Schwerpunkt: Kunst und Medien

7 € Nr. 01/ 2015
Das Magazin für Autisten, AD(H)S ler und Astronauten
Schwerpunkt: Kunst und Medien
430.000 Hits bei Google. 2.498 verkaufte Printmagazine.
437 verkaufte eMagazine. 13 Illustratoren. 11 Autoren.
7 Fotografen. 1 Vision.
Editorial
Wir waren viel zu lange viel zu leise, schrieb ich im letzten Heft.
Dass wir uns füreinander starkmachen müssen, dass wir
gehört werden müssen. Dass wir es wert sind, gehört zu wer­den. Ich fühle mich ein wenig wie eine stolze Mama, wenn
ich sage: Wir haben uns stark gemacht. Wir wurden gehört.
Und wir sind es nach wie vor wert.
In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht ausmalen
können, mit welchem Erfolg die erste Ausgabe auf den
Markt kam. 79.354 Interviews und Drehs (gefühlt). 10.056
schlaflose Nächte (gefühlt). 4.263 E-Mails (nicht gefühlt).
Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich die vergangenen sechzehn Monate in weiten Teilen mit N#MMER
verbracht habe. Warum machst du das, wurde ich oft gefragt,
warum tut man sich so etwas an? Und obwohl ich auf diese
Fragen gern immer wieder zu antworten versuche, hielt ich es
für notwendig, ein Heft darüber zu machen, warum wir, das
ganze Team von N#MMER, von der IT über die Grafik bis hin
zu den Autoren, seit Monaten alles geben. Denn das Bild, das
Medien von Autismus und AD(H)S zeichnen, ist nicht nur
falsch, sondern gefährlich. Es wäre fast leichter, wenn es uns
in den Medien gar nicht gäbe. Wir verkommen zu medialen
Karikaturen, die Robin Schicha, ein junger autistischer Künstler, für uns hat real werden lassen. Wir werden, wie der aus
Dublin stammende Filmkritiker Stephen Totterdell zeigt, als
Sonderlinge wie Zirkuselefanten über Bildschirme und Leinwände gejagt und dann mit MMS, einer Chemikalie, zu
der Mela Eckenfels heroisch recherchiert hat, ruhiggestellt.
Aber jetzt sind wir dran. Wir haben Stimmen, sogar viele, auch
wenn Organisationen wie Autism Speaks die Öffentlichkeit
seit Jahren glauben machen wollen, dass dem nicht so ist. Wenn
ein Baum in einem Wald umfällt und alle Umstehenden denken, es mache kein Geräusch, hört ihn dann jemand? Wir sind
leise gefallen und niemand hat uns gehört. Wir werden nicht
mehr leise sein. Unser Aufstehen wird man bis in die letzten
Winkel hören können. Das hier ist nur der Anfang.
Denise Linke, Herausgeberin
1
Inhalt
6
Film & Fernsehen
Im falschen Film?
Autismus und AD(H)S finden immer
wieder Einzug in Film und Fernsehen.
Nicht immer ist die Darstellung
schlecht. Filmkritiker Totterdell zeigt,
wo es gelingt.
18
Missbrauch
Nein!
Autistische Frauen haben häufig Probleme damit, „Nein!“ zu sagen. Unsere
Autorin kennt diese Situation.
32
Fotostrecke
Life behind a lens
Der autistische Fotograf Gilbert Blecken
lockte in den 90er Jahren diverse
Musikikonen vor seine Linse. N#MMER
zeigt seine Arbeit.
37
Spiel
Bullshit-Bingo
Die Medien sind, wenn es um Autismus oder AD(H)S geht, voller Phrasen.
Ärgert euch das? Bingo beruhigt.
22
Kolumne
Mediale Inklusion
38
David erzählt uns wieder, wie das
Leben als Autist in den USA ist.
24
Interview: Franziska Pigulla
„Ich habe nicht an
ADS geglaubt“
Die deutsche Synchronsprecherin
und Schauspielerin sprach mit
N#MMER exklusiv über ihr ADS.
2
Gaming
Sie will doch nur spielen
ADS und Gaming – passt das zusammen?
Unsere Autorin Ricarda Riechert sagt: ja.
46
Innenleben
Einsamkeit
Jeder fühlt sich von Zeit zu Zeit einsam.
Bei Autisten kann es allerdings zu
einem Dauerzustand werden. Marlies
Hübner berichtet.
54
Interview: Rudy Simone
She‘s got the music in her
72
Rudy Simone ist bekannt dafür, dass sie
Metaphern
Von Hunden, Häusern
und anderen Autisten
Die Autismusmetapher. Tausendmal
notiert, tausendmal ist nichts passiert.
Deswegen stellen wir die An­wärter
für die dümmste Autismus­metapher
vor. Unsere Leserinnen und Leser
können dann im Internet abstimmen.
Bücher über Autismus schreibt. Ihre
wahre Liebe ist jedoch die Musik. Mit
N#MMER sprach sie über Kunst und darüber, wie schwer es ist, nicht vorrangig
auf die Mitgliedschaft im Spektrum reduziert zu werden.
82
MMS
Die hässliche Fratze der
Alternativmedizin
Fragwürdige Behandlungsmethoden
für allerlei Wehwehchen gibt es immer
wieder. Mela Eckenfels erklärt, was
es mit MMS auf sich hat und warum das
Zeug so gefährlich ist.
62
Release-Party
We run this
Nach Erscheinen der ersten N#MMER
haben wir im kleinen Kreis ein wenig
gefeiert, gelacht und das Tanzbein geschwungen. Ein kleiner Dank an alle und
ein kleiner Einblick in die Party.
66
92
Die Darstellung von Autismus ist
nicht immer richtig. Benjamin
Falk hat nachgeschaut, wie sich das
Bild im Laufe der Zeit wandelte.
Happy Strangers
Die US-Amerikanerin Hannah Williams
fotografiert Fremde und fragt sie,
was sie glücklich macht. Für N#MMER
fragt sie Autisten und AD(H)Sler, was
sie an sich mögen.
Autismus in den Medien
„Ich möchte lieber tot
sein, als als AspergerAutist zu leben“
Fotoserie
96
4 / 5
Comic
Fuchskind malt, was das Problem
mit den Medien ist.
Impressum / Mitarbeiter
3
Impressum
Verlag
Nummer Verlag UG
(haftungsbeschränkt)
Schillerstraße 28
10625 Berlin
[email protected]
www.nummer-magazin.de
Herausgeber
Denise Linke
Chefredaktion
Denise Linke
Anzeigen
Denise Linke
[email protected]
Art Direktion
Grafikladen
Johanna Dreyer &
Katharina Weiß
www.grafikladen.net
4
Illustratoren
Grafikladen
Robin Schicha
Daniela Schreiter
Kristina Wedel
Visagistin Editorial
Doaa Moharram
Lektorat & Korrektorat
Thomas Hübener
www.worteundwoerter.de
IT
Silsha Fux
Grafik
Sophie Schiewe
Fotografen
ftgrf Fotodesign
Gilbert Blecken
Hannah Williams
Autoren
Mela Eckenfels
Benjamin Falk
Marlies Hübner
Denise Linke
David Marino
Outerspace_Girl
Ricarda Riechert
Stephen Totterdell
Hannah Williams
(S. 5 rechts)
Druck
LASERLINE
Scheringstraße 1
13355 Berlin
Mitarbeiter
Ricarda Riechert
Autorin
Ricarda kommt eigentlich aus der Archäologie, später fing sie das Schreiben
an und machte es zu ihrer Berufung.
Dass sie nicht in die Welt hineinpasste
und immer irgendwo aneckte, merkte
sie schon im Kindergarten. Später
machte sie eine Tugend daraus und fass­te in verschiedenen Subkulturen Fuß.
Mit diesen oft gegenteiligen Einblicken
und Erfahrungen stellte sich die Frage
nach dem „Normal“ für sie gar nicht
mehr. Heute spielt sie Computerspiele
und liebt alles „Nerdige“.
Stephen Totterdell
Autor
Marlies Hübner
Autorin
Stephen Totterdell ist Filmwissenschaftler und lebt in Dublin. Er ist Mitglied
der Redaktionsleitung für das literarische Magazin The Runt und schreibt
gerade an einem sehr kurzen Roman.
Er erzählt Leuten nicht gern, dass er
Asperger hat, aber versuch einfach mal,
ihn mit zu einer Party zu nehmen.
Marlies Hübner begann zu schreiben,
um ihre Autismus-Diagnose zu verarbeiten, und entdeckte damit ihre
größte Leidenschaft. Wenn sie
nicht für N#MMER schreibt, arbeitet
sie an ihrem ersten Roman.
5
6
Im falschen
Film?
Illustration: Grafikladen
Text: Stephen Totterdell
Die kinematografische
Repräsentation von
Asperger und AD(H)S
Für lange Zeit war das AspergerSyndrom in Filmen ein Kunstgriff.
Zugleich fungierten die Filme als
Lehrfilme für diejenigen, die das
Asperger-Syndrom verstehen wollten. Filme wie Adam enthielten,
auch wenn sie fraglos unterhaltsam
sind, wenig Erzählung, sondern
vielmehr eine Liste von Stärken und
Schwächen. Mary & Max, ein weiterer Klassiker aus diesem Genre, erklärt dem Zuschauer buchstäblich,
was Asperger ist. Derlei Filme sind
wichtig – oder waren es wenigstens
zu Beginn. Wie immer, wenn es im
Kino um Minderheiten geht, bereiten Stereotype und anthropologische Annäherungsversuche den
Weg für nuanciertere Darstellungen,
herausfordernde Drehbücher, und
7
Filme beginnen sich von der Last der
„verantwortungsvollen“ Repräsentation von Asperger zu befreien. Dabei
handelt es sich um eine wunderbare
Entwicklung. Die Last der Repräsentation selbst kann Beklemmungen und Angst hervorrufen. Alles
muss eine angemessene Rolle spielen. Dies führt zu hölzernen Auftritten, langweiligen Manuskripten und
Regisseuren, die sich nicht trauen,
Nischenelemente der autistischen
Gemeinschaft zu erforschen. Durch
das Verwerfen dieses „Kinos der
Pflicht“ konnte Asperger im Film
große Sprünge machen, manche in
die richtige, manche in die falsche
Richtung. Wichtig ist jedoch, dass
man sich überhaupt bewegt.
Die Detektive
Sherlock, The Bridge, Hannibal, The
Killing. Der Topos des genialen Detektivs ist interessant, weil er nicht
zwingend ein schlechter ist. Obwohl
er das für Menschen mit Besonderheiten in der nicht fiktionalen Welt
eher wenig förderliche Klischee
von Individuen transportiert, die
ihre „Behinderung“ durch eine Art
Superkraft kompensieren, bietet
er uns attraktive Charaktere, die
ihre Stärke für das Gute nutzen. Es
sind Menschen, die in sozialen Interaktionen nicht aufblühen, dafür
aber nicht verurteilt werden. Hannibal unterstreicht die essenziellen
Gemeinsamkeiten zwischen Will
Graham und Hannibal Lecter. Wäh-
rend seine Vorgesetzten seine sozialen Schwierigkeiten als Schwäche
ansehen, erkennt Hannibal, dass
Will diesen Charakterzug zu seinen
Gunsten einsetzt.
„Wissen Sie, Will, ich glaube, Onkel
Jack sieht Sie als eine zerbrechliche
kleine Teetasse. Das feinste Porzellan, das man nur für besondere Gäste benutzt. [Ich sehe Sie als] Mungo,
den ich mir unter dem Haus wünsche,
wenn die Schlangen vorbeigleiten.“
Diese Herangehensweise an die
Fehlvorstellungen von Behinderungen
ist eine kleine Einleitung in die aktuellen Filme zum Thema Asperger. Filme
wie Nightcrawler oder The Imitation
Game heben die unsympathischen Aspekte von Autisten hervor.
Sherlock ist hingegen interessant,
weil die unsympathischen Eigenschaften heruntergespielt werden. Natürlich,
sie werden gezeigt. Wenn Sherlock auf
unsensible Art den Tod eines Menschen
kommentiert, bemerken wir dies. Aber
seine Kommentare dienen einer komischen Funktion und wir werden aufgefordert, ob des ahnungslosen Detektivs
zu kichern. Seine Brillanz macht die
negativen Seiten seiner Persönlichkeit
wett. Ohne seine Fähigkeit, Verbrechen
aufzuklären, wäre er einfach ein unsensibler Kerl, den niemand mag. Dass
Moffat und Gatiss, die Produzenten
der Serie, zufrieden damit sind, diesen
Topos auszuspielen, während sie ihn
gleichzeitig mit Ausrufen wie „Ich bin
ein hochfunktionaler Soziopath!“ verpfuschen, ist enttäuschend. Wie zuvor
das Buch Supergute Tage, schert sich
die Serie nicht um den Wahrheitsgehalt
„Eine Beziehung zwischen zwei Autisten zu
zeigen, bedeutet, dass keiner der beiden
die Rolle des Vorzeigeautisten übernimmt.“
8
der Präsentation ihres Gegenstandes.
Sie wird damit zum deutlichsten und
typischsten Beispiel für das Verwenden des Asperger-Motivs – die coolen
Eigenarten werden als Antrieb für die
Serie genutzt, während alles andere auf
der Strecke bleibt. Hannibal kann als
differenziertere Darstellung innerhalb
des viel zu undifferenziert beschreibenden Detektivgenres glänzen.
Normale Autisten
Nicht nur Fernsehdetektive sind von
Zeit zu Zeit Autisten, auch Menschen mit ganz normalen Leben
werden dargestellt. Parenthood ist
ein gutes Beispiel dafür. So manche Serie nimmt sich der Autismusthematik als Erzählbogen für
einige Folgen oder eine Staffel an;
Parenthood macht Autismus zu einem Kern des alle Staffeln umfassenden Narrativs. Max Braverman
ist ein Kind mit Asperger-Syndrom.
Obwohl es Elemente des alten „Erklärfernsehens“ in seiner Rolle gibt,
wird seine Darstellung abgerundet
durch die familiären Beziehungen,
seine Erfahrungen in der Schule und
schlussendlich durch seine Freundschaft mit Hank. Als Erwachsener,
der über 40 war, als er seine Diagnose bekam, ist Hank jemand, der von
den Mühen und Kämpfen vor der
Diagnose geformt wurde. Jene, die
erst später im Leben diagnostiziert
werden, sind typischerweise unterrepräsentiert. Hank war der Erste.
Aber das ist nicht alles: Indem die
Serie Hank und Max nebeneinander
spielen lässt, zeigt Parenthood dem
Zuschauer zwei sehr unterschiedliche Charaktere aus dem Spektrum.
Eine Beziehung zwischen zwei Autisten zu zeigen, bedeutet, dass keiner
der beiden die Rolle des Vorzeigeau-