03.Theorien über die Ursachen von Kriminalität – AKTUELL

Einführung in das Strafrecht
Theorien über die Ursachen von Kriminalität
Prof. Dr. Felix Herzog
Begriff und Gegenstand der Kriminologie
Kriminologie = Wissenschaft zum Verstehen von
Kriminalität
ƒ darf nicht mit Kriminalistik (z.B. Aufklärung
von Straftaten, Spurenkunde) verwechselt
werden!
ƒ normative Wissenschaften: Strafrecht,
Philosophie
ƒ empirische Wissenschaften: Soziologie,
Pädagogik, Psychologie und Psychiatrie
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Einführung in das Strafrecht
Begriff und Gegenstand der Kriminologie
Kriminologie als Clearing-Zentrale
- sammelt, dokumentiert und integriert
Befunde unterschiedlicher fachspezifischer
Herkunft
- verknüpft interdisziplinär die multidisziplinär
erlangten Befunde
- verarbeitet metadisziplinär die Befunde
zu eigenständigen theoretischen Modelannahmen
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Einführung in das Strafrecht
Begriff und Gegenstand der Kriminologie
Gegenstand der Kriminologie: das Verbrechen
-legalistischer
Verbrechensbegriff:
Straftat
als
Verhalten, welches gegen eine strafrechtliche Bestimmung
verstößt
-natürlicher
Verbrechensbegriff:
Verbrechen
als
Verhalten,
welches
grundlegende
moralische
Empfindungen des Mitleids verletzt und darum nahezu
überall mit Strafe bedroht ist
-soziologischer Verbrechensbegriff: Verbrechen als
sozial gefährliches oder abweichendes Verhalten;
abgestellt wird auf die mutmaßliche Sozialschädlichkeit des
Verhaltens
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Einführung in das Strafrecht
Begriff und Gegenstand der Kriminologie
Schwerpunkte kriminologischer Forschung
• Verbrechen
• Verbrecher
• Verbrechenskontrolle
• Opfer (Viktimologie)
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Einführung in das Strafrecht
Geschichte der Kriminologie
ƒ wird verbunden mit dem Mailänder Juristen
Cesare Beccaria (1738-1794)
ƒ Anfänge einer theoretisch begründeten und
kriminalpolitisch verstandenen Kriminologie
ƒ Kritik gegen die unmenschliche, ungerechte
und unvernünftige Praxis der Polizei und der
Strafjustiz
ƒ Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe
und Folter, Einführung strafprozessualer
Prinzipien
ƒ Folge: erste Justizreformen
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Einführung in das Strafrecht
Geschichte der Kriminologie
ƒ wird verbunden mit dem Turiner Arzt Cesare
Lombroso (1835-1909)
ƒ Studien an Soldaten und Strafgefangenen
ƒ Nachweis von Kriminalität als biologischen
Defekt bzw. Fehlentwicklung i.S. der
menschlichen Evolution
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Einführung in das Strafrecht
Geschichte der Kriminologie
Lombrosos
„Verbrechertypen“
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Einführung in das Strafrecht
Geschichte der Kriminologie
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Einführung in das Strafrecht
Geschichte der Kriminologie
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Einführung in das Strafrecht
Defekte beim Täter als Kriminalitätsursachen
ƒ Hauptprobleme biologischer Kriminalitätstheorien
ƒ erhebliche methodische Mängel
ƒ Beziehung zwischen individueller Anlage –
Umwelt und Gesellschaft theoretisch ungeklärt
ƒ auch alle anderen Verhaltensweisen und
Professionen
von
Menschen
müssten
biologisch erklärt werden können
ƒ Missbrauchsgefahr
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Einführung in das Strafrecht
Defekte beim Täter als Kriminalitätsursachen
häufig
nur
auf
ƒ Konzentration
Aggressionsdelikte (kleinste Deliktsgruppe)
ƒ sozialer Wandel, insb. der über Jahrhunderte
zu beobachtende Rückgang von Gewalt in der
Gesellschaft kann nicht erklärt werden
ƒ männliches Geschlecht müsste als evolutionäre
Fehlentwicklung angesehen werden (meiste
Kriminalität, insb. Gewaltkriminalität wird von
Männern begangen)
ƒ Die soziale Konstruktion der Kriminalität wird
geleugnet, ebenso das Konzept der Gleichheit
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Einführung in das Strafrecht
Defekte beim Täter als Kriminalitätsursachen
ƒ Individualisierende Kriminalitätstheorien
ƒ Lerntheorien
ƒ Kriminalität als erlerntes Verhalten, aber: Von
welchen zusätzlichen Bedingungen hängt Erfolg
und Misserfolg des Lernens ab?
ƒ Klassische Konditionierung: Erlernen von
Reiz-Reaktions-Mustern (z.B. Hundeexperiment
von Pawlow)
ƒ Operante Konditionierung (Skinner): Lernen
am Erfolg
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Einführung in das Strafrecht
Defekte beim Täter als Kriminalitätsursachen
ƒ Kontroll- und Halttheorien: Warum begehen
Menschen keine Straftaten?
ƒ Halttheorie (Reckless): Sozial konformes Verhalten
durch Einbindung in intakte familiäre Beziehungen:
„Immunisierung“ gegen „kriminelle Versuchungen“
durch inneren Halt
ƒ Bindungstheorie (Hirschi): Soziale Einbindung als
interne Selbstkontrolle eines Menschen, konkreter:
• attachment to others
• belief in the moral validity of rules
• involvement in conventional activities
• commitment to achievement
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Einführung in das Strafrecht
Defekte beim Täter als Kriminalitätsursachen
ƒ Mehrfaktorenansätze
ƒ Verzicht auf eine theoretische Konzeption
über
Einflüsse
der
ƒ Untersuchungen
Familie:„Schlechtes (Kriminalität) kann nur
von Schlechtem kommen“: Erstellung von
Prognosetafeln
ƒ Untersuchung
enormer
Mengen
(angenommener negativer) psycho-sozialer
Einzelmerkmale von Straftätern
ƒ statische und konservative Gesellschaftsvorstellungen
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Anomie: Zustand von mangelnder sozialer
Ordnung und Integration und dadurch
hervorgerufener Regel- und Normlosigkeit
ƒ Anomietheorie (Durkheim): Durch die hohe
Geschwindigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen
werden die sozialen Beziehungen zwischen den
Gesellschaftsmitgliedern geschwächt, anomische
Zustände treten auf, da die Gesellschaft nicht
mehr mäßigend auf seine Mitglieder einwirken
kann.
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
Anomie beschreibt eine
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
gesamtgesellschaftliche Situation, in welche
herrschende Normen ins Wanken geraten
bestehende Werte und Orientierung an
Verbindlichkeit verlieren
die Gruppenmoral eine starke Erschütterung
erfährt
die soziale Kontrolle beeinträchtigt wird
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Erst wenn die sozialen Regeln keine
Beachtung mehr finden, „werden menschliche
Triebe übermächtig und laufen in Zustände
der Anomie“. Daraus entsteht ein Zustand
des Ungleichgewichts in der Beziehung
zwischen Gesellschaft und dem Einzelnen
ƒ Folge: andauerndes soziales Unbehagen,
Angst und Unzufriedenheit und dann:
Kriminalität
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Anomietheorie (Merton)
ƒ Verfeinerung des Begriffs der Anomie, indem
er die Regeln näher beschreibt, deren Fehlen
zu Anomie führen:
ƒ Kulturelle Ziele/Werte als Wünsche und
Erwartungen der Menschen einer Gesellschaft
(Bildung, Wohlstand, Statuskonsumgüter)
ƒ Normen, welche die Mittel vorschreiben, die
die Menschen zur Realisierung dieser Ziele
anwenden dürfen (Fleiß, Intelligenz)
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ fünf Varianten der Reaktion auf den
Anomiedruck:
ƒ Konformität (Erfolg mit legalen Mitteln)
ƒ Innovation (Einsatz illegitimer Mittel)
ƒ Ritualismus (Senkung des Anspruchsniveaus)
ƒ Rückzug (Ausstieg aus der Gesellschaft)
ƒ Rebellion (Umdefinition von Zielen und Normen)
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Ökologische Ansätze/Theorie der sozialen
Desorganisation
ƒ lokale Gegebenheiten bestimmen die sozialen
Bedingungen
für
die
Entstehung
von
Kriminalität und deren Ausprägung. Gebiete mit
hoher sozialer Desintegration weisen ein
höheres Maß an Delinquenzbelastung auf.
ƒ Shaw/McKay: Zonentheorie
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ wichtiges Anwendungsgebiet: Bedingungen für
Stadtsanierung. Keine Luxussanierung; durch
städtebauliche Maßnahmen Vermeidung von
Ghetto-Effekten und Anhäufung von sozialen
Problemen
auf
engstem
Raum,
sog.
delinquency areas
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Subkulturtheorien
ƒ Subkultur als kollektive Antwort auf die
ungleiche Verteilung von gesellschaftlichen
Gütern und die Unzufriedenheit mit der
Statuswelt der Mittelschicht: Entstehung von
Teil-, Gegen- oder Subkulturen, in denen
andere Normen und Werte gelten; diese
richten sich ausdrücklich gegen allg.
herrschende (Cohen) oder sind eigene,
gewachsene
Normen
(Theorie
der
Unterschichtkultur)
ƒ
wichtigstes Anwendungsgebiet: Insassen in
Haftanstalten, Straßengangs, aber auch
Wirtschafts- und organisierte Kriminalität
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
Kristallisationspunkte der Unterschichtkultur
positiv bewertet negativ bewertet
Schwierigkeiten
Härte
Wendigkeit
Aufregung
Autonomie
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Konflikt mit
Kontrollinstanzen
Tapferkeit,
Männlichkeit,
Mut
Cleverness,
Schlagfertigkeit
Konformität
Schüchternheit,
Weiblichkeit,
Schwäche
Gutgläubigkeit,
Langsamkeit,
Spannung,Risiko, Sicherheit,
Gefahr, Aktivität Passivität,
Langeweile
Unabhängigkeit
Vorhandense
in von Zwang
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Theorie der Neutralisierungstechniken
ƒ am Beispiel von Jugenddelinquenz entwickelt
Rechtfertigungsund
ƒ entdeckte
Neutralisierungsmechanismen
bei
jugendlichen Straftätern, dadurch: Wirkung
der Normen wird neutralisiert, das eigene
Selbstbild bleibt erhalten
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Einführung in das Strafrecht
Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Neutralisierungstechniken
ƒ Ablehnung von Verantwortung
ƒ Leugnen des Unrechts
ƒ Ablehnung des Opfers
ƒ Verdammung der Verdammenden (Vorwurf
gegen die Anklagenden)
ƒ Berufung auf höhere Instanzen
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Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Theorie des Kulturkonflikts (Sellin)
ƒ Kernthese:
Kriminelles
Verhalten
von
Einwanderern/Angehörigen
kultureller
Minderheiten sind auf Konflikte aufgrund
unterschiedlicher
Wertvorstellungen
der
aufeinander
treffenden
Kulturkreise
zurückzuführen
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Soziologische Kriminalitätstheorien
ƒ Marxistische Ansätze
ƒ Tradition marxistischer Gesellschaftskritik
ƒ Kriminalität als eine spezifische Form der
kapitalistischen
Vergesellschaftung:
Ungleichverteilung
sozialer
und
ökonomischer Ressourcen und Nichtbesitz
von
Produktions-mitteln
führt
zu
Anpassungsproblemen
und
Widerstandsdelinquenz
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Einführung in das Strafrecht
Labeling approach
ƒ Kriminalitätstheorien sehen Kriminalität als
etwas real Existierendes
ƒ Labeling approach (Etikettierungsansatz):
Verlagerung der Perspektive von der
Kriminalität auf Prozesse der Kriminalisierung
ƒ Handlungen sind wertneutral
ƒ fragt nach den Gründen und den Bedingungen
für Zuschreibungsprozesse
ƒ bietet Impulse für die Dunkelfeld- und die
Instanzenforschung
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Labeling approach
ƒ Der Etikettierungsansatz geht auf den sog.
symbolischen Interaktionismus zurück
ƒ soziale Konstruktion von Wirklichkeit: Die
den Menschen umgebende Wirklichkeit ist
grundsätzlich eine durch Bedeutungen und
Symbole vermittelte
ƒ Diese Bedeutungen sind soziale Festlegungen
ƒ Bei unterschiedlicher Wahrnehmungen und
Interessen müssen solche Bedeutungen
ausgehandelt werden
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Labeling approach
ƒ Kernthese: Kriminalität gibt es nicht per se; sie
entsteht erst durch die Deutung und negative
Bewertung als kriminell durch informelle und
formelle Instanzen
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Einführung in das Strafrecht
Labeling approach
ƒ Labeling approach differenziert zwischen
ƒ Norm:
ƒ Situation:
ƒ Person:
ƒ Selbstbild:
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Auswahl und Schaffung der
Strafgesetze (Normgenese)
Definition der Situation
Definition der Person
Konstruktion einer (kriminellen)
Identität als Folge der Fremddefinition
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Einführung in das Strafrecht
Labeling approach
ƒ Selbstbild:
ƒ Konstruktion einer (kriminellen) Identität als
Folge der Fremddefinition
1. Zuschreibung
von Straftaten
3. Gefahr der
Bildung bzw.
Verfestigung
einer kriminellen
Karriere
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2. Selbstbild des
Kriminellen (z.B.
Dieb,
Psychopath,
Kinderschänder)
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Vielen Dank
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