978-3-476-02565-4 Bermbach, Houston Stewart

978-3-476-02565-4 Bermbach, Houston Stewart Chamberlain
© 2015 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
Udo Bermbach
Houston Stewart Chamberlain
Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker
Verlag J. B. Metzler
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Leben zwischen den Kulturen –
Frühe Stationen einer Biographie
Houston Stewart Chamberlain war ein bemerkenswerter Mann. Geboren in England, aufgewachsen in Frankreich, übergesiedelt nach Österreich und dann nach
Deutschland, wuchs er in drei westliche Kulturen hinein und war in ihnen gleichermaßen sicher zu Hause. Englisch, Französisch und Deutsch waren seine »Muttersprachen«, die er perfekt und in allen Nuancen beherrschte. Darüber hinaus las
er Latein und Griechisch, auch Hebräisch, sprach Kroatisch, Slowenisch und
konnte, zumindest auf einem leidlichen Niveau, noch einige weitere Sprachen,
wie etwa Italienisch.
Von klein auf interessierte er sich für die Natur, vor allem für Pflanzen. Folgerichtig studierte er Biologie, schrieb eine Dissertation an der Universität Genf über
den ›Wurzeldruck der Pflanzen‹1, verstand sich ein Leben lang primär als Naturwissenschaftler und gewann doch die nationale wie internationale Aufmerksamkeit
als Schriftsteller mit Arbeiten über Richard Wagner, Kulturgeschichte, Philosophie, Literatur und Rassentheorien. Noch bevor er nach Richard Wagners Tod
dessen Schwiegersohn wurde, war er einer der engsten Vertrauten von Cosima
Wagner, der weitaus intelligenteste Kopf des Bayreuther Kreises. Gleichwohl hatte
er mit vielen Mitgliedern und Anhängern dieser Wagner-Anbeter wenig gemein.
Der engstirnigen, nationalistisch-völkischen Ausrichtung vieler dieser Bildungsignoranten stand sein polyglottes Herkommen entgegen, der ausschließlichen Fokussierung auf Wagner und sein Werk entging er mit seinen Büchern über Kant
und Goethe, deren Denken ihm bedeutender als das des ›Meisters‹ erschien, bei
aller Verehrung, die er diesem entgegenbrachte. Tief religiös, verfügte er über
breite theologische Kenntnisse, die selbst Fachtheologen erstaunten. Seine humanistisch grundierte Ausbildung und Bildung spiegelt eine Bibliothek, die etwa
zehntausend Bände zu nahezu allen wichtigen Wissensgebieten umfasst: von einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaften über die Philosophie, Theologie,
Literatur, Geschichte und Politik bis hin zu sprach-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen.
Zweifelsohne war er ein hoch gebildeter Privatgelehrter, zugleich aber auch
eine schillernde und äußerst problematische Figur. Seine starke Wirkung auf große
Teile des wilhelminischen Bildungsbürgertums verdankte er seinen Bemühungen
und seiner Fähigkeit zur synthetischen Schau der Welt, ihrer Erklärung aus einigen
wenigen Prinzipien, die im Umbruch der Werte und Strukturen des ausgehenden
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Beschwörung »des Ganzen«, als Entwurf
einer holistischen Weltsicht sehr nachgefragt war. Wo die Einheit der Welt durch
Pluralisierung und Individualisierung schon längst zerbrochen war, die Sehnsucht
1
HSC, Recherches sur la sève ascendante, Neuchâtel 1897.
12
Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
danach aber umso stärker, gab Chamberlain wissenschaftlich scheinbar gesicherte
Antworten, die eine klare Orientierung versprachen. Er war nicht der Einzige mit
solchen Bemühungen. Auch Autoren wie Ernst Haeckel, Rudolf Steiner oder
Oswald Spengler befriedigten mit ihren je eigenen und unterschiedlichen ›Analysen‹ und ›Erklärungssystemen‹ diesen Hang der Gebildeten nach der Einheit einer
Welt, die schmerzlich vermisst wurde. Dicht vernetzt im konservativen intellektuellen Milieu, das Chamberlain freilich ohne Scheu auch selbstsicher gelegentlich
verließ, konnte er mit einigen seiner Schriften Stimmführer jener Verunsicherten
werden, die im Strudel der Zeiten nach ›rechter‹ Orientierung suchten. Sich selbst
immer wieder als »Dilettant« im Goethe’schen Sinne verstehend und zu den akademischen Spezialisten eher in Distanz stehend, war er andererseits mit manchen
Koryphäen der akademischen Welt verbunden, deren Vertreter ihn – wie beispielsweise Adolf von Harnack – auf ihre Weise außerordentlich schätzten. Befreundet mit Kaiser Wilhelm II. und Teilen des deutschen Hochadels, sah er doch
deren Bildungsdefizite sehr deutlich und hielt sie nur begrenzt für adäquate Gesprächspartner. Und obwohl Anhänger und Propagandist der aufkommenden Rassentheorie und bekennender Antisemit, pflegte er gelegentlich freundlichen, ja
freundschaftlichen Umgang mit Juden und verachtete diejenigen, die die Juden
zum allgemeinen Sündenbock aktueller Missstände und Miseren stempeln wollten.
Von den Nazis, nicht zuletzt von Hitler, zum Vordenker ihrer Bewegung gemacht
und vereinnahmt, widersprachen zentrale Teile seiner grundlegenden Überzeugungen, so etwa sein tief verwurzelter christlicher Glaube, deren Ideologie. Von
Kindheit an war er immer wieder krank, im Laufe der Jahre zunehmend häufiger
und ernster, ab 1914 bis zu seinem Tod schwer leidend an Parkinson, und doch
trotzte er mit einer bewundernswerten Energie und strikter Selbstdisziplin seinem
durch Schmerzen gequälten Leben noch wichtige Bücher ab.
Wie nahezu alle bedeutenden Menschen – und Chamberlain war, aller politischen Unsäglichkeiten zum Trotz, ein in seiner Zeit und für seine Zeit bedeutender Mensch – steckte er voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Neben Positionen seines Denkens, die schon zu seinen Lebzeiten, aber erst recht heute,
inakzeptabel waren, gibt es auch viel Nachdenkenswertes bei ihm, gibt es Schriften, die zu lesen sich auch heute noch lohnt. Er war, daran kann kein Zweifel
bestehen, einer der wirkungsmächtigsten Publizisten der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, ein Bestseller-Autor, mit dem zu beschäftigen sich schon deshalb lohnt,
weil man bei ihm Aufschluss finden kann über Weltanschauungsentwicklungen,
die den Gang der deutschen Geschichte unheilvoll mitbestimmt haben. Er steht für
vieles: für ein bestimmtes, in vielerlei Hinsicht verfälschtes Bild von Wagner, das
dessen Rezeptionsgeschichte entscheidend beeinflusst hat; für den großangelegten
Versuch, die Menschheitsgeschichte mithilfe einiger einfacher Prinzipien zu erklären und daraus zugleich Schlüsse für die Zukunft zu ziehen; für die Hoffnung, dem
Denken der »Großen« – wie Kant und Goethe – Orientierungssicherheit abzugewinnen, in Zeiten, wo neue Entwicklungen auf allen Gebieten des Lebens für
sicher gehaltene Traditionen zu zerstören drohten; auch für den Versuch, mithilfe
Herkunft
13
eines erneuerten Christentums, einer ›zweiten Reformation‹ noch einmal die geistigen Grundlagen des Abendlandes selbst erneuern zu können; und nicht zuletzt
für den Wahn, in Rassentheorien eine letzte anthropologische Begründung für
›den Menschen der Zukunft‹ zu finden, mit der die Juden aus wichtigen Teilen des
europäischen Lebensraums ausgeschlossen, allerdings nicht vernichtet werden sollten. Das alles reagierte auf Probleme, die für viele die Probleme der Jahrhundertwende waren. Diesen bei Chamberlain nachzugehen, verheißt zugleich Aufschluss
auch für bestimmte Entwicklungszüge der deutschen Geschichte.
Herkunft
»Mein Vater war Engländer, meine Mutter Schottin; es liegt also zunächst eine
Mischung der zwei verschiedenen Völker aus Norden und Süden vor. Nur muß
ich gleich hinzufügen, daß, während meine Mutter nachweisbar ganz rein südschottischer, also rein nordgermanischer, einheitlicher Rasse entsprungen ist, der
väterliche Stamm in das normännische und angelsächsische Blut auch keltisches
und anderes aus der nordischen Verwandtschaft hineingebracht hat.«2
Mit diesen Sätzen beginnt Chamberlain in seinen Lebenswegen den Abriss seiner eigenen Biographie. Nicht mit der einfachen Mitteilung seines Geburtstags,
der einfachen Schilderung seiner Familie, sondern mit dem Hinweis auf seine Abstammung nach Stamm und Rasse, wie es seinem Denken seit der Veröffentlichung der Grundlagen des 19. Jahrhunderts entspricht. Die Mutter steht am Anfang
des Berichts, weil bei ihr die »Verhältnisse […] einfacher liegen« – und weil sie
wichtiger ist als der Vater –, was paradoxerweise bei diesem Antisemiten an die
jüdische Definition erinnert, Jude sei, wer eine jüdische Mutter habe. Die Mutter,
heißt es in seinen Erinnerungen, stamme aus schottischem Kleinadel, aus einer
Familie, die einerseits Land bei Edinburgh besaß, das sie bewirtschaftete; die andererseits mit dem Vater der Mutter der englischen Flotte einen Offizier gestellt
habe, der zugleich ein bekannter Forschungsreisender gewesen sei und vielgelesene Bücher über seine Erkundungen im Südpazifik geschrieben habe. Mitglieder
der mütterlichen Familie werden als vitale, abenteuerlustige, aber auch bildungsbeflissene und gastfreundliche Menschen geschildert, die Mutter als »eine echte
Schottin«, »fromm und streng, gewissenhaft bis ins Übertriebene; ihre Interessen
waren auf das Geistige und das Moralische gerichtet«.3 Sie starb, noch bevor Houston Stewart ein Jahr alt war.
2
3
HSC, Lebenswege, S. 11; auch das folgende Zitat hier. Die Darstellung des Lebens von Chamberlain
folgt hauptsächlich seiner Autobiographie und den Erinnerungen seiner ersten Frau Anna – Anna
Chamberlain, Meine Erinnerungen an Houston Stewart Chamberlain. Biographische Hinweise, die
alle auf Chamberlains eigenen Angaben beruhen, finden sich bei Leopold von Schroeder, Houston
Stewart Chamberlain, bei Hugo Meyer, Houston Stewart Chamberlain als völkischer Denker, bei
Geoffrey G. Field, Evangelist of Race und bei Barbara Liedtke, Völkisches Denken.
HSC, Lebenswege, S. 14.
14
Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
Während Chamberlain die Familienlinie der Mutter nur bis in die zweite
Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgt, führt er die Wurzeln der väterlichen Linie bis
in die Zeit Wilhelm des Eroberers (1027–1087) zurück. Es sind »mehrfache
Stämme«4, die sich über die Jahrhunderte vermischen und am Ende in die Familie
der Chamberlains einmünden. Berichtet wird vom Großvater, der zur See fuhr,
später in den britischen Konsulats- und Diplomatendienst eintrat, Generalkonsul
in Südamerika und danach Gesandter am Hofe des Kaisers von Brasilien wurde.
Für seine Verdienste erhielt er den Baronet-Titel. Ein Diplomat, der stets auch
Forschungsreisender war, ein engagierter Botaniker, der die Begonie nach Europa
einführte und im Alter naturwissenschaftliche Vorträge hielt. Der Vater, Sohn aus
der zweiten Ehe des Großvaters, wurde 1818 geboren und avancierte – wie die
fünf Söhne aus zwei Ehen, die alle die militärische Laufbahn einschlugen – zum
hohen Offizier der britischen Marine. Mit zehn Jahren kam er zur Ausbildung auf
ein Kadettenschiff, mit zwölf Jahren fuhr er erstmals zur See, und dann stieg er
stetig über die verschiedenen Rangstufen zum Admiral auf. Auch seine Brüder
machten glänzende Militärkarrieren, in Indien, Afghanistan und anderen britischen
Kolonien, und Sir Neville Chamberlain, der Lieblingsonkel von Houston, wurde
von Königin Victoria sogar zum Feldmarschall und Knight Commander oft the
Bath befördert.5 Da Chamberlain zu seinem Vater ein mehr als distanziertes Verhältnis hatte, schweigt er sich in seinen Lebenswegen über ihn weitgehend aus. Er
habe physisch und geistig wenig von ihm geerbt, bemerkt er, obgleich er vom
Typus »echt englisch-normännisch« gewesen sei, mit »himmelblauen Augen und
kühn gebogener Nase«, aber von sehr beschränkter Bildung, eben »von Kopf bis
Fuß Offizier und in seine Uniform sozusagen hineingewachsen«.6 Ein in der britischen Marine allseits geachteter Militär von hohem Dienstbewusstsein und strenger Selbstdisziplin. Privat allerdings auch mit weicheren Qualitäten versehen, die
der Sohn freilich selten erlebte, weil der Vater überwiegend auf See war und erst
spät feste Anstellungen auf dem englischen Festland erhielt. Als er 1878 starb, war
er seinem Sohn, der die meiste Zeit seiner Jugend in Frankreich verbrachte, schon
seit Jahren fremd geworden.
Ausführlicher als auf den Vater und dessen Vorfahren geht Chamberlain auf
die Familie seiner Mutter ein. »Statur, Gesichtszüge, Charakter und Begabungsart«
habe er von der Familie seiner Mutter geerbt, besonders von seiner Großmutter
mütterlicherseits. »Ich besitze weder die normännische Nase noch die angelsächsischen Augen, ich bin bedeutend größer als die übrigen männlichen Mitglieder
meiner Familie, außerdem leidenschaftlicher veranlagt, und meine Seele ist der
4
5
6
Ebenda, S. 15.
Geoffrey G. Field, Evangelist of Race, S. 19. Der »Knight Commander of the Bath«, auch: The Most
Honourable (Military) Order of the Bath« wurde von Georg I. am 18. Mai 1725 geschaffen. Er ist
einer der höchsten britischen Orden, der auf mittelalterliche Traditionen zurückgeht und dem
Träger bei Hof eine wichtige Stellung einräumt. Ausführlich wikipedia.org/wiki/order of_the
Bath
HSC, Lebenswege, S. 23; hier und S. 24 auch die folgenden Hinweise.
Heimatlosigkeit
15
göttlichen Sprache der Musik als ihrem eigentlichen Elemente weit geöffnet«7,
schreibt er in seiner Autobiographie und meint, das alles seien »Erbstücke aus dem
Stamme der Großmutter«. Diese komme aus »dem nur von Kelten bewohnten«
Wales, »unmittelbar von den alten Häuptlingen oder, wie sie sich zu nennen pflegten, ›Königen‹ der Walliser, jenen kriegerischen Barden, die, auch wenn sie hoch
zu Roß in die Schlacht ritten, die Harfe umschlungen trugen.« Entsprechend
brachte die Familie neben Großgrundbesitzern auch kampferprobte Helden hervor, aber auch erfolgreiche Kaufleute. Einer von ihnen heiratete die Tochter eines
Handelsherren aus Lübeck, was »dänisches« resp. »deutsches Blut«8 in die Familie
brachte – eine versteckte Erklärung für seine spätere Hinwendung zu Deutschland
und deutscher Kultur. Wie wichtig Chamberlain die Darlegung seiner rassischen
Herkunft war, belegt eine kleine Anekdote, die er in diesem Zusammenhang erzählt. 1902 saß er dem Maler Franz von Lenbach für ein Porträt. Dieser fragte ihn
angeblich, ob er wirklich englischer Abstammung sei. Nachdem Chamberlain dies
bejaht hatte, erklärte Lenbach: »Nein, diese Schläfe! Diese Hände! Das Verhältnis
von Oberkopf zum Gesicht! Und vor allem dieser Schnurrbart! – das ist alles skandinavisch! […] Sie haben keinen rein englischen Typus!«
Es ist ein bemerkenswerter Stammbaum, den Chamberlain vorweisen kann,
sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits. Seine Vorfahren gehörten zur Aristokratie, nicht selten zu den führenden Persönlichkeiten Englands, verheiratet und verwandt mit den höchsten Kreisen des Königreichs, oft mit erheblichem Landbesitz
ausgestattet, weit in der Welt herumgekommen und in amerikanischen wie asiatischen Ländern für längere Zeit lebend. Viele übten neben ihrem Beruf intensive
Forschungstätigkeiten aus, publizierten und brachten es darin zu einiger Anerkennung, gelegentlich sogar zu Ruhm. Fast alle waren wohlhabend und konnten sich
einen Lebensstil leisten, wie er in der Aristokratie üblich war.
Heimatlosigkeit
Chamberlain wurde am 9. September 1855 in Southsea bei Portsmouth im Süden
Englands geboren.9 Er war das jüngste von insgesamt vier Kindern: seine Schwester war früh verstorben, seine zwei Brüder, Basil und Henry, waren fünf und drei
Jahre älter als er. Basil, mit dem er sich ein Leben lang eng verbunden fühlte und
einen regen Briefwechsel unterhielt, wurde später, gegen den Willen des Vaters,
kein Militär, sondern aufgrund seiner Neigungen zu Japan und zu dessen Kultur
Professor für Literatur an der Universität Tokio. Henry ging, wie der Vater, zur
Marine und schlug erfolgreich die Offizierslaufbahn ein.
7
8
9
Ebenda, S. 19; hier auch die folgenden Zitate.
Ebenda, S. 21; hier auch das folgende Zitat.
Zum Folgenden vgl. Geoffrey G. Field, Evangelist of Race, S. 20 ff.
16
Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
Der Tod der Mutter und die häufig lange Abwesenheit des Vaters zwangen
dazu, die Kinder zur alten und kränklichen Großmutter zu geben, die des Klimas
wegen in Versailles lebte und dort von ihrer Tochter gepflegt wurde. Diese Tochter, Harriet Mary Chamberlain, nahm sich ihrer kleinen Neffen an. Während jedoch die beiden älteren Brüder nur kurz in Frankreich blieben und dann wieder in
ihre englische Heimat zurückkehrten, lebte Chamberlain vom Mai 1856 bis zum
Mai 1866 dort und kehrte, nach kurzen Unterbrechungen immer wieder dahin
zurück. Und obgleich das Haus seiner Tante britisch geprägt war und man Englisch sprach, empfing er doch die entscheidenden Eindrücke seiner Kindheit durch
die französische Umgebung. Im Haus der Großmutter verkehrten überwiegend
französische Offiziere und Beamte, und die Spielkameraden aus der Schule waren
Franzosen, nicht Engländer. Die Privatlehrer, die ins Haus kamen, waren Franzosen und eingeschult wurde Houston in ein französisches Lycée. Alles, was auf ihn
einströmte, war französisch, auch wenn, wie er berichtet, seine englischen Verwandten von der Überlegenheit Englands und dessen Geschichte, Politik und Kultur tief durchdrungen waren und ihm das eindringlich vor Augen stellten. Der
Einfluss des Französischen war am Ende doch stärker. Französische Sprache und
Kultur wirkten so nachhaltig, dass Chamberlain noch in seinen Erinnerungen davon schrieb, es überkomme ihn auch in seinem späten Leben noch stets ein »anheimelndes Gefühl«, wenn er die französische Sprache höre, deren Klang seine
Sinne und sein Gemüt umschmeichele und die Kinderjahre »beglückend« zurückriefe: »Ihre Schlichtheit und Anspruchslosigkeit, ihre große Intelligenz, ihre Freundestreue macht die Franzosen meinem Herzen teuer«, schreibt er in seinen Lebenswegen, und fährt fort, es falle ihm schwer, »einen ganzen Tag vorüber gehen zu
lassen, ohne ein französisches Buch aufgeschlagen zu haben, so vertraut und altgewohnt wirkt auf mich nicht allein die Sprache, sondern die ganze Art zu denken
und dem Gedanken Ausdruck zu verleihen.«10
Gleichwohl war er zwischen den Kulturen hin- und hergerissen; keiner wirklich intensiv zugehörig, fühlte er sich im Grunde heimatlos. Als Engländer blieb
ihm Frankreich immer auch ein wenig fremd, war ihm, aller Sympathien und
Neigungen zum Trotz, nie wirklich bergendes Zuhause. Andererseits überkam ihn
bei seinen englischen Verwandten, war er dort zu Besuch, »ein solches Gefühl der
Fremdheit und Verlassenheit, daß ich mich noch leidenschaftlicher an das mich
begleitende französische Kindermädchen anschloß und den Tag der Rückkehr
nach Frankreich nicht abwarten konnte.«11 Vieles kommt hier zusammen: Der
frühe Tod der Mutter und die langen Abwesenheiten des Vaters erzeugten bei
dem sensiblen Knaben schon früh das Gefühl des Unbehausten, des Alleinseins und
Im-Stich-gelassen-werdens. Das Aufwachsen bei der Großmutter und Tante in
Frankreich konnte die fehlende elterliche Geborgenheit offensichtlich nicht ersetzen. Und der häufige Besuch bei der englischen Verwandtschaft machte die Kluft
10
11
HSC, Lebenswege, S. 33.
HSC, Lebenswege, S. 35; die folgenden Zitate auf den Seiten 29 und 30.
Heimatlosigkeit
17
Abb. 2: Der junge Chamberlain (ohne Datum)
zwischen Herkunft und aktueller Lebenssituation erst recht deutlich. Die Unsicherheiten, die aus einer solchen Situation zwangsläufig erwachsen mussten, prägten Chamberlain für sein ganzes Leben. Wohl auch aus solchen Gründen war er
schon als Kind gesundheitlich anfällig und häufig krank, reagierte mit erschreckter
Hilflosigkeit auf diese sehr frühen, ihn quälenden Erfahrungen. Er sei, so schrieb er
in seinen Memoiren, »ohne Heimat durchs Leben gegangen«, habe niemals das
Gefühl gehabt, wirklich dazuzugehören, sei sich vielmehr stets bewusst gewesen,
in der Fremde zu leben. Darin bezieht er ausdrücklich seine Jahre in Deutschland
mit ein, die den größten Teil seines Lebens ausmachen, mit großen Erfolgen als
Schriftsteller und wirksamem publizistischem Einfluss.
Es ist auffallend, wie ausführlich Chamberlain in seinen Lebenswegen auf diese
Erfahrung der Heimatlosigkeit eingeht, wie er das Thema wieder und wieder umkreist und als lebensbestimmend empfindet. Er habe, so schreibt er, immer wieder
Menschen mit ähnlichem Schicksal kennengelernt, Deutsche, Engländer, Amerikaner, Russen usw., aber sie alle seien irgendwann einmal ihrer Nation wirklich
zugehörig gewesen und hätten sich später dann »der neuen Umgebung vollkommen angepaßt und angegliedert.« Ganz im Gegensatz zu ihm, der nie wirklich
Engländer gewesen sei, auch nicht Franzose oder Deutscher, der es nie vermocht
habe, »in den verschiedenen Ländern, wohin mich das Schicksal verschlug, […] die
18
Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
nicht angeborene Art als eigene anzunehmen.« Ernst Bloch spricht in solchem
Zusammenhang einmal davon, in der Welt entstehe etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«12 In England, so Chamberlain, sei er von der eigenen Familie zwar stets herzlich aufgenommen, aber doch
als distinguished foreigner bezeichnet worden, da er ihnen »in Sprache, Geschmack,
Gewohnheiten sowie durch Bildungsgang, Geistesrichtung, Weltanschauung ferner stand als z. B. Tausenden von Deutschen, die sich in England niedergelassen«
hatten und nur Schein-Engländer geworden waren. In Deutschland, der Schweiz
oder Österreich habe er sich zwar wohlgefühlt, frei atmen, aber Heimat auch hier
nicht finden können, zumal man ihm »auf tausend Schritte« den Engländer angesehen habe. »So habe ich denn schon sehr jung begonnen«, heißt es in den Lebenswegen, »mir eine eigene Welt zu schaffen, eine eigene Heimat, mich mit Künstlern,
Denkern, Dichtern, Forschern, Träumern, Erfindern, Helden, Heiligen zu umgeben, dazu auch mit sinnlich vorhandener, greifbarer Liebe – alles aber um mich
herum abgeschlossen, abgerundet, unzugänglich […]. Hieraus nun, aus dieser Ausgeschiedenheit und Abgeschiedenheit, entstand eine ganz eigene Inbrunst, geboren aus anhaltendem, meist unbewußtem Versunkensein, und eine gewisse Höhe
und Reinheit der Anschauung, weil nichts Mittelmäßiges – oder jedenfalls sehr
wenig derartiges – trübend an sie heranreichte.«13
Nimmt man diese Aussagen der Selbsteinschätzung ernst und sieht sie nicht als
stilisierende Pointierung eines sich selbst im Elitären einrichtenden Menschen, so
zeichnen sie Eckpunkte eines Psychogramms, das manche der späteren Verhaltensweisen Chamberlains mit erklären kann. So etwa die lebenslange Suche nach festen Bindungen, zunächst in der frühen ersten Ehe mit Anna Horst, nach deren
Zerbrechen in der zweiten Ehe mit Eva Wagner; so sein Streben nach Bayreuth,
mitten ins Zentrum des Wagner-Kultes und in gefestigte Strukturen der Kommunikation; so die persönliche Freundschaft mit Cosima Wagner, die Auszeichnung
und Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich anerkannten Institution bedeutete; so
die intellektuelle Führung des Bayreuther Kreises, die Chamberlain zum Sprachrohr
einer mächtigen kulturmissionarischen Bewegung machte; so auch die immer wieder neu einsetzende Suche nach Teilhabe an jenem intellektuellen Diskurs des
etablierten Konservatismus, der Deutschlands Schicksal im Kaiserreich einflussreich bestimmte; so das bestimmende Mitwirken und ›agenda setting‹ durch äußerst erfolgreiche Publikationen oder auch durch gezielte Teilnahme an ästhetisch-gesellschaftlichen Debatten, wie sie privat, und zugleich mit öffentlicher
Wirkung, etwa im Salon Bruckmann folgenreich geführt wurden.14
Das Leben und die Schule in Frankreich wurden 1866 unterbrochen: Im
zwölften Lebensjahr wechselte der junge Chamberlain auf Wunsch seines Vaters
auf eine kleine englische Privatschule, über die er mit Schrecken und Abscheu in
12
13
14
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt/M. 1967, S. 1628.
HSC, Lebenswege, S. 31.
Dazu Wolfgang Martynkewicz, Salon Deutschland.
Heimatlosigkeit
19
Abb. 3: Chamberlain (links), wie der Vater
ihn wünschte; mit seinen Brüdern Basil und
Henry (ohne Datum)
seinen Erinnerungen berichtet: »Elende Unterkunft und Kost, die unfähigen, lieblosen, stockschwingenden Lehrkräfte, die entsetzlich rohen Buben, welche – grausam und feig – kein größeres Vergnügen kannten, als mich – den kleinsten und
fremdesten – zu quälen.«15 Es war eines jener Internate, in denen ansonsten gescheiterte Existenzen als Lehrer ihre Frustrationen an hilflosen Schülern ausließen
und diese ihrerseits für die erlittenen Demütigungen Revanche übten in sadistischem Verhalten den schwächsten und hilflosesten Mitschülern gegenüber. Solche
Drillanstalten erzeugen lebenslange Traumata und psychische Deformationen bei
denen, die den erbarmungslosen Kommandos widerstandslos ausgesetzt waren.
Chamberlain erlebte all das ein dreiviertel Jahr lang, das er hier verbringen musste,
als »Hölle«, die vielen kleinen Quälereien des Schulalltags zermürbten ihn und
machten ihn krank. Erst im Herbst 1867 entkam er durch den Wechsel auf eines
der großen englischen Colleges, das Cheltenham College, dieser geistigen wie
körperlichen Marter. Cheltenham war ein vornehmes College, 1841 in alten gotischen Gebäuden gegründet und nahe der Stadt Cheltenham in Gloucestire, westlich von Oxford, gelegen. Eine bedeutende Internatsschule von humanistisch15
HSC, Lebenswege, S. 38; die folgenden Zitate auf den Seiten 38; 52; 53; 39 ff.; 40; 42.
20
Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
christlicher Ausrichtung, mit Akzent auf umfassender Allgemeinbildung und
dementsprechend der Vermittlung von Latein, Altgriechisch, Geschichte, Literatur
usw. Das College wurde von anglikanischen Geistlichen betrieben, die auch unterrichteten, es war ein wohlgeordneter Betrieb, in dem eine menschenfreundliche
Atmosphäre herrschte. Hier fühlte Chamberlain sich vergleichsweise wohl, aber
auch hier zog er sich eher zurück und blieb ein introvertierter Einzelgänger. An
einen Mitschüler, so berichtet er, schloss er sich freundschaftlich an, die restlichen
Schüler mied er weitgehend. Bei seinen literarischen Studien entdeckte er erstmals
Shakespeare, eine »Offenbarung«, dessen Werke er ein Leben lang immer und
immer wieder las. In der kurzen Zeit, die er in Cheltenham verbrachte, entschwand er in die Welt der Literatur, in seine eigene Phantasie, aus der ihn erst im
Februar 1870 eine schwere Erkrankung herausriss. Diese führte er auf das ihm
»unerträgliche Klima Englands« zurück, die Ärzte erkannten – fälschlicherweise –
auf Beeinträchtigung der Atmungsorgane, auf asthmaähnliche Anfälle, doch vermutlich war das Nervensystem betroffen, verursacht einerseits durch die miserablen Erfahrungen der ersten englischen Schule, aber auch durch die unsteten
Lebensumstände, die zu häufigen Ortswechseln führten. Die Mediziner empfahlen
eine Kur in Bad Ems, die ein lebensentscheidendes Erlebnis bringen sollte.
Dass Chamberlain innerhalb weniger Jahre nicht nur dreimal die Schule wechselte, auch vom französischen ins englische Erziehungssystem, verhinderte eine
solide, sich kontinuierlich aufbauende Grundlegung von Wissen und Bildung,
auch wenn der junge Chamberlain in allen Schulen gute bis sehr gute Leistungen
erbrachte. Für Letzteres mag der Unterricht von Tante Harriet Mary Chamberlain
Abb. 4: Chamberlain um 1870
Konversionserlebnisse in Bad Ems
21
entscheidend beigetragen haben, die dem noch nicht schulpflichtigen, aber lerneifrigen Jungen beizeiten Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und ihn mit der
Bibel vertraut gemacht hatte, ihm Literatur nahezubringen suchte und zugleich
seine Liebe zur Natur bestärkte. Ihre »Sanftmut gepaart mit Unerbittlichkeit« gab
dem kränkelnden, unsicheren, sich nach Heimat sehnenden Knaben ein liebevollstrenges Gerüst, in dem er sich sicher bewegen konnte, und so preist er sie denn
auch in seinen Lebenswegen als eine das Gute bewirkende Mischung aus Vernunft
und Liebe, durch die er eigene Untugenden wie Jähzorn bezwungen habe. »War
ich als Kind krank, so gab es für mich ein souveränes Beschwichtigungsmittel: die
Hand der Tante, ruhte diese auf mir, ich konnte jede Beklemmung, jeden Schmerz
ertragen; mehr als einmal stand ich unter diesem Schutze, wie von Engelsfittichen
umgeben, in vollem Frieden vor den Toren des Todes.« Über Jahre nahm diese
Tante die Stelle der Mutter ein, und die Bindung zwischen beiden wurde so eng,
dass Chamberlain bis zu seinem zwanzigsten Jahr fast stets mit ihr zusammen blieb,
sie bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr häufig besuchte und danach, bis zu ihrem
Tode, in ständigem Briefverkehr mit ihr stand. Durch sie und ihre Fürsorge erfuhr
er Zuwendung und warme Emotionen, sie gab ihm bis zu einem gewissen Grad
jenen Halt, den er sich so sehr wünschte, den die Lebensumstände ihm aber verweigerten.
Konversionserlebnisse in Bad Ems
Die Ärzte hatten zur Erholung auf dem Kontinent geraten und so reiste Chamberlain mit seiner Tante im Juni 1870 nach Bad Ems. Die kleine Stadt war bereits im
17. und 18. Jahrhundert ein bekannter Badeort, stieg im 19. Jahrhundert dann zu
einem der berühmtesten Bäder Europas auf. Ursprünglich gehörte Ems zum Herzogtum Nassau, 1866 kam es zu Preußen. Dieser Herrschaftswechsel bewirkte einen Entwicklungsschub: Die Spitzen der deutschen und europäischen Gesellschaft,
vor allem Mitglieder der Aristokratie, fanden sich nun regelmäßig ein, in- und
ausländische Prominenz flanierte auf der Promenade, regierende Monarchen wie
der König von Preußen und der russische Zar hatten hier einen festen Sommersitz
und gelegentlich kamen Künstler wie Richard Wagner oder auch Dostojewski für
einige Zeit an die Lahn. Der Ort war ein Treffpunkt der internationalen High
Society, buntes Treiben herrschte vor, denn natürlich zogen die Stützen der Gesellschaft – so der Titel eines bekannten Bildes von Georg Grosz – auch allerlei dubioses Volk an, das verdienen wollte, nicht immer auf redliche Art.
Hierher also kam Chamberlain, um sich gesundheitlich zu erholen. Es war sein
erster Besuch in Deutschland, und der führte ihn direkt an einen Platz, wo die
deutsche Gesellschaft einen ihrer glänzenden Auftrittsorte unterhielt. In einem
kleinen Essay hat er im Nachhinein das Kurleben des Ortes aus der Erinnerung
beschrieben: »Frühmorgens 6 Uhr ertönte von der Kurmusik der übliche Choral;
bis gegen 9 Uhr ging es am Brunnen lebhaft zu; dann leerte sich die Promenade
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Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
zwischen Kurhaus und Kasino, um sich erst nachmittags zur Kaffeezeit von neuem
auf zwei Stunden zu beleben; abends aber erreichte der Verkehr seinen Höhepunkt, denn da strömte alles zusammen, Patienten und Lebewelt; in dem promenadenartigen Kurgarten war nicht bloß häufig kein Stuhl übrig, sondern kaum
mehr Platz zum Stehen und Gehen, und beim Kasino wogte die Menge ununterbrochen aus und ein.«16
Zur selben Zeit, da Chamberlain in Bad Ems weilte, hielt sich auch der preußische König Wilhelm, der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I., dort auf, und
dessen Person machte auf den vierzehnjährigen Engländer einen nachhaltigen Eindruck: »Er war so vollendet schlicht, […] so bestrickend freundlich und so heilig
ernst«, schreibt er im Rückblick, »das Ideal eines Monarchen.« Und er schildert,
wie der König den ganz normalen Tagesablauf eines Kurgastes absolviert: morgens
am Brunnen, nachmittags auf der Promenade, abends abseits im Kasino sitzend.
Während des Tages zumeist in Zivil und nur von zwei Herren begleitet, abends in
Uniform und dann in größerer Gesellschaft. Ein stets zurückhaltender Mann, ein
»Badegast unter Badegästen«, von »vollendeter Einfachheit«. Diesem ihm sympathischen Verhalten des preußischen Königs stellt Chamberlain den Eindruck von
Stärke und Kraft preußischer Soldaten beiseite: ein Infanterieregiment, das vor
dem König paradiert, preußische Elitetruppen rufen bei ihm »den Eindruck nie
geahnter Kraft« und »jugendlicher Schönheit« hervor und werden zu einem »erschütternden, unvergeßlichen Eindruck«. Später bewunderte er auf einer Reise
über Mainz, Frankfurt und Heidelberg dort die Ulanenlager auf freiem Feld und
die donnernden Kanonen bei Straßburg.
Aber auch die übrigen deutschen Gäste, das gesamte deutsche Umfeld innerhalb der internationalen Kur- und Badegesellschaft beeindrucken ihn nachhaltig.
In den Lebenswegen schreibt er, er habe hier als junger Mann »nicht ein philisterhaftes Deutschland, auch nicht ein Deutschland von Handlungsreisenden und Fabrikdirektoren, nicht einmal ein Deutschland von Phantasten und Professoren, am allerwenigsten ein Deutschland von schwatzseligen Parlamentariern und schwachen
Ministern erlebt, sondern ein heroisches Deutschland, […] angeführt von unsterblichen Helden.«17 Da Letzteres nicht konkretisiert wird, bleibt es dem Leser überlassen, zu rätseln, auf welche Personen sich dieses Urteil beziehen mag.
Zweierlei fällt an solchen Beschreibungen auf: Zum einen stilisiert Chamberlain im Nachhinein seinen Aufenthalt in Bad Ems zu einem entscheidenden Konversionspunkt seines Lebens, das bisher durch England, mehr noch durch Frankreich und die dortigen Erfahrungen bestimmt gewesen war. Nunmehr geht ihm in
Deutschland gleichsam eine neue Welt auf, die ihn ganz und gar für sich einnimmt
und die vorwiegend durch Preußen – und das, was Chamberlain für preußisch hält
– geprägt wird. Zum anderen skizziert er hier die Deutschen als Menschen der
Bescheidenheit, der geregelten Ordnung, vor allem aber der Stärke. Man braucht
16
17
HSC, Deutsches Wesen, S. 15; die folgenden Zitate auf den Seiten 16; 17; 15.
HSC, Lebenswege, S. 54.
Der deutsche Lehrer
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kein Psychoanalytiker zu sein, um zu verstehen, dass in solchen Stilisierungen eigene Defizite, Wünsche und Sehnsüchte auf andere, auf Fremde projiziert werden:
Der körperlich eher zarte und schwache, stets krankheitsanfällige junge Mann sieht
in Bad Ems in den Deutschen die Repräsentanten des Gesunden und Starken, und
dies macht einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn. Die Deutschen, die er auf
seinen immer wieder unternommenen kleinen Touren durch die kleine Stadt und
an deren wichtigsten Treffpunkte beobachten kann, erscheinen ihm als Gegenbilder zur eigenen maladen körperlichen Befindlichkeit, und je elender es ihm gesundheitlich geht, je mehr stilisiert er sie zu einem Hoffnungsbild. Bereits hier ist in
nuce ein entscheidendes Motiv seiner Hinwendung zu Deutschland zu erkennen,
das bis in die Spätschriften, am deutlichsten in den Kriegsschriften der Jahre 1914 bis
1918, erkennbar bleibt: die Bewunderung für ein gesundes, heroisches, starkes und
gut organisiertes Deutschland. Ein Motiv, das allerdings sehr bald schon kulturalistisch überformt wird, d. h. das hinter die Bewunderung für die deutsche Kultur
zurücktritt.
Bad Ems steht aber noch für ein besonderes Erlebnis: Chamberlain beobachtete am 13. Juli zufällig, wie der preußische König sich am späten Vormittag im
Kurgarten mit dem französischen Botschafter Graf Benedetti trifft, wie hohe preußische Beamte dem Monarchen Schriftstücke überreichen, wie dieser seinerseits
Anordnungen gibt – Beobachtungen, die sich der junge Mann zunächst nicht
recht erklären kann. Erst Tage später wird ihm klar, auch durch Aufklärung von
Erwachsenen, dass all dies unmittelbar mit dem kurz danach ausbrechenden
deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zusammenhing und er, wie ein Verwandter ihm sagte, »Zeuge des weltgeschichtlichen Ereignisses gewesen [sei], aus
welchem dieser große Krieg hervorging.«18 Unversehens hatte Chamberlain diplomatische Aktivitäten mitverfolgt, die am Ende zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs führen sollten.19
Der deutsche Lehrer
Nach den Wochen in Bad Ems gab es bald ein weiteres Konversionserlebnis, das die
Hinwendung Chamberlains zum Deutschtum entscheidend beförderte und zugleich stabilisierte. In Montreux hatten seine Tante Harriet und sein Onkel Neville
für den Winter 1870 eine Wohnung gemietet, in der Hoffnung, der kränkelnde
Neffe werde sich durch die frische Luft am Genfer See erholen. Man suchte einen
Privatlehrer und fand durch Zufall einen jungen deutschen Theologen, der bereit
war, ab Mai 1871 Chamberlain zu unterrichten, zunächst in der deutschen Sprache,
später dann in allen grundlegenden Fächern. Zwischen ihm und seinem Schüler
ergab sich bald eine lebenslange Freundschaft, deren Beginn eine der entscheiden18
19
HSC, Deutsches Wesen, S. 22.
HSC, Lebenswege, S. 53 f.; Deutsches Wesen, S. 18 ff.
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Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
den Bildungsstationen für das spätere Leben Chamberlains wurde.20 Zwei Jahre
unterrichtete Otto Kuntze, so hieß dieser Deutsche, seinen Schüler, dann wollte
der Vater, dass sein Sohn nach England zurückkommt, um sich auf einer landwirtschaftlichen Schule auf ein Leben als Farmer in Kanada vorzubereiten – ein
Versuch, der jämmerlich scheiterte. Chamberlain erkrankte erneut, kehrte auf den
Kontinent zurück, nunmehr ausgestattet mit einer kleinen Jahresrente, die ihn
finanziell unabhängig stellte. Otto Kuntze hatte mittlerweile in San Remo eine
Pastorenstelle angenommen, und Chamberlain reiste ihm nach. »Kuntze erteilte
mir als Freund Unterricht in den Mußestunden«, schreibt er in seinen Erinnerungen und fügt hinzu, er sei diesen Lehren »in den Jahren des empfänglichsten Alters«
mit größtem Eifer gefolgt. Der Unterricht erfolgte mal konventionell im Zimmer,
mal bei Spaziergängen am Meer oder auf Wanderungen durch die Berge. Zu den
Erfahrungen mit englischer und französischer Ausbildung und Kultur kamen nun
neue hinzu: »Zu dem Sinn für klare Formgebung, welche die französische Schule
züchtet, und zu dem Mut der Unabhängigkeit, den man auf englischen Schulen
gewinnt, kam jetzt die deutsche wissenschaftliche Methodik und bereicherte die
Fähigkeit, mich selbständig weiter auszubilden.« Insgesamt drei Jahre hat Kuntze
dem bildungswilligen jungen Mann neben Latein, Philosophie, Mathematik und
Biologie die deutsche Sprache, die Grundlagen der deutschen Geschichte und
Kultur vermittelt, ihn eingeführt in das kulturelle Selbstverständnis gebildeter
Deutscher, vor allem aber ihm »das Lernen gelernt«.
Aber Kuntze war nicht nur Wissensvermittler, sondern auch ein Lehrer mit
jenen Eigenschaften, die Chamberlain in seinen späteren Schriften immer wieder
den Deutschen – und dann den Germanen – als typisch zugeschrieben hat: »ein
echt preußischer Mann: herb, kurz angebunden und dermaßen besorgt, ein Wort
aus seinem Munde könnte als Schmeichelei aufgefaßt werden, daß er sich zu Äußerungen der Anerkennung und der Ermutigung selten bereit fand; dabei ein
wirklich grundguter, bei der Erfüllung seiner Pflichten zu jeder Aufopferung bereiter Mensch. Was mich besonders an ihm anzog, war die Zartheit des Gemütes,
die auf seinem blassen Antlitz sich widerspiegelte, verbunden mit einer Keuschheit
des Denkens und Empfindens, die jedem Weibe zur Ehre gereicht hätte. Seine
Interessen waren ausschließlich geistiger Art und reichten nach allen Seiten, soweit
die gründliche Bildung eines evangelischen Theologen Tore geöffnet hatte.«
Kuntze verdanke er es, so Chamberlain, »daß für mich das Deutschtum von Anfang an eine geistige Macht war: was ich erblickte, was mein Denken umgab und
mein Herz erfüllte, das waren deutsche Freunde, deutsche Helden, deutsche Dichter in Worten und in Tönen, deutsche Forscher, deutsche Erfinder und Bahnbrecher.«
Zugleich aber war aller Unterricht in seinem »verworrenen Erziehungsgang«,
der in England und Frankreich wie der des Hauslehrers Kuntze, nur ein kurzer,
20
Zum Folgenden HSC, Lebenswege, S. 54 ff.; die folgenden Zitate auf den Seiten 55; 55; 56; 56; 61;
61; 59.
Der deutsche Lehrer
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zeitbegrenzter Einblick in die jeweiligen Bildungs- und Erziehungspläne dieser
Länder; eine systematische oder gar vollständige Schulausbildung hat Chamberlain
nie genossen, ein formeller Schulabschluss blieb ihm versagt. Von Jugend an hat er,
und dies war eine der prägenden Erfahrungen für sein gesamtes Leben, sich wesentlich selbst um den Erwerb seiner Kenntnisse kümmern und aus eigener Einsicht und durch eigene Disziplin sich das aneignen müssen, was er für seine späteren Arbeiten brauchte. Eine in den entscheidenden Bildungsjahren so tiefgehende
und dann tiefsitzende Erfahrung macht auch verständlich, weshalb Chamberlain
sich später stets bewusst in Gegensatz zu den Fachwissenschaftlern setzte, zu deren
Themen er publizierte, warum er für sich auf dem Status des Dilettanten beharrte,
der allein seiner Meinung nach den über die Fachwissenschaften hinausreichenden
Blick auf die Gesamtheit des Lebens hat. Nur jemand, der wie er eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, durch sie aber nicht zum engstirnigen FachWissenschaftler geworden war, konnte, so glaubte er fest, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu übergreifenden Zusammenhängen synthetisieren und sie
damit für ›das Leben‹ fruchtbar machen.
Kuntzes Vermittlung der deutschen Sprache, seine Hinführung Chamberlains
zur deutschen Literatur und Kultur war für diesen so beeindruckend, dass er mehr
und mehr den Wunsch entwickelte, sich in Deutschland niederzulassen. In seinen
Lebenswegen zitiert er mehrere Briefe an seine englische Tante, in denen er mit
wachsendem Nachdruck diesen Wunsch immer wieder vorbringt. Da heißt es im
Juni 1875, er habe drei große Lebenswünsche: »Der erste, in Europa bleiben zu
dürfen und nicht in die Kolonien auswandern zu müssen, der zweite England fern
zu bleiben, der dritte, mich in Deutschland niederzulassen.« Letzteres wird damit
begründet, dass er sich von jenen Deutschen, denen er im Ausland begegnete,
immer verstanden gefühlt habe, »ein Gefühl, das ich noch niemals bei einem Engländer gehabt habe«. Seinem Lehrer Kuntze gegenüber äußerte er: »Ich wollte
gerne meine linke Hand entbehren, wenn ich als Deutscher geboren wäre.«21 Und
mit 21 Jahren schreibt er an einen holländischen Freund einen Brief, der hier vollständig wiedergegeben werden soll, weil er ein frühes Dokument einer übersteigerten Konversionsvorstellung ist, die manche späteren, problematischen Positionen und Einstellungen miterklärt:
»Ich kann Dir gar nicht sagen, wie meine Verehrung, meine leidenschaftliche
Liebe für, mein Glaube an Deutschland zunimmt. Je mehr ich andere Nationen
kennenlerne, je mehr ich mit Leuten – gebildeten und ungebildeten – aller Klassen
aus allen Völkern Europas verkehre, desto mehr liebe ich die Deutschen. Mein
Glaube, dass die ganze Zukunft Europas – d. h. der Zivilisation der Welt – Deutschland in den Händen liegt, ist zur Sicherheit geworden. Das Leben der Deutschen
ist ein ganz anderes als das von anderen Menschen; in ihm hat das Selbstbewußtsein, das Gefühl seiner Würde den Höhepunkt erreicht; er ist zu gleicher Zeit der
21
Überliefert von Leopold von Schroeder ohne konkreten Nachweis; vgl. derselbe, Houston Stewart
Chamberlain, S. 52, Anm. 2.
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Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie
Dichter und praktische Organisator, der Denker und Tuer, der Mann des Friedens
par excellence und der beste Soldat, der Zweifler und der einzige, der imstande ist,
wirklich zu glauben. Aber wie immer, je größer die Gaben, desto größer die Aufgabe. Deutschlands Aufgabe ist eine kolossal schwierige, und wenn es sie erfüllen
soll, so muß die ganze Nation sie begreifen und alle zusammen wie ein Mann nach
ihrer Erfüllung streben. Nicht bloß hat sie an sich selbst noch so viel zu tun, so viel
zu entwickeln, sondern während dies fortgeht, muß sie sich allein gegen die Feindseligkeit und die Verkennung ganz Europas aufrechterhalten. Wenn man nicht
selbst sich mitten im Strom befindet, sondern von ferne aus den Lauf der Dinge
beobachten kann, so muß man sich oft fragen: Wird Deutschland seine Aufgabe
erfüllen können? Wird es sie erfüllen? Und wenn man auch von ganzem Herzen
unbefangen das Land liebt und keine Wolken darüber hängen sehen möchte, so ist
man gezwungen, sich selbst zuzugestehen: nein! wenn die gründlich verrotteten
moralischen Verhältnisse sich nicht bessern (und stillbleiben tun sie nicht, wenn sie
nicht besser werden, werden sie schlimmer), wenn die ganze Nation nicht einsieht, daß Reinheit die größte Kraft eines Volkes ist, daß, wenn die Zukunft Europas von Deutschland abhängt, Deutschland nur dann eine Zukunft haben kann,
wenn man den jetzigen Zustand von Grund aus angreift und gegen die ganze übrige Welt die Moralität als Hauptwaffe erhebt, – wenn Deutschland das nicht
einsieht, dann muß es auch bald fallen – fallen, ohne seine Aufgabe vollendet zu
haben, eine Beute der Barbaren.«22
In pathetischer Überhöhung wird hier eine ›Aufgabe‹ Deutschlands beschworen, von der nur andeutungsweise gesagt wird, worin sie eigentlich besteht. Man
darf allerdings vermuten, dass Chamberlain, wie er es selbst formuliert hat,
Deutschland als ›geistige Macht‹ meint, dass er glaubt, die deutsche Kultur und
Wissenschaft habe für die restliche Welt Vorbildcharakter, woraus dem Land eine
besondere Verantwortung erwachse, so, wie er das auch später in seinen kulturgeschichtlichen Schriften immer wieder betont hat. Chamberlain kannte dieses von
ihm so verehrte Deutschland nur aus Literatur, Philosophie und Kultur, eben so,
wie Kuntze es ihm vermittelt hatte. Nicht von politischer Hegemonie also war
hier die Rede, doch konnten solche politischen Konnotationen mit diesem Text
verbunden werden. Genau dies aber zeigt, was später noch deutlicher werden
wird: Die Politik lässt sich quasi zwischen die Zeilen hineinlesen, die kulturalistische Substanz und Stoßrichtung des Chamberlain’schen Denkens leicht in eine
politische umbiegen. Zwar faszinierten den jungen Chamberlain vorwiegend die
geistigen und kulturellen Leistungen Deutschlands, aber sie waren – wie die Emser
Episode zeigt – auf irgendeine Art und ihm selbst noch unbewusst auch mit dem
Politischen und Militärischen verbunden.
22
HSC, Lebenswege, S. 59.