zuletzt wird die Chat-Kommunikation in Kapitel 6 analysiert, welche die Schrift als Überbrückung von räumlicher und zeitlicher Distanz nutzt. Nach einer kurzen Einführung in die Diskursanalyse kann der Leser Bittners Gedankengängen leicht folgen, wenn er die Besonderheiten dieser für ihn »interessantesten (...) Kommunikationsform« herausarbeitet: Im Gegensatz zu Gesprächen findet hier kein gemeinsamer Prozess statt, denn jeder Chatter schreibt für sich allein. Dies hat zur Folge, dass einige Teilnehmer der Chatgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt den gesendeten Text rezipieren können, während zeitgleich ein anderer Teil der Chatgemeinschaft neue Texte produziert, so dass Produktion und Rezeption gleichzeitig möglich sind. Dies käme in Gesprächen einem »Durcheinanderquasseln« gleich. Die Übermittlung der Botschaften nach Fertigstellung durch den Server bedeutet eine geringe Zeitverschiebung, worin er mit den vorliegenden Meinungen seiner Kollegen aus der Sprachwissenschaft übereinstimmt. Anerkannter Maßen wurde diese Art der Kommunikation bisher als »synchron« bezeichnet, höchst wahrscheinlich wegen der geringen zeitlichen Verzögerung und um der 4 Begrifflichkeit willen. Dieses Verhalten gengestellt. Im Prinzip wird das, was der erscheint Bittner als unangemessen, Leser bereits im Laufe des Buches über ebenso wie die Aussage, die Chat-Kom- diese vier emenbereiche erfahren hat, munikation sei eine Mischform zwischen wissenschaftlich belegt und erläutert. Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Bittner arbeitet hier die einzelnen BereiDaher entwickelt er für sich die che der Linguistik und deren Aufgaben Begriffe »quasi-synchron« oder »pseudo- heraus, um sie gegeneinander abzugrenphasengleich«. Die zen und festzustellen, Tatsache, dass in dass die digitalen Zur Rezensentin: einem öffentlichen Medien einen neuen »Raum« anonyme Kommunikationsraum Nutzer eine persoDajana Knappe studiert an der geschaffen haben, nalisierte Form des Universität Hannover dessen »tiefere Konthemenoffenen Chats Germanistik. sequenzen und Implierhalten, was durch kationen für Formen flüstern und abblocken Kontakt: und Funktionen der bestimmter [email protected] menschlichen Kommer möglich ist, veranmunikation noch nicht lasst Bittner dazu, der abzuschätzen sind«. Chat-Kommunikation eine SonderstelIn dem Abschnitt »Varietätenmodell lung außerhalb von Mündlichkeit und der deutschen Gegenwartssprache« stellt Schriftlichkeit zuzuweisen. Verbstamm- Bittner den Computer vor sozio-, dia-, bildungen, Akronyme und Emotikons und idiolektale Einflüsse ebenso wie stützen seine Aussage diesbezüglich. vor Textsorten und Stilen. Die EigenObwohl Bittner die drei neuen Kom- schaften des Digitalmediums erlauben munikationsformen private Homepa- uni-, bi- sowie multidirektionale Interges, E-Mail und Chat sehr ausführlich aktionen in asynchroner und quasidargestellt hat, findet der mit diesen synchroner Ausführung. Grund genug, Formen vertraute Leser nicht allzu wieder einmal Kritik an der bisherigen viel Neues bei Bittners Ausführungen. Vorgehensweise der Sprachwissenschaft Einen Blick fürs Detail muss man dem zu üben. Dazu stellt er drei esen auf, Autor dabei allerdings lassen. die er als kommende Herausforderungen Bevor Bittner in Kapitel 8 sein »medial für die Sprachwissenschaft ansieht: orientiertes Varietätenmodell« entwi1. Den Medienwandel nutzen, um ckelt, werden im vorangehenden Kapitel eine Neuorientierung der Forschungs»Digitalität und Analogizität« die Cha- perspektiven zu vollziehen. rakteristiken der neuen Textformen auf 2. Die Einteilung »Schrift und Rede« theoretischer Ebene herausgearbeitet. aufgeben und durch MethodenpluralisDabei wird der Analogizität die Digi- mus zu aussagekräftigen Ergebnissen talität und der Rede die Schrift entge- gelangen. 5 3. Grundlagen und Ursachen des medialen Wandels transparent machen, um eine Reflexion und eine offene ematisierung zu gewährleisten. Auf knapp vier Seiten stellt Bittner sein Modell übersichtlich vor, ohne die Erläuterung der einzelnen Termini zu vergessen. Es ist leicht verständlich und berücksichtigt nur drei grobe Kategorien: Das Medium (z.B. Computer), auf dessen Grundlage nur bestimmte Kommunikationsformen zur Verfügung stehen, die Kommunikationsform als konkrete Nutzungsform des ausgewählten Mediums (Chat) und die nichtmedialen, fakultativen Lekte ( Sozio-, Idio-, Dialekte). Die Zeit wird zeigen, wie die Sprachwissenschaft mit diesem Modell umgeht und es gegebenenfalls näher spezifiziert. In Kapitel 9, »Digitale Medien ein Ausblick“ stellt Bittner abschließend den Status Quo vor und wagt nur einen kurzen Blick nach vorn. Realistisch betrachtet er dabei die „Wunschmaschine Computer«, die digitalisierte Informationen nur in sich aufnehmen und verarbeiten kann, wenn diese nach mathematischen Regeln und Kriterien erfassbar sind. Sein Blick schweift von der Maschinenschrift über die Maschinensprache zur Maschinenrede, die zwar noch in den Anfängen sind, deren Einsatz aber schon jetzt bei der Nutzung des Computers durch Blinde erfolgt. Programme wie »Eliza« oder »Julia« lenken Bittners Aufmerksamkeit auf die künstliche Intelligenz, deren Entwicklung er als problematisch betrachtet. Menschliches Denken, menschliche Sprache und deren Charakteristiken ›› sind derzeit noch nicht abschließend geklärt – wie also soll es möglich sein, Intelligenz zu programmieren? Die Frage sollte eher lauten, welche Art von Intelligenz können ein Computer und sein Programm leisten? Und welche Rolle spielen in Zukunft »Parole« und »Langue«, deren Vermischung im Digitalmedium stattfindet? Aus diesem Grund fordert Bittner die Problematisierung und Neudefinierung des Begriffs »Sprache« und beweist Humor, als er sich vom Leser verabschiedet: »e End of the Internet«. Fazit: Das Buch bietet eine detaillierte Beschreibung und Analyse der neuen Kommunikationsformen und der dahinterstehenden Technik, wirklich Neues jedoch erschließt sich dem mit dem Medium vertrauten Leser nur wenig. Bittners Modell bietet eine gute und neue Basis für ein medienorientiertes Modell, dabei gewinnt allerdings die Kritik am Forschungsstand der Sprachwissenschaft manchmal die Oberhand. Die zahlreichen Literaturnachweise zeigen, dass das ema gründlich recherchiert wurde und dem Autor vertraut ist. Ein Abbildungsverzeichnis sowie die kurzen Zusammenfassungen am Ende der relevanten Kapitel machen das Buch benutzerfreundlich und eignen sich hervorragend zum Nachschlagen. Wer einen fundierten und gründlichen Einblick in diesen Bereich der Sprachwissenschaft erhalten möchte, findet hier das erforderliche GrundlagenWissen, viele Beispiele und Modelle und wird auf den neuesten Stand der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten gebracht. Online verfügbar seit: 2003 URL: http://www.mediensprache.net/de/literatur/rezensionen/docs/2038.pdf Versionshinweise: keine Dieser Text ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors resp. des Projekts sprache@web unzulässig und straf bar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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