Foto: Simone M. Neumann TITELTHEMA Michael Müller (r.) war das erste Mal Gast im Berliner Handwerk, hier im Gespräch mit Jürgen Wittke, Ulrich Wiegand und Stephan Schwarz (v. l.) Fachkräfte im Fokus Die wirtschaftliche Situation des Berliner Handwerks und aktuelle Themen standen im Mittelpunkt der 139. Vollversammlung der Handwerkskammer Berlin am 22. April 2015. „Als ehemaliger Drucker sind sie fast einer von uns. Sie kennen die Situation und Probleme der Handwerksbetriebe.“ Mit diesen Worten begrüßte Kammerpräsident Stephan Schwarz Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller, der zum ersten Mal Gast der Vollversammlung war. Schwarz sprach über die gute konjunkturelle Lage im Berliner Handwerk: Die Produktionskapazität ist zu fast 80 Prozent ausgelastet, die Auftragsreichweite gestiegen, Auftragseingänge und -bestand bleiben stabil. Dann legte er den Fokus auf das wichtigste Thema, den Fachkräftemangel. „Mit der Imagekampagne spricht das Handwerk deshalb gezielt junge Menschen an. ‚Die Welt war noch nie so unfertig. Pack mit an.‘, lautet das Motto. Es ruft Jugendliche auf, selbst etwas zu bewegen in unserer Gesellschaft und für die Gesellschaft.“ In Berliner Handwerksbetrieben sind derzeit so viele Ausbildungsplätze unbesetzt wie nie zuvor. „Unsere Lehrstel- 6 lenbörse weist 850 freie Stellen auf – in allen Branchen und Berufen“, sagte Schwarz. Politik und Wirtschaft gehen deshalb neue, ungewöhnliche Wege, um fachlichen Nachwuchs zu finden. Das Projekt „Arrivo Berlin“ ist ein solcher Weg. Ins Leben gerufen wurde es von der Handwerkskammer, der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen sowie dem „Der Arbeitsmarkt ist aufnahmefähiger geworden. Rund 40 Prozent der Betriebe geben an, dass sie offene Stellen nicht besetzen können.“ Stephan Schwarz, Präsident der Handwerkskammr Berlin Kunst- und Kulturzentrum „Schlesische27“, um junge geflüchtete Menschen in den handwerklichen Arbeitsmarkt zu integrieren. „Ich bin froh, dass der Senat gerade beschlossen hat, Arrivo auszuweiten. Das Handwerk wird mehr Menschen auf eine Ausbildung vorbereiten.“ Der Senat plant auch, mehr DeutschSprachkurse an Volkshochschulen für Flüchtlinge anzubieten und schrittweise zwölf Bildungsberaterinnen einzusetzen. „Die Politik muss jetzt sicherstellen, dass niemand, der eine Ausbildung macht, abgeschoben wird. Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse müssen zügig erteilt werden, damit Potenzial und Talente nicht vergeudet werden“, so Schwarz. Für Betriebe soll es künftig leichter werden, sich um öffentliche Aufträge zu bewerben, der Bürokratieaufwand wird reduziert. Angesichts des Sanierungsstaus beispielsweise in Schulen sei das eine gute Entscheidung. wo Berlin-Brandenburgisches Handwerk 5/2015 Politik braucht Mut Ein klares Bekenntnis zu Bauvorhaben, Bürokratieabbau und mehr eigener Ausbildungsleistung des Berliner Senats äußerte der Regierende Bürgermeister Michael Müller bei der Frühjahrs-Vollversammlung. jetzt aber acht neue Mitarbeiter eingestellt worden. Sein Herz schlägt für die Wirtschaft, das ist dem Regierenden Bürgermeister anzumerken. Sein Vater hat eine kleine Druckerei, dort erlernte er selbst den Drucker-Beruf und arbeitete einige Zeit, erzählte er kurz. Deshalb verstehe er, wie problematisch lange Ausschreibungsoder Genehmigungsverfahren gerade für Handwerksbetriebe seien. „Einiges hat sich schon bewegt: Elektronische Vergabe, höhere Wertgrenzen und vereinfachte Verfahren bauen Bürokratie bei der öffentlichen Auftragsvergabe ab. Davon profitieren auch Handwerksbetriebe“, sagte Müller. Verwaltungsvorgänge zu verschlanken bleibe aber auf der Tagesordnung. Als Erfolg nannte er das neue Aktionsprogramm Handwerk: 32 konkrete Maßnahmen für wirtschaftliches Wachstum haben Senat und Berliner Handwerk zu Jahresbeginn vereinbart, sie sollen den mehr als 30 000 Betrieben Wettbewerbsfähigkeit und Aufträge sichern. Senat stockt Investitionen auf Diese Aufträge kommen auch vom Land Berlin, so Müller. Der 2014 erwirtschaftete Überschuss von 1 Mrd. Euro werde zur Hälfte investiert. Die andere Hälfte fließe in den Schuldenabbau. Damit stocke der Senat seine Investitionsvorhaben noch einmal um 500 Mio. Euro auf. Davon gehen beispielsweise 80 Mio. Euro für Bauvorhaben in die Bezirke, weitere 20 Mio. Euro werden für Sanierungs- Michael Müller Foto: Simone M. Neumann maßnahmen in Schulen und modulare Ergänzungsbauten ausgegeben. „Wir müssen um jeden Arbeitsplatz kämpfen in Berlin. Jeder sechste Arbeitnehmer in der Stadt, das sind 185 000 Menschen, arbeiten in einem Handwerksbetrieb. Ich kenne Ihre Sorgen, fachlichen Nachwuchs zu finden. Dabei liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei zehn Prozent, das ist viel zu hoch. Wir haben Aufstiegskarrieren lange Zeit nur an einem Studium gemessen – das ist falsch!“ Es gebe andere Wege, erfolgreich zu sein: berufliche Ausbildung, Qualifizierung, Meister, Quereinsteiger. Ganz wichtig: Brüche gehörten dazu, Menschen sammelten dadurch wertvolle Erfahrungen, sagte er. Auch Selbstkritik übte der Regierende: Berlins Verwaltung selbst müsse mehr ausbilden, es fehle an Personal. Gerade in der Verkehrslenkung sei das deutlich zu spüren gewesen: „Sie mussten oft lange auf Genehmigungen warten.“ Dort seien Er sprach auch die Themen wachsende Stadt und Smart City an: 40 000 Menschen ziehen pro Jahr nach Berlin. „Wir müssen Wohnungen bauen und Gesundheitseinrichtungen, Energieversorgung sichern, Personennahverkehr erweitern, Verkehrswege ausbauen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Hauptstadt schnell weiter wächst. Aber wenn wir das umgekehrt denken: Was wäre, wenn jährlich 40 000 Berliner wegziehen würden? Es wäre eine Katastrophe für die Unternehmen.“ Bei all den Bauvorhaben sei auch das unternehmerische Engagement der Firmen gefragt. Es werde an vielen Orten gleichzeitig Großbaustellen geben, das bringe auch Aufträge ins Handwerk. Gutes für Berlin durchsetzen Noch zwei Dinge sind Michael Müller beim Stichwort Bauprojekte wichtig. Erstens: Der Flughafen BER sei eine Katastrophe. Es bedeute aber nicht, dass alles schief laufe in Berlin. „Wir können uns große Projekte zutrauen.“ Zweitens: Berlin brauche Platz zum Bauen, das bringe Nutzungskonflikte mit sich. „Aber dass gar nicht gebaut wird, weil sich Anwohner oder Initiativen beschweren, das ist inakzeptabel, das geht nicht“, erklärte er. „Gutes Regieren heißt auch, etwas Gutes im gesamtstädtischen Interesse durchsetzen. Es heißt nicht, jedem Widerstand nachgeben.“ wo Kleine Ausschreibungen bündeln und zwei Jahre Bleiberecht Jürgen Wittke, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Berlin, eröffnete die Diskussion mit dem Regierenden Bürgermeister: „Wäre es nicht besser, viele kleine Ausschreibungen zusammenzufassen und zu bündeln?“ Michael Müller verwies auf die Initiative, die Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer gestartet hat. Die Vergabe öffentlicher Aufträge soll weniger Berlin-Brandenburgisches Handwerk 5/2015 bürokratielastig sein, die Vergabekriterien überarbeitet werden. Viele Handwerker hatte die steigende Zahl der Kriterien abgeschreckt, sich um einen öffentlichen Auftrag zu bewerben. Karsten Berlin, Arbeitnehmervizepräsident der Handwerkskammer, bat Müller, sich für mehr Planungssicherheit für Betriebe einzusetzen, die geflüchtete Menschen ausbilden wollen: „Die Betriebe und die Flüchtlinge brauchen eine sichere Perspektive.“ Was er konkret vorschlage, fragte Müller, er nehme Ideen gleich mit in die nächste Senatssitzung. Karsten Berlin: „Ein Bleiberecht für mindestens zwei Jahre nach der Ausbildung ist für beide Seiten sinnvoll.“ 7
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