Binnenwanderungen älterer Menschen Klaus Friedrich Der tiefgreifende demographische Alternsprozess moderner Gesellschaften rückt zunehmend auch in Deutschland die Mobilität älterer Menschen in das öffentliche und wissenschaftliche Interesse. In diesem Zusammenhang gewinnen Wanderungen – also die Zu- und Fortzüge über Gemeindegrenzen – besondere Bedeutung für die derzeitige und künftige räumliche Verteilung der A in Tsd. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Alter Migrationsraten im Altersverlauf, 90er Jahre in 140 120 100 80 60 40 20 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 B 90 Alter Binnenwanderungsverflechtungen zwischen Gebietstypen hochverdichtete Kreise Kernstädte Im Altersprofil zeigt sich mit Zunahme der gelebten Jahre eine deutlich zurückgehende Wanderungsbeteiligung A . Mit jährlich ca. 223.000 Wohnortwechslern im Alter von 65 und mehr Jahren liegt ihre Migrationsquote etwa um den Faktor 3 unter derjenigen der Gesamtbevölkerung. Bemerkenswert ist der relative Anstieg der Wanderungsbeteiligung unter den Hochbetagten. Dieses Altersprofil hat auch im internationalen Vergleich Bestand und gilt als typisch für moderne Gesellschaften. In der Öffentlichkeit werden Altersmigrationen häufig mit Fernwanderungen gleichgesetzt. Analysen mit neueren Daten zeigen jedoch, dass derartige Fernwanderungen nur etwa ein Drittel aller Wohnortwechsel von Senioren repräsentieren, zwei Drittel suchen dagegen ein Ziel im gleichen Bundesland 3 . Die genauere Auswertung nach der kilometrischen Luftliniendistanz zwischen Herkunfts- und Zielgebiet ergibt ihre C Reichweite der Binnenwanderungen älterer Migranten anderes Bundesland gleicher Kreis 28% 35% anderer Kreis im gleichen Bundesland 37% © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 verdichtete Kreise ländliche Kreise und Regionen starke Verluste Gewinne und Binnenverflechtung starke Gewinne und Binnenverflechtung ausgeglichene Salden vorrangige Orientierung auf benachbarte Gebiete und Entfernungszonen: Nahezu zwei von drei durchgeführten Wohnortwechseln finden im Radius von nur 50 km statt. Im Zeitvergleich zeigt sich überdies ein deutlicher Rückgang der vor einigen Jahrzehnten noch bedeutenderen Fernwanderungen. Die Herkunfts- und Zielgebiete © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 124 Binnenwanderungen älterer Menschen* 1997 4 nach Ländern SchleswigHolstein M e c k l e n b u r g V o r p o m m e r n Hamburg Bremen Wanderungsbeteiligung und Reichweite Migration im Altersverlauf, 90er Jahre 160 140 120 100 80 60 40 20 0 Zielgruppe. Informationen über diese Muster sind z.B. wichtig für die Planung der altenspezifischen sozialen Infrastruktur in den Gebietskörperschaften. Die Alternsforschung interessiert sich aber auch für die Frage, ob Migrationen im höheren Erwachsenenalter Ausdruck von Verdrängungsprozessen sind oder Rückschlüsse auf die Dynamik und Flexibilität der Akteure im Sinne der „jungen Alten” ermöglichen. Die räumliche Aufschlüsselung der überregionalen Migrationen zwischen Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Bevölkerung N i e d e r s a c h s e n Berlin Brandenburg SachsenAnhalt NordrheinWestfalen S a c h s e n Thüringen H e s s e n RheinlandP f a l z Saarland B a y e r n Autor: K. Friedrich B a d e n - W ü r t t e m b e r g Binnenwanderungssalden starke Gewinne geringe Gewinne ausgeglichen geringe Verluste starke Verluste Nettobinnenwanderungsströme zwischen den Ländern > 400 200 bis 400 100 bis 200 0 © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 den Bundesländern 4 zeigt eine ausgesprochene Selektivität: Hinsichtlich der Wanderungsbilanzen haben sich unter den Flächenstaaten zwischenzeitlich eine Nord- und eine Südschiene als Zielregionen herausgebildet, während in der Mitte Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt sowie die drei Stadtstaaten eine negative, Sachsen, Hessen und das Saarland hingegen eine ausgeglichene Bilanz verzeichnen. Betrachten wir die Austauschprozesse durch Verknüpfung von Herkunfts- und Zielgebieten, festigt sich im Stromdiagramm im Vergleich zu den beginnenden 1990er Jahren die dominierende Südorientierung – bei Verlusten für Baden-Württemberg – und der Wegfall des *65-Jährige und ältere 25 50 75 100 km Maßstab 1 : 6 000 000 ehemals deutlichen Ost-West-Transfers. In der kleinräumigen Betrachtung nach Kreisen und kreisfreien Städten 5 folgen inzwischen auch die ostdeutschen Gebietskörperschaften mehrheitlich dem westdeutschen Muster: Negative Wanderungsraten verzeichnen vor allem die größeren Kernstädte, während die angrenzenden Gebietseinheiten in den Verdichtungsräumen Gewinne verbuchen. Dieser intraregionale Dekonzentrationsprozess ist im Großraum Berlin fast idealtypisch ausgeprägt und auch um Hamburg, München und Leipzig zu erkennen (AA Beiträge Bucher/ Heins, S. 114; Herfert, S. 116). Abgeschwächter gilt dies auch für die mittleren Kernstädte und deren Umlandberei- che. Wanderungsgewinne entfallen ebenfalls auf landschaftlich attraktive Regionen z.B. im norddeutschen Küstenbereich und im Alpenvorland. Sonderentwicklungen ergeben sich einerseits im Süden Sachsen-Anhalts und Sachsens, wo die Abwanderung auffallend überwiegt, sowie andererseits für solche Kreise wie z.B. Göttingen, Osnabrück, Freudenstadt, Rastatt und Ostprignitz-Ruppin, deren hohe Zuund Abwanderungswerte auf die Erstaufnahme von Aussiedlern zurückzuführen sind (AA Beitrag Mammey/Swiaczny, S. 132). Da sich jedoch deren Zustrom innerhalb der letzten Jahre drastisch verringert hat, fehlen die ehemals extrem ausgeprägten Schwankungen. Binnenwanderungen älterer Menschen 1997 E nach Kreisen Kiel Bad Doberan Segeberg Neubrandenburg Schwerin Bremerhaven Hamburg Bremen Oberhavel Regionale Konsequenzen Barnim Die nähere Betrachtung der Richtung der regionalen Austauschprozesse zwischen Strukturregionen 2 unterstreicht die bereits erwähnte Tendenz zur Dekonzentration entgegen der metropolitanen Hierarchie: Von den Fortzügen der Senioren aus den Kernstädten wie z.B. aus Berlin, München, Stuttgart oder Frankfurt profitieren nicht nur die unmittelbar angrenzenden hochverdichteten Kreise, sondern vor allem die etwas entfernteren Umlandregionen (verdichtete Kreise) sowie die ländlichen Kreise und Regionen. Während die urbanen Zentren bald eine zu geringe Auslastung ihrer guten Ausstattung mit altengerechter sozialer Infrastruktur befürchten, wird diese künftig im derzeit noch „jungen“ suburbanen Umland am nachhaltigsten erforderlich sein. BERLIN Potsdam Hannover Oder-Spree Potsdam-Mittelmark Dahme- Magdeburg Spreewald Duisburg Halle/S. Kassel Hoyerswerda Delitzsch Leipzig D Leipziger Land Dresden Erfurt Zuwanderung und Abwanderung Wiesbaden Wanderungsursachen Die Vielfalt und Uneinheitlichkeit der in der Literatur angeführten Umzugsgründe erschweren die Formulierung plausibler Erklärungen, weshalb Senioren eine einschneidende Veränderung ihrer Umwelt durch Wohnsitzverlagerungen auf sich nehmen, obwohl sie ganz überwiegend dazu neigen, ihr vertrautes Umfeld möglichst beizubehalten. In der südhessischen Region Starkenburg konnten die Ziele der älteren Migranten auf der Basis von Individualdaten bestimmt werden: 21% zogen in Heime, die übrigen in Privathaushalte. Während unter den Heimeinzüglern Hochaltrige signifikant überwiegen, ergab die Befragungen derjenigen, die in Privathaushalte ziehen, dass endogene und exogene Umzugsmotive nahezu gleichgewichtig die Entscheidung bestimmen: Die am häufigsten vertretenen – und auf die privaten Netzwerke von Angehörigen hin ausgerichteten – Migrationen (43%) sind in gesundheitlichen Einschränkungen oder dem Verlust einer Bezugsperson begründet. Etwa ein Drittel (30%) der Wohnortwechsel lassen sich auf äußere Ursachen wie unzulängliche Wohn- und Lebensbedingungen zurückführen, 10% der älteren Zuzügler sind Aus- oder Übersiedler. Demgegenüber entspricht nicht einmal jeder fünfte Fortzug (17%) einer klassischen Ruhesitzwanderung durch Wahl Märkisch-Oderland Havelland Offenbach 7005 6000 Abwanderung Frankfurt Mainz 4000 Trier Zuwanderung Ländergrenze 2000 100 Saarbrücken Staatsgrenze Max.: 7005 Min.: 56 1mm ^= 270 Personen Stuttgart Kreisgrenze BERLIN Bundeshauptstadt Bremen Landeshauptstadt Nettobinnenwanderungsraten der 65-Jährigen und älteren* München Autor: K.Friedrich © Institut für Länderkunde, Leipzig 2001 eines attraktiven Wohnortes in der Wunschwohngegend. Fazit Die Ergebnisse dieser Untersuchungen rücken die verbreitete Sichtweise zurecht, wonach Senioren unzulängliche Lebensbedingungen am bisherigen Wohnort primär durch Fernwanderun- sehr hohe Gewinne starke Gewinne geringe Gewinne ausgeglichen geringe Verluste starke Verluste sehr starke Verluste Bodensee * Saldo/1000 der gleichaltrigen Bestandsbevölkerung Klassengrenzen: -9; -5; -1; 1; 5; 9 gen zu landschaftlich attraktiven Zielgebieten kompensieren würden. Stattdessen prägen Standortverbundenheit und Entfernungsempfindlichkeit das Wanderungsverhalten während dieser Phase des Lebenszyklus: Ältere Menschen verlassen in der Regel ihre vertrauten Wohnorte, um im Falle gesundheitlicher Beeinträchtigungen Hilfe in 0 25 50 75 Maßstab 1: 3750000 der Nähe von bzw. bei Angehörigen oder in Heimen zu finden.? Binnenwanderungen älterer Menschen 125 100 km
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