Die Frau, die Nestwärme vermittelt

GESUNDHEIT
Die Frau, die
NESTWÄRME VERMITTELT
Christine Gäumann engagiert sich für die vergessenen Kinder
von psychisch kranken Eltern. Seit 30 Jahren setzt sie sich dafür ein,
dass diese trotz widriger Umstände geborgen aufwachsen. Nun ist
die Familientherapeutin für den PRIX SANA nominiert.
Text Ginette Wiget
E
s war ein vierjähriger Knirps, der
Christine Gäumann die Augen öffnete. Er verhalf ihr zu einer Erkenntnis, die ihr Leben fortan prägen sollte. Die Therapeutin bei einer Suchtfachstelle
betreute damals, vor 30 Jahren, eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. «Ich
hatte den Eindruck, die Frau komme ganz
gut zurecht», erinnert sie sich. Doch als die
Mutter weinend anrief, weil ihr jüngstes
Kind wiederholt von zu Hause weggelaufen war, wurde Christine Gäumann stutzig. Sie machte sich auf die Suche nach
dem Bub – und fand ihn am Bahnhof. Auf
die Frage, was ihn von zu Hause weggetrieben hatte, antwortete er: «Ich habe keinen Platz zum Schlafen. Mein Bett ist voller Weinflaschen von der Mama.»
Die Worte erschütterten Christine
Gäumann. «Ich hatte nicht gemerkt, wie
die Mutter in der Therapie ihre Probleme
herunterspielte. Und ich hatte zu wenig
gefragt, wie es den Kindern geht.» Für die
Sozialarbeiterin und Familientherapeutin
war das ein Schlüsselerlebnis. Ihr wurde
klar, dass sich niemand für die Kinder von
psychisch und suchtkranken Eltern verantwortlich fühlt. «Wird eine depressive
Mutter in eine Klinik eingewiesen, fragt
oft niemand nach, ob für die Kinder gesorgt ist», sagt Gäumann.
Diesen «vergessenen» Kindern zu helfen, wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Zu-
Fotos Tanja Demarmels
sammen mit dem Winterthurer Kinderarzt und -psychiater Kurt Albermann rief
sie 2010 das Winterthurer Präventionsund Versorgungsprogramm für Kinder
psychisch kranker Eltern (kurz Wikip) ins
PRIX SANA
Die Fondation Sana zeichnet jedes
Jahr Menschen aus, die sich uneigennützig für das Wohl von anderen
einsetzen. Die Fondation ist eine gemeinnützige Stiftung und Mehrheitsaktionärin der Gruppe Helsana
Versicherungen. Am 28. November
um 14 Uhr findet die Preisverleihung
an der Swiss Handicap Messe in
Luzern statt. Sie wird von Nik Hartmann moderiert. Der Gesamtpreis
beträgt 30 000 Franken und wird
dieses Jahr auf drei Nominierte
verteilt:
Christine Gäumann aus Winterthur
ZH für ihr eindrückliches Engagement
für Kinder von psychisch kranken
Eltern.
Theres Lindt aus Ittigen BE, die
zusammen mit ihrem Ehemann
Thomas Mainberger behinderte
Kinder in ihrem Privathaus betreut.
Coralie Baraviera aus Sonceboz BE,
die sich liebevoll um ihren Ehemann
kümmert, der bei einem Unfall
schwer verletzt wurde.
Leben. Es ist ihr Mitverdienst, dass heute
die Frage «Wie geht es den Kindern?» von
Ärzten, Therapeuten oder Sozialarbeitern
häufiger gestellt wird. Und dass es mehr
Angebote gibt, welche die Kinder in ihrer
schwierigen Situation unterstützen.
Es fehlt an Geborgenheit
Aus diesen Gründen hat die «Fondation
Sana» Christine Gäumann für den diesjährigen Prix Sana nominiert (siehe Box).
Für die quirlige 63-Jährige eine Überraschung. «Zuerst konnte ich es nicht glauben. Dann habe ich mich riesig gefreut,
dass mein Thema endlich gelandet ist.»
Ein grosses Thema: Schätzungsweise
40 000 Kinder wachsen in der Schweiz mit
einem psychisch oder suchtkranken Elternteil auf. Werden die Kinder von Müttern und Vätern mitgerechnet, die nicht in
ärztlicher Behandlung sind, erhöht sich
die Zahl um ein Vielfaches. «Der Alltag
dieser Kinder wird von Angst und Unsicherheit statt Geborgenheit und Stabilität bestimmt», sagt Christine Gäumann.
Auch Konflikte, Gewalt und Probleme wie
Scheidungen oder Arbeitslosigkeit kommen in solchen Familien häufiger vor. Oft
müssen diese Kinder viel Verantwortung
in der Familie übernehmen. Sie kaufen
ein, putzen, kümmern sich um jüngere
Geschwister oder hören sich die Nöte des
erkrankten Elternteils an. «Es findet eine ➳
Die Nomination für den Prix Sana freute Christine Gäumann riesig: «Mein Thema ist endlich gelandet.»
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Schweizer Familie 48/2015
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GESUNDHEIT
WENN DICH
DER MAGEN
IN DIE KNIE
ZWINGT
«Weil nicht offen über
die Krankheit geredet
wird, entwickeln die
Kinder Schuldgefühle.»
011015/sto.ch
Christine Gäumann, Familientherapeutin
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Lesen Sie die Packungsbeilage.
Rollenumkehrung statt, die das Kind
überfordert.»
Die psychische Erkrankung der Mutter
oder des Vaters bleibt oft auch innerhalb
der Familie ein Tabu. «Vor allem kleine
Kinder beziehen alles auf sich. Weil nicht
offen über die Krankheit geredet wird,
entwickeln sie Schuldgefühle», sagt Christine Gäumann. «Sie denken, sie seien
schuld, dass es Mami so schlecht geht.»
Das Schweigen führt auch dazu, dass die
Kinder mit ihren Fragen, Sorgen und
Ängsten ganz allein dastehen.
Wie wichtig es ist, dass Kinder verstehen, was um sie herum passiert, weiss
Christine Gäumann aus eigener Erfahrung. Sie wuchs mit einem tuberkulosekranken Vater auf. Ihre Eltern waren zwar
sehr fürsorglich, sprachen aber mit der
Tochter nur wenig über die Erkrankung
und ihre Folgen. Die Frage, ob ihr Vater
bald sterben müsse, wagte sie nie zu stellen. «Die Angst um ihn sass mir wie eine
Kröte im Nacken.»
Angebote für gesundes Aufwachsen
Das Programm Wikip fusst auf vier Säulen: Prävention und Früherkennung; soziale Unterstützung und Beratung für
betroffene Familien; Behandlung von
Kindern, die bereits selbst Symptome zeigen, sowie Kindesschutz. Entstanden ist
das Konzept in Christine Gäumanns Garten. «Die Natur zeigt mir, wie Wachsen
entsteht und was es braucht, damit Pflanzen gedeihen. Diese Erkenntnisse helfen
mir auch für andere Lebensfelder.»
Einen kleinen Teil ihres Einsatzes für
Wikip kann Christine Gäumann in ihrer
Arbeitszeit erledigen, da sie als Leiterin
der Jugendpsychiatrie der Integrierten
Psychiatrie Winterthur Zürcher Unterland auch für Prävention zuständig ist.
Den grössten Teil leistet sie jedoch unbezahlt, am Abend, in den Ferien und an
den Wochenenden.
Dank Wikip wurden im Raum Winterthur neue Angebote geschaffen, wie etwa
die SOS-Familienhilfe, die inzwischen von
der reformierten Kirche des Kantons Zürich umgesetzt wird. Sie bietet in Notsituationen eine Kinderbetreuung auf Abruf an.
Oder das Projekt Umbrella, das vom Verein
Familien- und Jugendhilfe Winterthur getragen wird: Mittels Patenschaften bekommen betroffene Kinder Anschluss an eine
Familie in der Nachbarschaft. «Bezugspersonen ausserhalb der eigenen Familie sind
ein bedeutender Schutzfaktor für ein gesundes Aufwachsen», erklärt Gäumann.
Wikip setzt sich auch dafür ein, dass
involvierte Institutionen wie Kliniken, Behörden und Schulen besser zusammenarbeiten. Und es bietet Weiterbildungen
zum Thema psychische Erkrankungen an,
für alle, die mit Kindern arbeiten.
In der Region Winterthur hat sich die
Situation der «vergessenen Kinder» dank
Christine Gäumann und ihren Mitstreitern stark verbessert. «Schweizweit gibt es
aber leider immer noch grosse Versorgungslücken», sagt Christine Gäumann.
Sie ist momentan daran, eine Informations- und Beratungsplattform auf nationaler Ebene aufzubauen. «Wir wollen
auch Videos anbieten, die Kindern erklären, was mit ihren Eltern los ist.» Um solche Ideen umzusetzen, ist sie einmal mehr
auf Spenden angewiesen. «Für Prävention
gibt die Schweiz weniger Geld aus als die
meisten Industrienationen.» Dabei wäre
die Hilfe gut investiert. «Wird solchen
Kindern rechtzeitig geholfen, sinkt das
Risiko, dass sie als Erwachsene selbst psychisch erkranken – und das Leid an die
●
nächste Generation weitergeben.»
Mehr Informationen
www.iks-ies.ch
Prix Sana
Der Gesundheitspreis
für Menschen mit Engagement
«Der Prix Sana ehrt Menschen,
die sich uneigennützig für das Wohl
ihrer Mitmenschen engagieren.
Helfen Sie uns, diese zu finden! »
Annemarie Huber-Hotz,
Jurymitglied Prix Sana
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Schicken Sie uns Ihre Vorschläge bis am 31. März 2016.
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