2015 Bemerkungen Nr. 56 - Unzureichende Aufsicht über

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
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Drucksache 18/XXXX
Bundesministerium für Gesundheit (BMG)
(Einzelplan 15)
56
Unzureichende Aufsicht über Dienstleister von Krankenkassen
Kat. B
(Kapitel 1502 Titel 636 06)
56.0
Das Bundesversicherungsamt hat als Aufsichtsbehörde nicht eingegriffen, als eine Arbeitsgemeinschaft zahlreicher Krankenkassen und ihrer Landesverbände in eine existenzbedrohende wirtschaftliche Schieflage geraten ist. Es beanstandete weder die Verwendung treuhänderisch verwalteten Vermögens für den laufenden Geschäftsbetrieb, noch
forderte es die Arbeitsgemeinschaft auf, einen Insolvenzantrag zu stellen.
56.1
Arbeitsgemeinschaft von Krankenkassen und ihren Verbänden
Dem Bundesversicherungsamt (BVA) obliegt die Rechtsaufsicht über die Gesetzlichen
Krankenkassen (Krankenkassen). Sie erstreckt sich auch auf Arbeitsgemeinschaften, die
Krankenkassen zur Erledigung von Aufgaben einrichten. Das BVA untersteht dabei dem
BMG.
Das BVA kann die Geschäfts- und Rechnungsführung von Arbeitsgemeinschaften prüfen.
Verletzt eine Arbeitsgemeinschaft geltendes Recht, kann das BVA dies beanstanden und
beratend auf sie einwirken. Sie kann außerdem die Gesellschafter-Krankenkassen beraten
oder – falls das erfolglos bleibt – verpflichten, darauf hinzuwirken, den Rechtsverstoß der
Arbeitsgemeinschaft zu beheben.
Im Jahr 2007 bildeten mehr als 100 Krankenkassen und ihre Verbände eine Arbeitsgemeinschaft. Sie sollte ab dem Jahr 2009 Dienstleistungen für Krankenkassen und ihre
Verbände erbringen. Die Arbeitsgemeinschaft wurde als Gesellschaft mit beschränkter
Haftung (GmbH) gegründet. Sie hat einen Aufsichtsrat, der u. a. die Geschäftsführung zu
überwachen hat. Den Geschäftsbetrieb sollten die Krankenkassen und ihre Verbände als
Gesellschafter bis zum Jahr 2010 über Umlagen und danach mit Entgelten für Dienstleistungen finanzieren.
Finanzielle Lage der Arbeitsgemeinschaft
Planmäßig entfielen ab dem Jahr 2010 die Einnahmen aus Umlagen der Gesellschafter. Da
die Dienstleistungen der Arbeitsgemeinschaft nicht in dem geplanten Umfang nachgefragt
wurden, blieben die Erträge hinter der Ertragsplanung zurück. Dies riss Liquiditätslücken.
Der nicht durch Eigenkapital der Arbeitsgemeinschaft gedeckte Fehlbetrag belief sich am
Ende des Geschäftsjahres 2010 auf 1,1 Mio. Euro. Ende des Jahres 2011 erhöhte sich der
Fehlbetrag auf 4,3 Mio. Euro. Er reduzierte sich bis Ende 2013 auf 2,9 Mio. Euro.
Die Arbeitsgemeinschaft unterhielt ein Treuhandkonto, auf dem sie Kundengelder verwahrte. Diese stammten aus Rechtsgeschäften der Gesellschafterkrankenkassen. Zwischen
Herbst 2010 und Frühjahr 2011 hob die Arbeitsgemeinschaft 1,6 Mio. Euro Treuhandgelder
ab und führte sie dem laufenden Geschäftsbetrieb zu. So schloss sie Liquiditätslücken. Die
Mittel sind nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft von einer Krankenkasse gestundet
worden. Den Nachweis einer solchen Stundung konnte die Arbeitsgemeinschaft nicht
führen.
Der Aufsichtsrat der Arbeitsgemeinschaft erfuhr Mitte 2011 von dem Zugriff auf die
Treuhandgelder. Anfang August 2011 wechselte die Arbeitsgemeinschaft die Geschäfts-
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führung. Den Gesellschafterkrankenkassen versicherte der Aufsichtsrat, dass das BVA über
die Lage der Arbeitsgemeinschaft informiert sei.
Die neu eingesetzte Geschäftsführung und mit ihr eine Unternehmensberatung wiesen die
Gesellschafter Mitte August 2011 darauf hin, dass die Arbeitsgemeinschaft insolvenzreif sei.
Eine Insolvenz wegen Überschuldung lasse sich nur vermeiden, wenn kurzfristig eine positive Fortführungsprognose für die Arbeitsgemeinschaft abgegeben werden könne. Hierzu
sei es erforderlich, dass die Gesellschafter weitere Mittel zur Verfügung stellten.
Maßnahmen zur Abwendung der Insolvenz
Bis Ende August 2011 unterzeichneten mehr als 50 Gesellschafterkrankenkassen Darlehens- und Verzichtserklärungen über rund 6 Mio. Euro. Ihre Höhe entsprach den Entnahmen vom Treuhandkonto sowie dem weiteren Bedarf der Arbeitsgemeinschaft zur
Finanzierung ihres Geschäftsbetriebes. Das BVA wies die Arbeitsgemeinschaft darauf hin,
dass die Darlehen von den Aufsichtsbehörden zu genehmigen seien. Bis dahin seien sie
schwebend unwirksam. Gleichwohl entnahm die Arbeitsgemeinschaft auf der Grundlage
dieser Darlehensverträge weitere 4 Mio. Euro vom Treuhandkonto. Sie verwendete dieses
Geld für den laufenden Geschäftsbetrieb.
Ende August 2011 legte die Arbeitsgemeinschaft dem BVA ein Gutachten einer Unternehmensberatung vor. Diese kam zu dem Ergebnis, eine Insolvenzreife der Arbeitsgemeinschaft würde nur durch die kapitalstützenden Maßnahmen überwunden. Das BVA
erachtete dieses Gutachten als nicht ausreichend. Es genehmigte deshalb die Darlehen
nicht. Eine Genehmigung gebe es nur gegen Vorlage einer positiven Fortführungsprognose
und eines Sanierungskonzeptes. Ein Insolvenzverfahren beantragte die Arbeitsgemeinschaft nicht.
Ende Februar 2012 legte die Arbeitsgemeinschaft dem BVA nach dessen wiederholten
Mahnungen schließlich ein Sanierungskonzept vor. Dabei handelte es sich im Wesentlichen
um das vom BVA als nicht ausreichend erachtete Gutachten vom August 2011. Es war mit
einem Begleitschreiben versehen, in dem der Stand der Sanierungsmaßnahmen dargestellt
wurde. Das BVA beurteilte die Sanierungschancen nach wie vor kritisch. In einem internen
Vermerk vom März 2012 kam es zu dem Ergebnis, dass die konzeptionellen Überlegungen
der Arbeitsgemeinschaft zu ihrer Sanierung für eine Genehmigung der Darlehen nicht
ausreichten. Gleichwohl genehmigte es Anfang Mai 2012 die Darlehenszusagen der
Krankenkassen, die seiner Aufsicht oblagen.
56.2
Der Bundesrechnungshof hat sowohl die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft als
auch die Aufsicht des BVA über die Arbeitsgemeinschaft beanstandet.
Er hat beanstandet, dass die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft auf 1,6 Mio. Euro
treuhänderisch zu verwaltende Kundengelder zurückgriff, um den Geschäftsbetrieb zu
finanzieren. Auch eine Stundung durch eine einzelne Krankenkasse hätte einen solchen
Zugriff nicht erlaubt. Denn eine Stundung gewährt lediglich einen Zahlungsaufschub. Sie
erlaubt es nicht, treuhänderisch zu verwaltende Mittel für den laufenden Geschäftsbetrieb zu
verwenden. Gleiches gilt für die Entnahme weiterer 4 Mio. Euro von dem Treuhandkonto im
August 2012. Die hierfür zur Rechtfertigung herangezogenen Darlehensverträge waren
schwebend unwirksam, weil sie vom BVA bis dahin nicht genehmigt worden waren.
Der Bundesrechnungshof hat weiter beanstandet, dass das BVA
• hingenommen hat, dass die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft auf 5,6 Mio. Euro
treuhänderisch verwaltete Kundengelder zugegriffen hat.
• die Arbeitsgemeinschaft nicht hinreichend beaufsichtigt hat; das BVA hätte im September 2011 die Darlehen auf der Grundlage der Fortführungsprognose vom August
2011 genehmigen oder auf einen Insolvenzantrag hinwirken müssen.
• die Darlehen der Krankenkassen im Mai 2012 genehmigt hat, ohne dass ein – über die
Fortführungspro-gnose vom August 2011 hinausgehendes – Sanierungskonzept vorlag.
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56.3
Das BMG hat darauf hingewiesen, dass es nicht auf die aufsichtsrechtliche Entscheidung des
BVA im Einzelfall einwirken könne. Das BVA sei nur an Weisungen allgemeinen Inhalts des
BMG gebunden. Das BVA hat dargelegt, es habe aufsichtsrechtlich keine andere Möglichkeit
gehabt, als sich an die der Aufsicht unterliegenden So-zialversicherungsträger zu richten.
Die finanzielle Situation der Arbeitsgemeinschaft habe sich bis zum Jahr 2014 nachhaltig
verbessert. Ihre bilanzielle Überschuldung habe zum Ende des Jahres 2014 auf unter
0,8 Mio. Euro reduziert werden können. Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hätte im
Jahresabschluss für das Jahr 2010 die Fortführungsprognose vom August 2011 aufgegriffen. Dabei habe sie den Fortbestand der Arbeitsgemeinschaft nicht als gefährdet angesehen, sofern die kapitalstützenden Maßnahmen umgesetzt würden.
Das BVA hat eingeräumt, auch nach Vorlage des Sanierungskonzepts Risiken für eine
erfolgreiche Sanierung der Arbeitsgemeinschaft gesehen zu haben. Es habe deshalb die
Genehmigung der Darlehen unter der Auflage erteilt, dass die Arbeitsgemeinschaft sie
regelmäßig über ihre wirtschaftliche Entwicklung informiere.
Zur Entnahme von 1,6 Mio. Euro vom Treuhandkonto durch die Geschäftsführung im Jahr
2010 habe das BVA den Sachverhalt noch nicht aufgeklärt. Die Entnahme von 4 Mio. Euro
Kundengeldern vom Treuhandkonto vor der Darlehensgenehmigung hält das BVA für unproblematisch. Die betroffenen Gesellschafter hätten dem zugestimmt. Anderenfalls wäre
die Insolvenz der Arbeitsgemeinschaft unausweichlich gewesen. Die Verantwortung für die
Arbeitsgemeinschaft trügen zudem in erster Linie die Gesellschafter. Deshalb habe für die
Aufsicht kein Anlass bestanden, einzugreifen.
Das BVA gab weiter an, es habe die Darlehensgewährung zunächst „unter Vorbehalt aufsichtsrechtlich toleriert“, um die Zahlungsfähigkeit der Arbeitsgemeinschaft zu erhalten.
Denn es habe das Sanierungskonzept noch nicht geprüft gehabt. Bedenken hätten dann im
Genehmigungsverfahren geprüft werden können. Die Sanierung sei gegenüber einer Insolvenz das mildere Mittel und deshalb vorrangig gewesen. Da auch die Gesellschafter die
Arbeitsgemeinschaft fortführen wollten, habe das BVA keinen zwingenden Grund gesehen,
die Gesellschaft zu liquidieren.
Das BVA habe zwischenzeitlich Ende Mai 2015 den Aufsichtsratsvorsitzenden der GmbH
aufgefordert, den Sachverhalt abschließend aufzuklären, sich dabei ergebende Ansprüche
durchzusetzen und weitere notwendige Maßnahmen zu ergreifen.
56.4
Der Bundesrechnungshof bleibt bei seiner Auffassung, dass das BVA die Arbeitsgemeinschaft nicht hinreichend beaufsichtigt hat. Es hätte die Rechtsverstöße der Arbeitsgemeinschaft beanstanden und beratend auf die Arbeitsgemeinschaft einwirken müssen. Es
hätte im vorliegenden Fall auch die Gesellschafter-Krankenkassen beraten und gegebenenfalls verpflichten müssen, darauf hinzuwirken, dass die Arbeitsgemeinschaft die
Rechtsverstöße selbst behebt.
Das BVA hätte auch nicht hinnehmen dürfen, dass die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft Mittel vom Treuhandkonto entnimmt, bevor es selbst die Darlehen genehmigt
hat. Denn die Genehmigungspflicht von Darlehen hat den Zweck, das Vermögen der
Krankenkassen vor unsachgemäßen Verfügungen zu schützen. Diesen Vermögensschutz
gefährdet die Rechtsaufsicht, wenn sie die Auszahlung der Darlehen duldet, bevor sie die
Rechtmäßigkeit der Darlehen geprüft hat. Die Nachteile für das Vermögen der Krankenkassen könnten bereits eingetreten sein, wenn die Aufsicht über die Genehmigung entscheidet. Das BVA trägt insofern eine eigene Verantwortung, die es nicht auf die Gesellschafter abwälzen kann.
Die Ausführungen des BVA, es habe die Darlehensgewährung „aufsichtsrechtlich toleriert“,
überzeugen den Bundesrechnungshof nicht. Durch die fehlende Genehmigung der Darlehen
durch das BVA war die Arbeitsgemeinschaft nach eigener Einschätzung überschuldet. Sie
hätte dann – wie es die Insolvenzordnung vorschreibt – einen Antrag auf Eröffnung eines
Insolvenzverfahrens stellen müssen. Dem BVA oblag es, die Verantwortlichen der Ar-
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beitsgemeinschaft dazu anzuhalten. Es kann sich als Aufsichtsbehörde auch nicht darauf
zurückziehen, im Interesse der Gesellschafter gehandelt zu haben, die die Arbeitsgemeinschaft fortführen wollten. Das BVA verkennt zudem, dass die Arbeitsgemeinschaft
nicht vor der Wahl „Sanierung oder Insolvenz“ stand. Denn ein Insolvenzverfahren wirkt
auch auf eine Sanierung des Unternehmens hin, wenn dies möglich erscheint.
Für das aufsichtsrechtliche Verhalten des BVA kommt es schließlich nicht darauf an, dass
sich die wirtschaftliche Lage der Arbeitsgemeinschaft inzwischen verbessert hat. Dies
rechtfertigt das Fehlverhalten der Beteiligten in der für die Arbeitsgemeinschaft existentiellen Phase nicht im Nachhinein. Das BVA hätte die Durchsetzung des Rechts, das dem
Schutz des Vermögens von Krankenkassen und der Gläubiger dient, im entscheidenden
Zeitraum überwachen und konsequent einfordern müssen.
Der Bundesrechnungshof erwartet, dass das BVA darauf hinwirkt, dass die Arbeitsgemeinschaft die noch offenen Sachverhaltsfragen aufklärt, rechtlich bewertet und sich daraus ergebende Ansprüche durchsetzt. Die bisher ergriffenen Maßnahmen haben bislang
noch nicht zu wirksamen Ergebnissen geführt. Der Bundesrechnungshof hält es außerdem
für erforderlich, dass das BMG das BVA anhält, seine Aufsicht künftig ordnungsgemäß
auszuüben.