Einleitung

Einleitung
Science Fiction und Informatik – Flirt und Mésalliance
Stefan Iglhaut
Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! – Das gehörte zum
Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des Schiffbrüchigen gleicht, der ans Land gestiegen ist und mit beiden Füßen sich auf die alte feste Erde stellt – staunend, dass sie nicht
schwankt. (...) Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als
eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!1
Seit der Renaissance haben Technik und Wissenschaft den westlichen Gesellschaften und ihren Menschen die Tür zur Zukunft und zu utopischen Entwürfen geöffnet. Die damit in Gang gesetzte Fortschrittsdynamik ist mittlerweile
allerdings ambivalent und, vor allem was gesellschaftliche Utopien anbetrifft,
von Ängsten oder Zweifeln überlagert worden. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt ist keine Utopie mehr, sondern erwartete und wirtschaftlich
erforderliche Notwendigkeit. Das hat das Verhältnis der Menschen zur Zukunft
gerade im Aufbruch zur Informations- oder Wissensgesellschaft grundlegend
verändert.
Mit dem Ende des Fortschrittsglaubens scheinen Visionen, vor allem positive, endgültig in Esoterik und Science-Fiction abgedrängt. Das Nachdenken über Zukunft hat damit nicht aufgehört. In einer Zivilisation, in der
man rund um die Uhr mit Wissenschaft konfrontiert wird, stehen die Wissenschaften im Zentrum der positiven wie negativen Vorstellungen von
Zukunft; auch jedwede Warnung, die Glaubwürdigkeit beansprucht, muss
sich als wissenschaftlich ausgeben.2
1)
1
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Erstes Buch, Nr. 46, und Viertes Buch,
Nr. 289, in: Friedrich Nietzsche, Werke II, hg. von Karl Schlechta, München 1969,
S. 69 und 168.
Dies bildet den Ausgangspunkt für die Frage, welche Visionen das Konzept
unserer Informationsgesellschaft geprägt haben und weiter bestimmen. Welche
Rollen spielen die Universalmaschine Computer und das Universalmedium
Internet bei der Konstruktion unserer Zukunft? Wohin entwickeln sich die
Vorstellungen der Welt als Netzwerk, der Optimierung von Körper, Intelligenz
und Wahrnehmung, des Übergangs in virtuelle Realitäten und nicht zuletzt des
Umbaus der Erwerbsgesellschaft?
Wir leben in einer Welt, die zu einem Werk des Menschen geworden ist.
Wohin wir in dieser Welt auch gehen, der analysierende, der erkennende,
der bauende, der wirtschaftende und der verwaltende Verstand waren
immer schon da. »Natürliche« Welten existieren nur noch am Rande dieser
Welt, und sie werden immer weniger und immer schwächer. (...) Es ist eine
Welt, in der sich der Mensch in seinen eigenen Werken begegnet und in der
er ein Teil seines eigenen Werkes wird.3
Computer wurden zu Recht häufig als Universalmaschine bezeichnet, die in
allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen zum Einsatz kommt – ebenso ist die
Informatik als Universalwissenschaft mit fachübergreifenden Fragestellungen
zu sehen, mit zahlreichen Überschneidungen zu anderen Disziplinen sowohl in
der Kulturwissenschaft (Linguistik, Philosophie, Kognitionswissenschaft) als
auch in den Naturwissenschaften. Forschungsbereiche wie Künstliche Intelligenz und Robotik, Bioinformatik oder Neuroinformatik zielen insbesondere
auch auf Analogien und Schnittstellen zu lebenden Systemen ab. In Deutschland wird Informatik seit den 1960er Jahren als Studienfach angeboten, mit
Teildisziplinen von der Automatentheorie bis zur Komplexitätstheorie, von der
Erforschung formaler Sprachen bis zur Mikroprozessortechnik und Rechnerarchitektur.
Die zunehmende Beschäftigung mit der Wissenschaft resultiert aus dem
exponentiellen technologischen Fortschritt, den wir durchleben. Viele Menschen fragen sich: Wie komme ich damit zurecht? Aber sie verstehen diesen
Fortschritt nicht wirklich (...). Das erzeugt Ängste. Und Ängste schaffen
eine wunderbare Ausgangssituation für Wissenschaftsthriller, die uns die
Welt erklären und einen Teil unserer Ängste kathartisch auflösen. Solche
Thriller funktionieren in sich sehr logisch, sie sind im Grunde nichts anderes als die nervenzerrende Variante der »Sendung mit der Maus«.4
2)
3)
2
Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen, Heft 10 »Zwischen Kassandra und
Prometheus. Wissenschaft im Umgang mit Utopien und Dystopien«, Herbst 2002, S. 5.
Jürgen Mittelstraß, Das Maß des Fortschritts. Mensch und Wissenschaft in der LeonardoWelt, Karl Rahner Akademie, Köln 2003, S. 6.
Stefan Iglhaut
Als das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2006 in
Deutschland ein Informatikjahr ausrief, war absehbar, dass damit zahlreiche
Disziplinen rund um die Informationsverarbeitung angesprochen wurden.
Das Fach Informatik, das international meist als Computer Science rangiert,
hat in der Regel eine technisch-mathematische Ausrichtung. Anlass genug, um
eine Initiative für ein Projekt zu starten, welches die Blickrichtung umkehrt
und nach den kulturellen Wurzeln und kulturellen Perspektiven des informatischen Denkens unserer Tage fragt.
Es gibt die Forderung nach einem hippokratischen Eid für Computerforscher, der lauten soll: Das Wesentliche im Universum ist nicht das organische Leben, sondern die Information. Das ist zwar menschenfeindlich, aber
im Grunde richtig gedacht. Information heißt Zukunft, Tradierung. Das
Organische vergeht sowieso. Wenn sich herausstellt, dass der Mensch dem
Computer als Träger der Information unterlegen ist, dann muss die Aufgabe des Computerspezialisten sein, die Macht den Computern zu übertragen, dem höheren Wesen. Der Humanismus, an dem wir uns festhalten, ist
so gesehen der letzte Mythos.5
Die Konzentration auf den technisch-wissenschaftlichen Komplex Informatik
wirft die Frage auf, welche kulturellen Modelle, welche kollektiven Phantasien
den Umgang mit Informationsverarbeitung und Computertechnik beschreiben. Oft scheint es, als seien Errungenschaften des Computerzeitalters speziell
in der Science-Fiction schon vorausgedacht worden und als würden Formen
der Populärkultur die Erfindungen der technischen Zivilisation kulturell deuten, gesellschaftlich vorausdenken und kognitiv vorbereiten. Science-Fiction
kann gerade in Bezug auf die moderne, von Wissenschaft und Technik stark
geprägte Lebenswelt als Reservoir von Denk- und Handlungsmodellen gesehen werden, die sich im Einflussbereich von Computern bzw. von Informatik
befinden und Aufmerksamkeit oder Interessen auf bestimmte Themen richten,
die erst am Horizont der Möglichkeiten auszumachen sind.
Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt (...), ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch
die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die
Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Teil
davon (...). Aber seid ihr nicht auch in eurem entschleiertsten Zustande
noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den
4)
5)
Frank Schätzing, »Ich bin ein Unterhaltungsfaktor!«, Gespräch mit Usch Kiausch, in:
Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke (Hg.), Das Science Fiction Jahr 2005, München
2005, S. 438.
Heiner Müller, in: Freitag Nr. 20, 12. 5. 1995, S. 11.
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Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich? (...)
Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt!6
»Science-Fiction existiert nicht im Futurum, sondern im Konditional«,
brachte es der Literaturwissenschaftler und Science-Fiction-Forscher Darko
Suvin auf den Punkt.7 Der Naturwissenschaftler und Science-Fiction-Autor
Herbert W. Franke stellt den Modellcharakter der Science-Fiction in den Vordergrund: »Die Frage ›Was wäre wenn ...‹ ist für Science-Fiction entscheidend«, er sieht die Science-Fiction in der Tradition des Modelldenkens, »im
Sinne eines Konstrukts, eines in sich logischen Systems, eines Gedankenexperiments.«8 Ob die Nutzung neuer Technologien visionär aufgefächert, ob
künftige Gesellschaften und ihr Menschenbild umrissen werden – Science-Fiction trägt als das erfolgreichste literarische Genre überhaupt wesentlich zur
Verbreitung von Denkmodellen bei, die auf Naturwissenschaft und Technik
basieren.
In der Art und Weise, wie man in Politik und Wirtschaft gegenwärtig über
»Innovation« redet, schwingt ein geradezu metaphysischer Unterton mit:
der Glaube, dass es mit dem Fortschritt ewig weitergehen könne. Nun
gehört es ja zum Wesen der Metaphysik, dass man sie nicht definitiv widerlegen kann.9
Science-Fiction ist eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.
Sie schafft nachvollziehbare und auch ansteckende Bilder für das, was erst nur
denkmöglich oder auch noch ungedacht ist, bettet wissenschaftliche und technische in simulierte oder fingierte Lebenswelten ein, betreibt also gewissermaßen eine Art phantastische Technikfolgeabschätzung und schafft intellektuelle
Anschlüsse für Forschungs- und Technikentwicklungen. Auch wenn ScienceFiction wohl kaum, ebenso wie Kunst insgesamt, tatsächlich neues Wissen und
neue Techniken erschaffen kann, so ist sie doch mehr als nur Unterhaltung,
selbst wenn sie nur bereits bekannte Trends als gedachte Welten kombiniert.
Nur so, und nicht rein wissenschaftlich oder technisch, kann auch eine
begründete gesellschaftliche und politische Diskussion über Technik und Wissenschaft, in deren Kern die Informatik steckt, geführt werden. »Science-Fic6)
7)
8)
9)
4
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, Nr. 57, in: Friedrich
Nietzsche, Werke II, hg. von Karl Schlechta, München 1969, S. 77.
Zit. nach Dieter Hasselblatt, Radio im Konditional. Über Science Fiction und Hörspiel, in:
Wolfgang Jeschke (Hg.), Das Science Fiction Jahr 1994, München 1994, S. 579–634.
ebd.
Gerhard Schulze, Steigerung und Ankunft. Über die Endlichkeit des Fortschritts, in:
Heinrich von Pierer und Bolko von Oetinger (Hg.): Wie kommt das Neue in die Welt?,
München/Wien 1997, S. 277.
Stefan Iglhaut
tion hat den großen Vorteil,« so der Naturwissenschaftler und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller, »dass sie wissenschaftlich-technische
Sachverhalte diskutierbar macht.«10
Wenn der Wissenschaftler sich an den Staat wendet, ist es für ihn das Beste,
Versprechungen zu machen, Hoffnungen zu erwecken, auf Aussichten hinzuweisen. Jeder Umbruch erfordert wissenschaftliche und technische
Expertise, und das ist der Grund, weshalb öffentliche Gelder in diesen
Bereich fließen.11
Nicht zuletzt in der Publizistik und in der Wissenschaftskommunikation lassen sich folglich vermehrt Elemente aus der Science-Fiction feststellen: Spektakuläre Entdeckungen, die nicht mehr ausschließlich durch das Peer-ReviewVerfahren der wissenschaftlichen Fachzeitschriften laufen, sondern in den
Feuilletons leserfreundlich aufbereitet werden, sind häufig angereichert mit
Erwartungen an die Zukunft und den entsprechenden Verheißungen. Erfolgsmeldungen und optimistische Prognosen machen neugierig auf Anwendungen
der Grundlagenforschung, schaffen ein positives publizistisches Klima und
lassen Forschungspolitik und Drittmittelgeber aufhorchen. Man muss nicht
bis zu den bekannt gewordenen Fälschungsskandalen der letzten Jahre gehen,
um zu beobachten, dass auch wissenschaftliche Zukunftsmodelle zuweilen an
der Science-Fiction geschult sind: Denkmodelle, die Visionen und Zukunftsversprechen anbieten, bis diese von der Wirklichkeit widerlegt und ins Reich
der Science-Fiction-Literatur zurückgekehrt sind.
Eine wichtige Erkenntnis ist die, dass wir die Trennung zwischen Publizistik, Wissenschaft und Science Fiction nicht mehr klar ziehen können. Nehmen Sie irgendwelche von diesen Science-Fiction Sekundärartikeln, die in
der Frankfurter Allgemeinen oder der Neuen Zürcher Zeitung oder New
York Times erscheinen, wo über mögliche Anwendungen von Erfindungen
aus der Physik, Biochemie, Informatik berichtet wird, die weit über realistische Möglichkeiten hinausgehen, aber ein Szenario erzeugen, das Hoffnung generiert bei Entscheidungsträgern, Finanziers etc. – das ist ganz klar
ein eigenes Genre geworden.12
10)
11)
12)
Thomas Beth und Karlheinz Steinmüller, Naturwissenschaft zwischen Publicity und
Science Fiction. Ein Gespräch mit Stefan Iglhaut und Thomas Spring, in: Stefan Iglhaut
und Thomas Spring (Hg.), Science + Fiction. Zwischen Nanowelt und globaler Kultur,
Bd. 1: Bilder und Texte, Berlin 2003, S. 229–247.
Richard J. Brook, Der Wissenschaftler und der Ingenieur an der Schwelle zum neuen
Jahrhundert, in: Wilhelm Krull (Hg.), Zukunftsstreit, Weilerswist 2000, S. 394 f.
So der Informatiker Thomas Beth (gest. 2005), vgl. Fußnote 10.
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Das anlässlich des Informatikjahrs initiierte Projekt »what if ?« widmete sich
den Hoffnungen, Verheißungen, Ängsten, Utopien und Dystopien, Entwürfen
und Bestandsaufnahmen eines Lebens mit der Informationstechnik und ihrer
außergewöhnlichen Dynamik. Es umfasste eine Sendereihe im Bayerischen
Rundfunk in der Reihe hör!spiel!art.mix mit Themenfeatures, Gesprächen mit
Studiogästen und der Aufführung historischer Science-Fiction-Hörspiele von
Isaac Asimov bis Stanislaw Lem, eine Artikelserie im Online-Magazin Telepolis und einen internationalen Science-Fiction-Wettbewerb, innerhalb dessen
ein Jurypreis (Sascha Dickel) und ein Publikumspreis (Christian von Aster) auf
der Plattform Telepolis vergeben wurden. »Visionen der Informationsgesellschaft« meinen nicht nur populäre Spiegelung der Informatik, sondern stehen
auch als Antrieb hinter ihr. In diesem Sinne habe ich gemeinsam mit Florian
Rötzer, Chefredakteur von Telepolis, und Herbert Kapfer, Leiter der Abteilung
Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk, Science-Fiction als
Genre betrachtet, das die technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften bzw.
offenen Ziele der Informatik aufgreift und zu Visionen der Informations- oder
Wissensgesellschaft verdichtet. Diese Publikation bietet eine Zusammenfassung der beschriebenen Aktivitäten im Informatikjahr und schließt sie gleichzeitig ab. Aus der Fülle der Beiträge, Gespräche und Radiosendungen haben
wir einen Querschnitt zusammengestellt, der das Thema aus zahlreichen
unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und dabei Denkmodelle aus Wissenschaft und Kunst, Science und Fiction aufeinander bezieht oder absichtsvoll verwischt. Allen Autoren und Gesprächspartnern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Für die Förderung des Gesamtprojekts gebührt besonderer Dank
dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Büro der Wissenschaftsjahre beim Projektträger DLR, namentlich Dr. Franka Ostertag und
Dr. Gerd Weiberg für ihr Vertrauen und ihren Einsatz für unsere Idee.
Die Energie wird im ganzen System gleichmäßig verteilt sein, so dass keine
weiteren Veränderungen mehr möglich sind, keine Bewegungen, keine
Arbeit, kein Leben, keine Intelligenz. Das Universum wird zwar weiter
existieren, doch wird es wie eine Statue erstarrt sein. Der Film ist abgelaufen, und wir sehen für alle weiteren Zeiten auf ein ewiges Standbild.13
13)
6
Isaac Asimov, Die Apokalypsen der Menschheit, zit. nach Rüdiger Vaas, Die ferne
Zukunft des Lebens im All. Was bleibt von uns in Millionen von Jahren?, in: Sascha
Mamczak und Wolfgang Jeschke, Das Science Fiction Jahr 2004, München 2004, S. 556.
Stefan Iglhaut