978-3-476-02565-4 Bermbach, Houston Stewart Chamberlain © 2015 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de) Udo Bermbach Houston Stewart Chamberlain Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02565-4 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2015 J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg-images / Blanc Kunstverlag) Satz: typopoint GbR, Ostfildern Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie Houston Stewart Chamberlain war ein bemerkenswerter Mann. Geboren in England, aufgewachsen in Frankreich, übergesiedelt nach Österreich und dann nach Deutschland, wuchs er in drei westliche Kulturen hinein und war in ihnen gleichermaßen sicher zu Hause. Englisch, Französisch und Deutsch waren seine »Muttersprachen«, die er perfekt und in allen Nuancen beherrschte. Darüber hinaus las er Latein und Griechisch, auch Hebräisch, sprach Kroatisch, Slowenisch und konnte, zumindest auf einem leidlichen Niveau, noch einige weitere Sprachen, wie etwa Italienisch. Von klein auf interessierte er sich für die Natur, vor allem für Pflanzen. Folgerichtig studierte er Biologie, schrieb eine Dissertation an der Universität Genf über den ›Wurzeldruck der Pflanzen‹1, verstand sich ein Leben lang primär als Naturwissenschaftler und gewann doch die nationale wie internationale Aufmerksamkeit als Schriftsteller mit Arbeiten über Richard Wagner, Kulturgeschichte, Philosophie, Literatur und Rassentheorien. Noch bevor er nach Richard Wagners Tod dessen Schwiegersohn wurde, war er einer der engsten Vertrauten von Cosima Wagner, der weitaus intelligenteste Kopf des Bayreuther Kreises. Gleichwohl hatte er mit vielen Mitgliedern und Anhängern dieser Wagner-Anbeter wenig gemein. Der engstirnigen, nationalistisch-völkischen Ausrichtung vieler dieser Bildungsignoranten stand sein polyglottes Herkommen entgegen, der ausschließlichen Fokussierung auf Wagner und sein Werk entging er mit seinen Büchern über Kant und Goethe, deren Denken ihm bedeutender als das des ›Meisters‹ erschien, bei aller Verehrung, die er diesem entgegenbrachte. Tief religiös, verfügte er über breite theologische Kenntnisse, die selbst Fachtheologen erstaunten. Seine humanistisch grundierte Ausbildung und Bildung spiegelt eine Bibliothek, die etwa zehntausend Bände zu nahezu allen wichtigen Wissensgebieten umfasst: von einzelnen Disziplinen der Naturwissenschaften über die Philosophie, Theologie, Literatur, Geschichte und Politik bis hin zu sprach-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen. Zweifelsohne war er ein hoch gebildeter Privatgelehrter, zugleich aber auch eine schillernde und äußerst problematische Figur. Seine starke Wirkung auf große Teile des wilhelminischen Bildungsbürgertums verdankte er seinen Bemühungen und seiner Fähigkeit zur synthetischen Schau der Welt, ihrer Erklärung aus einigen wenigen Prinzipien, die im Umbruch der Werte und Strukturen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Beschwörung »des Ganzen«, als Entwurf einer holistischen Weltsicht sehr nachgefragt war. Wo die Einheit der Welt durch Pluralisierung und Individualisierung schon längst zerbrochen war, die Sehnsucht 1 HSC, Recherches sur la sève ascendante, Neuchâtel 1897. 12 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie danach aber umso stärker, gab Chamberlain wissenschaftlich scheinbar gesicherte Antworten, die eine klare Orientierung versprachen. Er war nicht der Einzige mit solchen Bemühungen. Auch Autoren wie Ernst Haeckel, Rudolf Steiner oder Oswald Spengler befriedigten mit ihren je eigenen und unterschiedlichen ›Analysen‹ und ›Erklärungssystemen‹ diesen Hang der Gebildeten nach der Einheit einer Welt, die schmerzlich vermisst wurde. Dicht vernetzt im konservativen intellektuellen Milieu, das Chamberlain freilich ohne Scheu auch selbstsicher gelegentlich verließ, konnte er mit einigen seiner Schriften Stimmführer jener Verunsicherten werden, die im Strudel der Zeiten nach ›rechter‹ Orientierung suchten. Sich selbst immer wieder als »Dilettant« im Goethe’schen Sinne verstehend und zu den akademischen Spezialisten eher in Distanz stehend, war er andererseits mit manchen Koryphäen der akademischen Welt verbunden, deren Vertreter ihn – wie beispielsweise Adolf von Harnack – auf ihre Weise außerordentlich schätzten. Befreundet mit Kaiser Wilhelm II. und Teilen des deutschen Hochadels, sah er doch deren Bildungsdefizite sehr deutlich und hielt sie nur begrenzt für adäquate Gesprächspartner. Und obwohl Anhänger und Propagandist der aufkommenden Rassentheorie und bekennender Antisemit, pflegte er gelegentlich freundlichen, ja freundschaftlichen Umgang mit Juden und verachtete diejenigen, die die Juden zum allgemeinen Sündenbock aktueller Missstände und Miseren stempeln wollten. Von den Nazis, nicht zuletzt von Hitler, zum Vordenker ihrer Bewegung gemacht und vereinnahmt, widersprachen zentrale Teile seiner grundlegenden Überzeugungen, so etwa sein tief verwurzelter christlicher Glaube, deren Ideologie. Von Kindheit an war er immer wieder krank, im Laufe der Jahre zunehmend häufiger und ernster, ab 1914 bis zu seinem Tod schwer leidend an Parkinson, und doch trotzte er mit einer bewundernswerten Energie und strikter Selbstdisziplin seinem durch Schmerzen gequälten Leben noch wichtige Bücher ab. Wie nahezu alle bedeutenden Menschen – und Chamberlain war, aller politischen Unsäglichkeiten zum Trotz, ein in seiner Zeit und für seine Zeit bedeutender Mensch – steckte er voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Neben Positionen seines Denkens, die schon zu seinen Lebzeiten, aber erst recht heute, inakzeptabel waren, gibt es auch viel Nachdenkenswertes bei ihm, gibt es Schriften, die zu lesen sich auch heute noch lohnt. Er war, daran kann kein Zweifel bestehen, einer der wirkungsmächtigsten Publizisten der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts, ein Bestseller-Autor, mit dem zu beschäftigen sich schon deshalb lohnt, weil man bei ihm Aufschluss finden kann über Weltanschauungsentwicklungen, die den Gang der deutschen Geschichte unheilvoll mitbestimmt haben. Er steht für vieles: für ein bestimmtes, in vielerlei Hinsicht verfälschtes Bild von Wagner, das dessen Rezeptionsgeschichte entscheidend beeinflusst hat; für den großangelegten Versuch, die Menschheitsgeschichte mithilfe einiger einfacher Prinzipien zu erklären und daraus zugleich Schlüsse für die Zukunft zu ziehen; für die Hoffnung, dem Denken der »Großen« – wie Kant und Goethe – Orientierungssicherheit abzugewinnen, in Zeiten, wo neue Entwicklungen auf allen Gebieten des Lebens für sicher gehaltene Traditionen zu zerstören drohten; auch für den Versuch, mithilfe Herkunft 13 eines erneuerten Christentums, einer ›zweiten Reformation‹ noch einmal die geistigen Grundlagen des Abendlandes selbst erneuern zu können; und nicht zuletzt für den Wahn, in Rassentheorien eine letzte anthropologische Begründung für ›den Menschen der Zukunft‹ zu finden, mit der die Juden aus wichtigen Teilen des europäischen Lebensraums ausgeschlossen, allerdings nicht vernichtet werden sollten. Das alles reagierte auf Probleme, die für viele die Probleme der Jahrhundertwende waren. Diesen bei Chamberlain nachzugehen, verheißt zugleich Aufschluss auch für bestimmte Entwicklungszüge der deutschen Geschichte. Herkunft »Mein Vater war Engländer, meine Mutter Schottin; es liegt also zunächst eine Mischung der zwei verschiedenen Völker aus Norden und Süden vor. Nur muß ich gleich hinzufügen, daß, während meine Mutter nachweisbar ganz rein südschottischer, also rein nordgermanischer, einheitlicher Rasse entsprungen ist, der väterliche Stamm in das normännische und angelsächsische Blut auch keltisches und anderes aus der nordischen Verwandtschaft hineingebracht hat.«2 Mit diesen Sätzen beginnt Chamberlain in seinen Lebenswegen den Abriss seiner eigenen Biographie. Nicht mit der einfachen Mitteilung seines Geburtstags, der einfachen Schilderung seiner Familie, sondern mit dem Hinweis auf seine Abstammung nach Stamm und Rasse, wie es seinem Denken seit der Veröffentlichung der Grundlagen des 19. Jahrhunderts entspricht. Die Mutter steht am Anfang des Berichts, weil bei ihr die »Verhältnisse […] einfacher liegen« – und weil sie wichtiger ist als der Vater –, was paradoxerweise bei diesem Antisemiten an die jüdische Definition erinnert, Jude sei, wer eine jüdische Mutter habe. Die Mutter, heißt es in seinen Erinnerungen, stamme aus schottischem Kleinadel, aus einer Familie, die einerseits Land bei Edinburgh besaß, das sie bewirtschaftete; die andererseits mit dem Vater der Mutter der englischen Flotte einen Offizier gestellt habe, der zugleich ein bekannter Forschungsreisender gewesen sei und vielgelesene Bücher über seine Erkundungen im Südpazifik geschrieben habe. Mitglieder der mütterlichen Familie werden als vitale, abenteuerlustige, aber auch bildungsbeflissene und gastfreundliche Menschen geschildert, die Mutter als »eine echte Schottin«, »fromm und streng, gewissenhaft bis ins Übertriebene; ihre Interessen waren auf das Geistige und das Moralische gerichtet«.3 Sie starb, noch bevor Houston Stewart ein Jahr alt war. 2 3 HSC, Lebenswege, S. 11; auch das folgende Zitat hier. Die Darstellung des Lebens von Chamberlain folgt hauptsächlich seiner Autobiographie und den Erinnerungen seiner ersten Frau Anna – Anna Chamberlain, Meine Erinnerungen an Houston Stewart Chamberlain. Biographische Hinweise, die alle auf Chamberlains eigenen Angaben beruhen, finden sich bei Leopold von Schroeder, Houston Stewart Chamberlain, bei Hugo Meyer, Houston Stewart Chamberlain als völkischer Denker, bei Geoffrey G. Field, Evangelist of Race und bei Barbara Liedtke, Völkisches Denken. HSC, Lebenswege, S. 14. 14 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie Während Chamberlain die Familienlinie der Mutter nur bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts verfolgt, führt er die Wurzeln der väterlichen Linie bis in die Zeit Wilhelm des Eroberers (1027–1087) zurück. Es sind »mehrfache Stämme«4, die sich über die Jahrhunderte vermischen und am Ende in die Familie der Chamberlains einmünden. Berichtet wird vom Großvater, der zur See fuhr, später in den britischen Konsulats- und Diplomatendienst eintrat, Generalkonsul in Südamerika und danach Gesandter am Hofe des Kaisers von Brasilien wurde. Für seine Verdienste erhielt er den Baronet-Titel. Ein Diplomat, der stets auch Forschungsreisender war, ein engagierter Botaniker, der die Begonie nach Europa einführte und im Alter naturwissenschaftliche Vorträge hielt. Der Vater, Sohn aus der zweiten Ehe des Großvaters, wurde 1818 geboren und avancierte – wie die fünf Söhne aus zwei Ehen, die alle die militärische Laufbahn einschlugen – zum hohen Offizier der britischen Marine. Mit zehn Jahren kam er zur Ausbildung auf ein Kadettenschiff, mit zwölf Jahren fuhr er erstmals zur See, und dann stieg er stetig über die verschiedenen Rangstufen zum Admiral auf. Auch seine Brüder machten glänzende Militärkarrieren, in Indien, Afghanistan und anderen britischen Kolonien, und Sir Neville Chamberlain, der Lieblingsonkel von Houston, wurde von Königin Victoria sogar zum Feldmarschall und Knight Commander oft the Bath befördert.5 Da Chamberlain zu seinem Vater ein mehr als distanziertes Verhältnis hatte, schweigt er sich in seinen Lebenswegen über ihn weitgehend aus. Er habe physisch und geistig wenig von ihm geerbt, bemerkt er, obgleich er vom Typus »echt englisch-normännisch« gewesen sei, mit »himmelblauen Augen und kühn gebogener Nase«, aber von sehr beschränkter Bildung, eben »von Kopf bis Fuß Offizier und in seine Uniform sozusagen hineingewachsen«.6 Ein in der britischen Marine allseits geachteter Militär von hohem Dienstbewusstsein und strenger Selbstdisziplin. Privat allerdings auch mit weicheren Qualitäten versehen, die der Sohn freilich selten erlebte, weil der Vater überwiegend auf See war und erst spät feste Anstellungen auf dem englischen Festland erhielt. Als er 1878 starb, war er seinem Sohn, der die meiste Zeit seiner Jugend in Frankreich verbrachte, schon seit Jahren fremd geworden. Ausführlicher als auf den Vater und dessen Vorfahren geht Chamberlain auf die Familie seiner Mutter ein. »Statur, Gesichtszüge, Charakter und Begabungsart« habe er von der Familie seiner Mutter geerbt, besonders von seiner Großmutter mütterlicherseits. »Ich besitze weder die normännische Nase noch die angelsächsischen Augen, ich bin bedeutend größer als die übrigen männlichen Mitglieder meiner Familie, außerdem leidenschaftlicher veranlagt, und meine Seele ist der 4 5 6 Ebenda, S. 15. Geoffrey G. Field, Evangelist of Race, S. 19. Der »Knight Commander of the Bath«, auch: The Most Honourable (Military) Order of the Bath« wurde von Georg I. am 18. Mai 1725 geschaffen. Er ist einer der höchsten britischen Orden, der auf mittelalterliche Traditionen zurückgeht und dem Träger bei Hof eine wichtige Stellung einräumt. Ausführlich wikipedia.org/wiki/order of_the Bath HSC, Lebenswege, S. 23; hier und S. 24 auch die folgenden Hinweise. Heimatlosigkeit 15 göttlichen Sprache der Musik als ihrem eigentlichen Elemente weit geöffnet«7, schreibt er in seiner Autobiographie und meint, das alles seien »Erbstücke aus dem Stamme der Großmutter«. Diese komme aus »dem nur von Kelten bewohnten« Wales, »unmittelbar von den alten Häuptlingen oder, wie sie sich zu nennen pflegten, ›Königen‹ der Walliser, jenen kriegerischen Barden, die, auch wenn sie hoch zu Roß in die Schlacht ritten, die Harfe umschlungen trugen.« Entsprechend brachte die Familie neben Großgrundbesitzern auch kampferprobte Helden hervor, aber auch erfolgreiche Kaufleute. Einer von ihnen heiratete die Tochter eines Handelsherren aus Lübeck, was »dänisches« resp. »deutsches Blut«8 in die Familie brachte – eine versteckte Erklärung für seine spätere Hinwendung zu Deutschland und deutscher Kultur. Wie wichtig Chamberlain die Darlegung seiner rassischen Herkunft war, belegt eine kleine Anekdote, die er in diesem Zusammenhang erzählt. 1902 saß er dem Maler Franz von Lenbach für ein Porträt. Dieser fragte ihn angeblich, ob er wirklich englischer Abstammung sei. Nachdem Chamberlain dies bejaht hatte, erklärte Lenbach: »Nein, diese Schläfe! Diese Hände! Das Verhältnis von Oberkopf zum Gesicht! Und vor allem dieser Schnurrbart! – das ist alles skandinavisch! […] Sie haben keinen rein englischen Typus!« Es ist ein bemerkenswerter Stammbaum, den Chamberlain vorweisen kann, sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits. Seine Vorfahren gehörten zur Aristokratie, nicht selten zu den führenden Persönlichkeiten Englands, verheiratet und verwandt mit den höchsten Kreisen des Königreichs, oft mit erheblichem Landbesitz ausgestattet, weit in der Welt herumgekommen und in amerikanischen wie asiatischen Ländern für längere Zeit lebend. Viele übten neben ihrem Beruf intensive Forschungstätigkeiten aus, publizierten und brachten es darin zu einiger Anerkennung, gelegentlich sogar zu Ruhm. Fast alle waren wohlhabend und konnten sich einen Lebensstil leisten, wie er in der Aristokratie üblich war. Heimatlosigkeit Chamberlain wurde am 9. September 1855 in Southsea bei Portsmouth im Süden Englands geboren.9 Er war das jüngste von insgesamt vier Kindern: seine Schwester war früh verstorben, seine zwei Brüder, Basil und Henry, waren fünf und drei Jahre älter als er. Basil, mit dem er sich ein Leben lang eng verbunden fühlte und einen regen Briefwechsel unterhielt, wurde später, gegen den Willen des Vaters, kein Militär, sondern aufgrund seiner Neigungen zu Japan und zu dessen Kultur Professor für Literatur an der Universität Tokio. Henry ging, wie der Vater, zur Marine und schlug erfolgreich die Offizierslaufbahn ein. 7 8 9 Ebenda, S. 19; hier auch die folgenden Zitate. Ebenda, S. 21; hier auch das folgende Zitat. Zum Folgenden vgl. Geoffrey G. Field, Evangelist of Race, S. 20 ff. 16 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie Der Tod der Mutter und die häufig lange Abwesenheit des Vaters zwangen dazu, die Kinder zur alten und kränklichen Großmutter zu geben, die des Klimas wegen in Versailles lebte und dort von ihrer Tochter gepflegt wurde. Diese Tochter, Harriet Mary Chamberlain, nahm sich ihrer kleinen Neffen an. Während jedoch die beiden älteren Brüder nur kurz in Frankreich blieben und dann wieder in ihre englische Heimat zurückkehrten, lebte Chamberlain vom Mai 1856 bis zum Mai 1866 dort und kehrte, nach kurzen Unterbrechungen immer wieder dahin zurück. Und obgleich das Haus seiner Tante britisch geprägt war und man Englisch sprach, empfing er doch die entscheidenden Eindrücke seiner Kindheit durch die französische Umgebung. Im Haus der Großmutter verkehrten überwiegend französische Offiziere und Beamte, und die Spielkameraden aus der Schule waren Franzosen, nicht Engländer. Die Privatlehrer, die ins Haus kamen, waren Franzosen und eingeschult wurde Houston in ein französisches Lycée. Alles, was auf ihn einströmte, war französisch, auch wenn, wie er berichtet, seine englischen Verwandten von der Überlegenheit Englands und dessen Geschichte, Politik und Kultur tief durchdrungen waren und ihm das eindringlich vor Augen stellten. Der Einfluss des Französischen war am Ende doch stärker. Französische Sprache und Kultur wirkten so nachhaltig, dass Chamberlain noch in seinen Erinnerungen davon schrieb, es überkomme ihn auch in seinem späten Leben noch stets ein »anheimelndes Gefühl«, wenn er die französische Sprache höre, deren Klang seine Sinne und sein Gemüt umschmeichele und die Kinderjahre »beglückend« zurückriefe: »Ihre Schlichtheit und Anspruchslosigkeit, ihre große Intelligenz, ihre Freundestreue macht die Franzosen meinem Herzen teuer«, schreibt er in seinen Lebenswegen, und fährt fort, es falle ihm schwer, »einen ganzen Tag vorüber gehen zu lassen, ohne ein französisches Buch aufgeschlagen zu haben, so vertraut und altgewohnt wirkt auf mich nicht allein die Sprache, sondern die ganze Art zu denken und dem Gedanken Ausdruck zu verleihen.«10 Gleichwohl war er zwischen den Kulturen hin- und hergerissen; keiner wirklich intensiv zugehörig, fühlte er sich im Grunde heimatlos. Als Engländer blieb ihm Frankreich immer auch ein wenig fremd, war ihm, aller Sympathien und Neigungen zum Trotz, nie wirklich bergendes Zuhause. Andererseits überkam ihn bei seinen englischen Verwandten, war er dort zu Besuch, »ein solches Gefühl der Fremdheit und Verlassenheit, daß ich mich noch leidenschaftlicher an das mich begleitende französische Kindermädchen anschloß und den Tag der Rückkehr nach Frankreich nicht abwarten konnte.«11 Vieles kommt hier zusammen: Der frühe Tod der Mutter und die langen Abwesenheiten des Vaters erzeugten bei dem sensiblen Knaben schon früh das Gefühl des Unbehausten, des Alleinseins und Im-Stich-gelassen-werdens. Das Aufwachsen bei der Großmutter und Tante in Frankreich konnte die fehlende elterliche Geborgenheit offensichtlich nicht ersetzen. Und der häufige Besuch bei der englischen Verwandtschaft machte die Kluft 10 11 HSC, Lebenswege, S. 33. HSC, Lebenswege, S. 35; die folgenden Zitate auf den Seiten 29 und 30. Heimatlosigkeit 17 Abb. 2: Der junge Chamberlain (ohne Datum) zwischen Herkunft und aktueller Lebenssituation erst recht deutlich. Die Unsicherheiten, die aus einer solchen Situation zwangsläufig erwachsen mussten, prägten Chamberlain für sein ganzes Leben. Wohl auch aus solchen Gründen war er schon als Kind gesundheitlich anfällig und häufig krank, reagierte mit erschreckter Hilflosigkeit auf diese sehr frühen, ihn quälenden Erfahrungen. Er sei, so schrieb er in seinen Memoiren, »ohne Heimat durchs Leben gegangen«, habe niemals das Gefühl gehabt, wirklich dazuzugehören, sei sich vielmehr stets bewusst gewesen, in der Fremde zu leben. Darin bezieht er ausdrücklich seine Jahre in Deutschland mit ein, die den größten Teil seines Lebens ausmachen, mit großen Erfolgen als Schriftsteller und wirksamem publizistischem Einfluss. Es ist auffallend, wie ausführlich Chamberlain in seinen Lebenswegen auf diese Erfahrung der Heimatlosigkeit eingeht, wie er das Thema wieder und wieder umkreist und als lebensbestimmend empfindet. Er habe, so schreibt er, immer wieder Menschen mit ähnlichem Schicksal kennengelernt, Deutsche, Engländer, Amerikaner, Russen usw., aber sie alle seien irgendwann einmal ihrer Nation wirklich zugehörig gewesen und hätten sich später dann »der neuen Umgebung vollkommen angepaßt und angegliedert.« Ganz im Gegensatz zu ihm, der nie wirklich Engländer gewesen sei, auch nicht Franzose oder Deutscher, der es nie vermocht habe, »in den verschiedenen Ländern, wohin mich das Schicksal verschlug, […] die 18 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie nicht angeborene Art als eigene anzunehmen.« Ernst Bloch spricht in solchem Zusammenhang einmal davon, in der Welt entstehe etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«12 In England, so Chamberlain, sei er von der eigenen Familie zwar stets herzlich aufgenommen, aber doch als distinguished foreigner bezeichnet worden, da er ihnen »in Sprache, Geschmack, Gewohnheiten sowie durch Bildungsgang, Geistesrichtung, Weltanschauung ferner stand als z. B. Tausenden von Deutschen, die sich in England niedergelassen« hatten und nur Schein-Engländer geworden waren. In Deutschland, der Schweiz oder Österreich habe er sich zwar wohlgefühlt, frei atmen, aber Heimat auch hier nicht finden können, zumal man ihm »auf tausend Schritte« den Engländer angesehen habe. »So habe ich denn schon sehr jung begonnen«, heißt es in den Lebenswegen, »mir eine eigene Welt zu schaffen, eine eigene Heimat, mich mit Künstlern, Denkern, Dichtern, Forschern, Träumern, Erfindern, Helden, Heiligen zu umgeben, dazu auch mit sinnlich vorhandener, greifbarer Liebe – alles aber um mich herum abgeschlossen, abgerundet, unzugänglich […]. Hieraus nun, aus dieser Ausgeschiedenheit und Abgeschiedenheit, entstand eine ganz eigene Inbrunst, geboren aus anhaltendem, meist unbewußtem Versunkensein, und eine gewisse Höhe und Reinheit der Anschauung, weil nichts Mittelmäßiges – oder jedenfalls sehr wenig derartiges – trübend an sie heranreichte.«13 Nimmt man diese Aussagen der Selbsteinschätzung ernst und sieht sie nicht als stilisierende Pointierung eines sich selbst im Elitären einrichtenden Menschen, so zeichnen sie Eckpunkte eines Psychogramms, das manche der späteren Verhaltensweisen Chamberlains mit erklären kann. So etwa die lebenslange Suche nach festen Bindungen, zunächst in der frühen ersten Ehe mit Anna Horst, nach deren Zerbrechen in der zweiten Ehe mit Eva Wagner; so sein Streben nach Bayreuth, mitten ins Zentrum des Wagner-Kultes und in gefestigte Strukturen der Kommunikation; so die persönliche Freundschaft mit Cosima Wagner, die Auszeichnung und Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich anerkannten Institution bedeutete; so die intellektuelle Führung des Bayreuther Kreises, die Chamberlain zum Sprachrohr einer mächtigen kulturmissionarischen Bewegung machte; so auch die immer wieder neu einsetzende Suche nach Teilhabe an jenem intellektuellen Diskurs des etablierten Konservatismus, der Deutschlands Schicksal im Kaiserreich einflussreich bestimmte; so das bestimmende Mitwirken und ›agenda setting‹ durch äußerst erfolgreiche Publikationen oder auch durch gezielte Teilnahme an ästhetisch-gesellschaftlichen Debatten, wie sie privat, und zugleich mit öffentlicher Wirkung, etwa im Salon Bruckmann folgenreich geführt wurden.14 Das Leben und die Schule in Frankreich wurden 1866 unterbrochen: Im zwölften Lebensjahr wechselte der junge Chamberlain auf Wunsch seines Vaters auf eine kleine englische Privatschule, über die er mit Schrecken und Abscheu in 12 13 14 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt/M. 1967, S. 1628. HSC, Lebenswege, S. 31. Dazu Wolfgang Martynkewicz, Salon Deutschland. Heimatlosigkeit 19 Abb. 3: Chamberlain (links), wie der Vater ihn wünschte; mit seinen Brüdern Basil und Henry (ohne Datum) seinen Erinnerungen berichtet: »Elende Unterkunft und Kost, die unfähigen, lieblosen, stockschwingenden Lehrkräfte, die entsetzlich rohen Buben, welche – grausam und feig – kein größeres Vergnügen kannten, als mich – den kleinsten und fremdesten – zu quälen.«15 Es war eines jener Internate, in denen ansonsten gescheiterte Existenzen als Lehrer ihre Frustrationen an hilflosen Schülern ausließen und diese ihrerseits für die erlittenen Demütigungen Revanche übten in sadistischem Verhalten den schwächsten und hilflosesten Mitschülern gegenüber. Solche Drillanstalten erzeugen lebenslange Traumata und psychische Deformationen bei denen, die den erbarmungslosen Kommandos widerstandslos ausgesetzt waren. Chamberlain erlebte all das ein dreiviertel Jahr lang, das er hier verbringen musste, als »Hölle«, die vielen kleinen Quälereien des Schulalltags zermürbten ihn und machten ihn krank. Erst im Herbst 1867 entkam er durch den Wechsel auf eines der großen englischen Colleges, das Cheltenham College, dieser geistigen wie körperlichen Marter. Cheltenham war ein vornehmes College, 1841 in alten gotischen Gebäuden gegründet und nahe der Stadt Cheltenham in Gloucestire, westlich von Oxford, gelegen. Eine bedeutende Internatsschule von humanistisch15 HSC, Lebenswege, S. 38; die folgenden Zitate auf den Seiten 38; 52; 53; 39 ff.; 40; 42. 20 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie christlicher Ausrichtung, mit Akzent auf umfassender Allgemeinbildung und dementsprechend der Vermittlung von Latein, Altgriechisch, Geschichte, Literatur usw. Das College wurde von anglikanischen Geistlichen betrieben, die auch unterrichteten, es war ein wohlgeordneter Betrieb, in dem eine menschenfreundliche Atmosphäre herrschte. Hier fühlte Chamberlain sich vergleichsweise wohl, aber auch hier zog er sich eher zurück und blieb ein introvertierter Einzelgänger. An einen Mitschüler, so berichtet er, schloss er sich freundschaftlich an, die restlichen Schüler mied er weitgehend. Bei seinen literarischen Studien entdeckte er erstmals Shakespeare, eine »Offenbarung«, dessen Werke er ein Leben lang immer und immer wieder las. In der kurzen Zeit, die er in Cheltenham verbrachte, entschwand er in die Welt der Literatur, in seine eigene Phantasie, aus der ihn erst im Februar 1870 eine schwere Erkrankung herausriss. Diese führte er auf das ihm »unerträgliche Klima Englands« zurück, die Ärzte erkannten – fälschlicherweise – auf Beeinträchtigung der Atmungsorgane, auf asthmaähnliche Anfälle, doch vermutlich war das Nervensystem betroffen, verursacht einerseits durch die miserablen Erfahrungen der ersten englischen Schule, aber auch durch die unsteten Lebensumstände, die zu häufigen Ortswechseln führten. Die Mediziner empfahlen eine Kur in Bad Ems, die ein lebensentscheidendes Erlebnis bringen sollte. Dass Chamberlain innerhalb weniger Jahre nicht nur dreimal die Schule wechselte, auch vom französischen ins englische Erziehungssystem, verhinderte eine solide, sich kontinuierlich aufbauende Grundlegung von Wissen und Bildung, auch wenn der junge Chamberlain in allen Schulen gute bis sehr gute Leistungen erbrachte. Für Letzteres mag der Unterricht von Tante Harriet Mary Chamberlain Abb. 4: Chamberlain um 1870 Konversionserlebnisse in Bad Ems 21 entscheidend beigetragen haben, die dem noch nicht schulpflichtigen, aber lerneifrigen Jungen beizeiten Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und ihn mit der Bibel vertraut gemacht hatte, ihm Literatur nahezubringen suchte und zugleich seine Liebe zur Natur bestärkte. Ihre »Sanftmut gepaart mit Unerbittlichkeit« gab dem kränkelnden, unsicheren, sich nach Heimat sehnenden Knaben ein liebevollstrenges Gerüst, in dem er sich sicher bewegen konnte, und so preist er sie denn auch in seinen Lebenswegen als eine das Gute bewirkende Mischung aus Vernunft und Liebe, durch die er eigene Untugenden wie Jähzorn bezwungen habe. »War ich als Kind krank, so gab es für mich ein souveränes Beschwichtigungsmittel: die Hand der Tante, ruhte diese auf mir, ich konnte jede Beklemmung, jeden Schmerz ertragen; mehr als einmal stand ich unter diesem Schutze, wie von Engelsfittichen umgeben, in vollem Frieden vor den Toren des Todes.« Über Jahre nahm diese Tante die Stelle der Mutter ein, und die Bindung zwischen beiden wurde so eng, dass Chamberlain bis zu seinem zwanzigsten Jahr fast stets mit ihr zusammen blieb, sie bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr häufig besuchte und danach, bis zu ihrem Tode, in ständigem Briefverkehr mit ihr stand. Durch sie und ihre Fürsorge erfuhr er Zuwendung und warme Emotionen, sie gab ihm bis zu einem gewissen Grad jenen Halt, den er sich so sehr wünschte, den die Lebensumstände ihm aber verweigerten. Konversionserlebnisse in Bad Ems Die Ärzte hatten zur Erholung auf dem Kontinent geraten und so reiste Chamberlain mit seiner Tante im Juni 1870 nach Bad Ems. Die kleine Stadt war bereits im 17. und 18. Jahrhundert ein bekannter Badeort, stieg im 19. Jahrhundert dann zu einem der berühmtesten Bäder Europas auf. Ursprünglich gehörte Ems zum Herzogtum Nassau, 1866 kam es zu Preußen. Dieser Herrschaftswechsel bewirkte einen Entwicklungsschub: Die Spitzen der deutschen und europäischen Gesellschaft, vor allem Mitglieder der Aristokratie, fanden sich nun regelmäßig ein, in- und ausländische Prominenz flanierte auf der Promenade, regierende Monarchen wie der König von Preußen und der russische Zar hatten hier einen festen Sommersitz und gelegentlich kamen Künstler wie Richard Wagner oder auch Dostojewski für einige Zeit an die Lahn. Der Ort war ein Treffpunkt der internationalen High Society, buntes Treiben herrschte vor, denn natürlich zogen die Stützen der Gesellschaft – so der Titel eines bekannten Bildes von Georg Grosz – auch allerlei dubioses Volk an, das verdienen wollte, nicht immer auf redliche Art. Hierher also kam Chamberlain, um sich gesundheitlich zu erholen. Es war sein erster Besuch in Deutschland, und der führte ihn direkt an einen Platz, wo die deutsche Gesellschaft einen ihrer glänzenden Auftrittsorte unterhielt. In einem kleinen Essay hat er im Nachhinein das Kurleben des Ortes aus der Erinnerung beschrieben: »Frühmorgens 6 Uhr ertönte von der Kurmusik der übliche Choral; bis gegen 9 Uhr ging es am Brunnen lebhaft zu; dann leerte sich die Promenade 22 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie zwischen Kurhaus und Kasino, um sich erst nachmittags zur Kaffeezeit von neuem auf zwei Stunden zu beleben; abends aber erreichte der Verkehr seinen Höhepunkt, denn da strömte alles zusammen, Patienten und Lebewelt; in dem promenadenartigen Kurgarten war nicht bloß häufig kein Stuhl übrig, sondern kaum mehr Platz zum Stehen und Gehen, und beim Kasino wogte die Menge ununterbrochen aus und ein.«16 Zur selben Zeit, da Chamberlain in Bad Ems weilte, hielt sich auch der preußische König Wilhelm, der spätere deutsche Kaiser Wilhelm I., dort auf, und dessen Person machte auf den vierzehnjährigen Engländer einen nachhaltigen Eindruck: »Er war so vollendet schlicht, […] so bestrickend freundlich und so heilig ernst«, schreibt er im Rückblick, »das Ideal eines Monarchen.« Und er schildert, wie der König den ganz normalen Tagesablauf eines Kurgastes absolviert: morgens am Brunnen, nachmittags auf der Promenade, abends abseits im Kasino sitzend. Während des Tages zumeist in Zivil und nur von zwei Herren begleitet, abends in Uniform und dann in größerer Gesellschaft. Ein stets zurückhaltender Mann, ein »Badegast unter Badegästen«, von »vollendeter Einfachheit«. Diesem ihm sympathischen Verhalten des preußischen Königs stellt Chamberlain den Eindruck von Stärke und Kraft preußischer Soldaten beiseite: ein Infanterieregiment, das vor dem König paradiert, preußische Elitetruppen rufen bei ihm »den Eindruck nie geahnter Kraft« und »jugendlicher Schönheit« hervor und werden zu einem »erschütternden, unvergeßlichen Eindruck«. Später bewunderte er auf einer Reise über Mainz, Frankfurt und Heidelberg dort die Ulanenlager auf freiem Feld und die donnernden Kanonen bei Straßburg. Aber auch die übrigen deutschen Gäste, das gesamte deutsche Umfeld innerhalb der internationalen Kur- und Badegesellschaft beeindrucken ihn nachhaltig. In den Lebenswegen schreibt er, er habe hier als junger Mann »nicht ein philisterhaftes Deutschland, auch nicht ein Deutschland von Handlungsreisenden und Fabrikdirektoren, nicht einmal ein Deutschland von Phantasten und Professoren, am allerwenigsten ein Deutschland von schwatzseligen Parlamentariern und schwachen Ministern erlebt, sondern ein heroisches Deutschland, […] angeführt von unsterblichen Helden.«17 Da Letzteres nicht konkretisiert wird, bleibt es dem Leser überlassen, zu rätseln, auf welche Personen sich dieses Urteil beziehen mag. Zweierlei fällt an solchen Beschreibungen auf: Zum einen stilisiert Chamberlain im Nachhinein seinen Aufenthalt in Bad Ems zu einem entscheidenden Konversionspunkt seines Lebens, das bisher durch England, mehr noch durch Frankreich und die dortigen Erfahrungen bestimmt gewesen war. Nunmehr geht ihm in Deutschland gleichsam eine neue Welt auf, die ihn ganz und gar für sich einnimmt und die vorwiegend durch Preußen – und das, was Chamberlain für preußisch hält – geprägt wird. Zum anderen skizziert er hier die Deutschen als Menschen der Bescheidenheit, der geregelten Ordnung, vor allem aber der Stärke. Man braucht 16 17 HSC, Deutsches Wesen, S. 15; die folgenden Zitate auf den Seiten 16; 17; 15. HSC, Lebenswege, S. 54. Der deutsche Lehrer 23 kein Psychoanalytiker zu sein, um zu verstehen, dass in solchen Stilisierungen eigene Defizite, Wünsche und Sehnsüchte auf andere, auf Fremde projiziert werden: Der körperlich eher zarte und schwache, stets krankheitsanfällige junge Mann sieht in Bad Ems in den Deutschen die Repräsentanten des Gesunden und Starken, und dies macht einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn. Die Deutschen, die er auf seinen immer wieder unternommenen kleinen Touren durch die kleine Stadt und an deren wichtigsten Treffpunkte beobachten kann, erscheinen ihm als Gegenbilder zur eigenen maladen körperlichen Befindlichkeit, und je elender es ihm gesundheitlich geht, je mehr stilisiert er sie zu einem Hoffnungsbild. Bereits hier ist in nuce ein entscheidendes Motiv seiner Hinwendung zu Deutschland zu erkennen, das bis in die Spätschriften, am deutlichsten in den Kriegsschriften der Jahre 1914 bis 1918, erkennbar bleibt: die Bewunderung für ein gesundes, heroisches, starkes und gut organisiertes Deutschland. Ein Motiv, das allerdings sehr bald schon kulturalistisch überformt wird, d. h. das hinter die Bewunderung für die deutsche Kultur zurücktritt. Bad Ems steht aber noch für ein besonderes Erlebnis: Chamberlain beobachtete am 13. Juli zufällig, wie der preußische König sich am späten Vormittag im Kurgarten mit dem französischen Botschafter Graf Benedetti trifft, wie hohe preußische Beamte dem Monarchen Schriftstücke überreichen, wie dieser seinerseits Anordnungen gibt – Beobachtungen, die sich der junge Mann zunächst nicht recht erklären kann. Erst Tage später wird ihm klar, auch durch Aufklärung von Erwachsenen, dass all dies unmittelbar mit dem kurz danach ausbrechenden deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zusammenhing und er, wie ein Verwandter ihm sagte, »Zeuge des weltgeschichtlichen Ereignisses gewesen [sei], aus welchem dieser große Krieg hervorging.«18 Unversehens hatte Chamberlain diplomatische Aktivitäten mitverfolgt, die am Ende zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs führen sollten.19 Der deutsche Lehrer Nach den Wochen in Bad Ems gab es bald ein weiteres Konversionserlebnis, das die Hinwendung Chamberlains zum Deutschtum entscheidend beförderte und zugleich stabilisierte. In Montreux hatten seine Tante Harriet und sein Onkel Neville für den Winter 1870 eine Wohnung gemietet, in der Hoffnung, der kränkelnde Neffe werde sich durch die frische Luft am Genfer See erholen. Man suchte einen Privatlehrer und fand durch Zufall einen jungen deutschen Theologen, der bereit war, ab Mai 1871 Chamberlain zu unterrichten, zunächst in der deutschen Sprache, später dann in allen grundlegenden Fächern. Zwischen ihm und seinem Schüler ergab sich bald eine lebenslange Freundschaft, deren Beginn eine der entscheiden18 19 HSC, Deutsches Wesen, S. 22. HSC, Lebenswege, S. 53 f.; Deutsches Wesen, S. 18 ff. 24 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie den Bildungsstationen für das spätere Leben Chamberlains wurde.20 Zwei Jahre unterrichtete Otto Kuntze, so hieß dieser Deutsche, seinen Schüler, dann wollte der Vater, dass sein Sohn nach England zurückkommt, um sich auf einer landwirtschaftlichen Schule auf ein Leben als Farmer in Kanada vorzubereiten – ein Versuch, der jämmerlich scheiterte. Chamberlain erkrankte erneut, kehrte auf den Kontinent zurück, nunmehr ausgestattet mit einer kleinen Jahresrente, die ihn finanziell unabhängig stellte. Otto Kuntze hatte mittlerweile in San Remo eine Pastorenstelle angenommen, und Chamberlain reiste ihm nach. »Kuntze erteilte mir als Freund Unterricht in den Mußestunden«, schreibt er in seinen Erinnerungen und fügt hinzu, er sei diesen Lehren »in den Jahren des empfänglichsten Alters« mit größtem Eifer gefolgt. Der Unterricht erfolgte mal konventionell im Zimmer, mal bei Spaziergängen am Meer oder auf Wanderungen durch die Berge. Zu den Erfahrungen mit englischer und französischer Ausbildung und Kultur kamen nun neue hinzu: »Zu dem Sinn für klare Formgebung, welche die französische Schule züchtet, und zu dem Mut der Unabhängigkeit, den man auf englischen Schulen gewinnt, kam jetzt die deutsche wissenschaftliche Methodik und bereicherte die Fähigkeit, mich selbständig weiter auszubilden.« Insgesamt drei Jahre hat Kuntze dem bildungswilligen jungen Mann neben Latein, Philosophie, Mathematik und Biologie die deutsche Sprache, die Grundlagen der deutschen Geschichte und Kultur vermittelt, ihn eingeführt in das kulturelle Selbstverständnis gebildeter Deutscher, vor allem aber ihm »das Lernen gelernt«. Aber Kuntze war nicht nur Wissensvermittler, sondern auch ein Lehrer mit jenen Eigenschaften, die Chamberlain in seinen späteren Schriften immer wieder den Deutschen – und dann den Germanen – als typisch zugeschrieben hat: »ein echt preußischer Mann: herb, kurz angebunden und dermaßen besorgt, ein Wort aus seinem Munde könnte als Schmeichelei aufgefaßt werden, daß er sich zu Äußerungen der Anerkennung und der Ermutigung selten bereit fand; dabei ein wirklich grundguter, bei der Erfüllung seiner Pflichten zu jeder Aufopferung bereiter Mensch. Was mich besonders an ihm anzog, war die Zartheit des Gemütes, die auf seinem blassen Antlitz sich widerspiegelte, verbunden mit einer Keuschheit des Denkens und Empfindens, die jedem Weibe zur Ehre gereicht hätte. Seine Interessen waren ausschließlich geistiger Art und reichten nach allen Seiten, soweit die gründliche Bildung eines evangelischen Theologen Tore geöffnet hatte.« Kuntze verdanke er es, so Chamberlain, »daß für mich das Deutschtum von Anfang an eine geistige Macht war: was ich erblickte, was mein Denken umgab und mein Herz erfüllte, das waren deutsche Freunde, deutsche Helden, deutsche Dichter in Worten und in Tönen, deutsche Forscher, deutsche Erfinder und Bahnbrecher.« Zugleich aber war aller Unterricht in seinem »verworrenen Erziehungsgang«, der in England und Frankreich wie der des Hauslehrers Kuntze, nur ein kurzer, 20 Zum Folgenden HSC, Lebenswege, S. 54 ff.; die folgenden Zitate auf den Seiten 55; 55; 56; 56; 61; 61; 59. Der deutsche Lehrer 25 zeitbegrenzter Einblick in die jeweiligen Bildungs- und Erziehungspläne dieser Länder; eine systematische oder gar vollständige Schulausbildung hat Chamberlain nie genossen, ein formeller Schulabschluss blieb ihm versagt. Von Jugend an hat er, und dies war eine der prägenden Erfahrungen für sein gesamtes Leben, sich wesentlich selbst um den Erwerb seiner Kenntnisse kümmern und aus eigener Einsicht und durch eigene Disziplin sich das aneignen müssen, was er für seine späteren Arbeiten brauchte. Eine in den entscheidenden Bildungsjahren so tiefgehende und dann tiefsitzende Erfahrung macht auch verständlich, weshalb Chamberlain sich später stets bewusst in Gegensatz zu den Fachwissenschaftlern setzte, zu deren Themen er publizierte, warum er für sich auf dem Status des Dilettanten beharrte, der allein seiner Meinung nach den über die Fachwissenschaften hinausreichenden Blick auf die Gesamtheit des Lebens hat. Nur jemand, der wie er eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, durch sie aber nicht zum engstirnigen FachWissenschaftler geworden war, konnte, so glaubte er fest, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu übergreifenden Zusammenhängen synthetisieren und sie damit für ›das Leben‹ fruchtbar machen. Kuntzes Vermittlung der deutschen Sprache, seine Hinführung Chamberlains zur deutschen Literatur und Kultur war für diesen so beeindruckend, dass er mehr und mehr den Wunsch entwickelte, sich in Deutschland niederzulassen. In seinen Lebenswegen zitiert er mehrere Briefe an seine englische Tante, in denen er mit wachsendem Nachdruck diesen Wunsch immer wieder vorbringt. Da heißt es im Juni 1875, er habe drei große Lebenswünsche: »Der erste, in Europa bleiben zu dürfen und nicht in die Kolonien auswandern zu müssen, der zweite England fern zu bleiben, der dritte, mich in Deutschland niederzulassen.« Letzteres wird damit begründet, dass er sich von jenen Deutschen, denen er im Ausland begegnete, immer verstanden gefühlt habe, »ein Gefühl, das ich noch niemals bei einem Engländer gehabt habe«. Seinem Lehrer Kuntze gegenüber äußerte er: »Ich wollte gerne meine linke Hand entbehren, wenn ich als Deutscher geboren wäre.«21 Und mit 21 Jahren schreibt er an einen holländischen Freund einen Brief, der hier vollständig wiedergegeben werden soll, weil er ein frühes Dokument einer übersteigerten Konversionsvorstellung ist, die manche späteren, problematischen Positionen und Einstellungen miterklärt: »Ich kann Dir gar nicht sagen, wie meine Verehrung, meine leidenschaftliche Liebe für, mein Glaube an Deutschland zunimmt. Je mehr ich andere Nationen kennenlerne, je mehr ich mit Leuten – gebildeten und ungebildeten – aller Klassen aus allen Völkern Europas verkehre, desto mehr liebe ich die Deutschen. Mein Glaube, dass die ganze Zukunft Europas – d. h. der Zivilisation der Welt – Deutschland in den Händen liegt, ist zur Sicherheit geworden. Das Leben der Deutschen ist ein ganz anderes als das von anderen Menschen; in ihm hat das Selbstbewußtsein, das Gefühl seiner Würde den Höhepunkt erreicht; er ist zu gleicher Zeit der 21 Überliefert von Leopold von Schroeder ohne konkreten Nachweis; vgl. derselbe, Houston Stewart Chamberlain, S. 52, Anm. 2. 26 Leben zwischen den Kulturen – Frühe Stationen einer Biographie Dichter und praktische Organisator, der Denker und Tuer, der Mann des Friedens par excellence und der beste Soldat, der Zweifler und der einzige, der imstande ist, wirklich zu glauben. Aber wie immer, je größer die Gaben, desto größer die Aufgabe. Deutschlands Aufgabe ist eine kolossal schwierige, und wenn es sie erfüllen soll, so muß die ganze Nation sie begreifen und alle zusammen wie ein Mann nach ihrer Erfüllung streben. Nicht bloß hat sie an sich selbst noch so viel zu tun, so viel zu entwickeln, sondern während dies fortgeht, muß sie sich allein gegen die Feindseligkeit und die Verkennung ganz Europas aufrechterhalten. Wenn man nicht selbst sich mitten im Strom befindet, sondern von ferne aus den Lauf der Dinge beobachten kann, so muß man sich oft fragen: Wird Deutschland seine Aufgabe erfüllen können? Wird es sie erfüllen? Und wenn man auch von ganzem Herzen unbefangen das Land liebt und keine Wolken darüber hängen sehen möchte, so ist man gezwungen, sich selbst zuzugestehen: nein! wenn die gründlich verrotteten moralischen Verhältnisse sich nicht bessern (und stillbleiben tun sie nicht, wenn sie nicht besser werden, werden sie schlimmer), wenn die ganze Nation nicht einsieht, daß Reinheit die größte Kraft eines Volkes ist, daß, wenn die Zukunft Europas von Deutschland abhängt, Deutschland nur dann eine Zukunft haben kann, wenn man den jetzigen Zustand von Grund aus angreift und gegen die ganze übrige Welt die Moralität als Hauptwaffe erhebt, – wenn Deutschland das nicht einsieht, dann muß es auch bald fallen – fallen, ohne seine Aufgabe vollendet zu haben, eine Beute der Barbaren.«22 In pathetischer Überhöhung wird hier eine ›Aufgabe‹ Deutschlands beschworen, von der nur andeutungsweise gesagt wird, worin sie eigentlich besteht. Man darf allerdings vermuten, dass Chamberlain, wie er es selbst formuliert hat, Deutschland als ›geistige Macht‹ meint, dass er glaubt, die deutsche Kultur und Wissenschaft habe für die restliche Welt Vorbildcharakter, woraus dem Land eine besondere Verantwortung erwachse, so, wie er das auch später in seinen kulturgeschichtlichen Schriften immer wieder betont hat. Chamberlain kannte dieses von ihm so verehrte Deutschland nur aus Literatur, Philosophie und Kultur, eben so, wie Kuntze es ihm vermittelt hatte. Nicht von politischer Hegemonie also war hier die Rede, doch konnten solche politischen Konnotationen mit diesem Text verbunden werden. Genau dies aber zeigt, was später noch deutlicher werden wird: Die Politik lässt sich quasi zwischen die Zeilen hineinlesen, die kulturalistische Substanz und Stoßrichtung des Chamberlain’schen Denkens leicht in eine politische umbiegen. Zwar faszinierten den jungen Chamberlain vorwiegend die geistigen und kulturellen Leistungen Deutschlands, aber sie waren – wie die Emser Episode zeigt – auf irgendeine Art und ihm selbst noch unbewusst auch mit dem Politischen und Militärischen verbunden. 22 HSC, Lebenswege, S. 59.
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