Josef Winkler: Friedhof der bitteren Orangen. @Suhrkamp Verlag

Josef Winkler: Friedhof der bitteren Orangen.
@Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Laß die Wachstropfen einer geweihten Kerze auf meinen
Nabel fließen, um meinen Leichnam zu versiegeln. Leg das
große Heiligenbild- Madonna sulla Seggiola von Raffael
das jahrzehntelang über meinem Sterbebett hing, mil meinen offenen Sarg, so daß die Trauergäste, wenn sie wochn
gehn, betend und heuchelnd rund um meinen Sarg sitzen,
nur mehr auf mein Totenantlitz blicken können. Die Nadeln, mit denen mein Leichenkleid genäht worden ist, steck
in meine blaukalten Fersen, damit es mir schwerfällt, mit
den nadelbestickten Füßen über die lange Dorfstraße zu
laufen und als Vampir wiederzukehren im Haus meiner
Kinder und Enkelkinder. Komme ich tatsächlich als Verwandtenblutsauger wieder, so hüte dich nicht davor, mir mit
einem Spaten den Kopf vom Leib zu trennen und ihn mir
zwischen meine Beine zulegen. Das herausspritzende Kopfblut fang in einem Becher auf, und trinket alle davon, denn
das ist mein Blut, das ich für euch vergossen habe, und wer
mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und
ich bleibe in ihm. 0 du demütig in Jerusalem eingezogener
Jesu, erbarme dich unser! 0 du aus Mitleid über Jerusalem
weinender Jesu, erbarme dich unser! 0 du deinen Jüngern die
Füße waschender Jesu, erbarme dich unser! 0 du als lebendiges Brot uns stärkender Jesu, erbarme dich unser! Vergiß
nicht, das Leichenbrett, auf dem meine sterblichen Überreste aus meiner Sterbekammer über die sechzehnstufige
Stiege in die Bauernstube hinuntergetragen werden zum
Einsargen, mit frischen, wenn möglich noch taufeuchten
Margritten zu schmücken und danach, wenn mein Leichnam
längst in der mit schwarzem Kreppapier ausgeschlagenen
Holzkiste liegt, mit meinem Namen zu beschriften, mit
meinem Geburtsdatum und Sterbetag zu vergehen und
im -Egelmookzwischen den Sumpfdotterblumen als Steg
über den liVadh zu legen. Wain du dann und wann über
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diesen Steg gehst, um Schneeglöckchen, Schneerosen oder
Sumpfdotterblumen zu klauben und deiner Mutter auf den
Schoß oder dem Gekreuzigten zu Füßen zu legen, dann paß
auf, damit du nicht auf die eingeschnittenen Kreuzlein
meines Totenbretts trittst, du würdest meiner Armeń Seele
weh tun, und ich müßte hochoben im Himmel oder immer
noch im Fegefeuer in zusammengekrtimrnter, embryonaler
Haltung Schmerzensschreie ausstoßen, die weit über die
Wolken und Flugzeuge hinaus von Ozean zu Ozean hörbar
wären. 0 du durch dein heiliges Blut uns erquickender Jesu,
erbarme dich unser! 0 du um dreißig Silberlinge verkaufter
Jesu, erbarme dich uns
. er! 0 du in dem Gebete zu deinem
Vater bis in den Tod betrübter Jesu, erbarme dich unser! 0 du
vor Angst im Garten blutschwitzender Jesu, erbarme dich
unser! Wenn auch mehr als ein Meter fette Friedhofserde
über meinem Antlitz liegen wird, habe ich schon furchtbare
Angst vor den Krebsen, an deren Hälsen kleine Lichter
angebracht werden und die nicht nur eine, sondern mehrere
Nächte lang um meinen Erdhügel kriechen und mir Lebewohl! sagen werden. 0 du von dem Engel gestärkter Jesu,
erbarme dich unser 0 du von Judas durch einen Kuß
verratener Jesu, erbarme dich unser! 0 du mit Stricken und
Ketten gebundener Jesu, erbarme dich unser! 0 du von
deinen Jüngern verlassener Jesu, erbarme dich unser! Mit der
Gemeinschaftspeitsche, mit der die Dorfkinder gepeinigt
werden, schlag dreimal auf meinen Sarg, so daß die Blüten
und Blätter der Blumen umherspritzen, damit meine draufsitzende Seele verscheucht wird und der Leichnam leichter
getragen werden kann und nicht irgendwo auf den mit
Pfingstrosenblättern übersäten Dorfboden fällt. Während
der kirchlichen Aussegnung sollen meine Hinterbliebenen
auf den Leidbänken sitzen und sich vom schwarzgekleideten
Priester trauerschleiertragende Hostien auf ihre Zungen
legen lassen. Mit einer großen brennenden Kerze soll der
eine schwarzgekleidete Ministrantzur Sarglinken knien, der
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andere zur Sargrechten, selbstverständlich auf der Kopfseite und nicht auf der Fußseite meiner sterblichen Oberreste. 0 du dem Annas und Kaiphas vorgestellter Jesu,
erbarme dich unser! 0 du mit einem Backenstreiche geschlagener Jesu, erbarme dich unser! 0 du von falschen Zeugen
angeklagter Jesu, erbarme dich unser! 0 du von Petro dreimal verleugneter Jesu, erbarme dich unser! Wenn ich an
einem Schlaganfall - da Schlog hot die Oma getroffn! sterben sollte und mir Augen und Herz gleichzeitig brechen,
so denk dran, daß der mittlere der drei Blutstropfen, die
jeder Mensch im Kopf hat, herabgefallen ist. Wenn es mit
meiner Gesundheit abwärtsgeht - Sieh, .o Herr, hier ist mein
Leib, hier ist meine Seele, ich gebe sie dir ineeine. göttliche
Hand, mach mit ihnen, wie es dir am besten gefällt -, dann
schau, ob schon viele kranzartig zusammengeballte Federn
in meinem Kopfpolster liegen. Du weißt, ich habe es dir oft
erzählt, daß wir diese weißen, kranzartig zusammengeballten Federn Totenkränze nennen. Sie sind ein untrügliches
Todesvorzeichen. Oder streich einen Bissen Brot über
meine Stirn und gib ihn dem Kettenhofhund zu fressen.
Frißt er das Brot, so werde ich noch länger leben, frißt er' es
nicht, thuß ich bald sterben, vielleicht in einer Stunde schon,
denn der Todesschweiß ist schärfer als der lJrin, den man
den treuen Hunden in die Milch schüttet, damit sie dann,
wenn Herrchen oder Frauchen gestorben, endlich von der
Kette gelassen werden und am Grab hocken, jaulen und
elendig verrecken können. 0 du dem Pilatus gefangen übergebener Jesu, erbarme dich unser! 0 du bei Pilatus falsch
angeklagter Jesu, erbarme dich unser! 0 du in einem weiflen
Kleide verspotteter Jesu, erbarme dich unser! 0 du dem
Mörder Barabbas nachgesetzter Jesu, erbarme dich unser!
Stell dir vor, erst gestern habe ich einen Menschenschatten
ohne Kopf gesehen, Wäsche - waren es meine Totenkleider? -, die flußaufwärts schwamm. Ununterbrochen, nicht
weniger als drei Stunden lang, während ich mit offenem
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Mund, heftig schnaufend und hilflos auf dem Rücken lag,
hörte ich das Herzklopfen von einer am Spiegelrahmen
hockenden und mich immerzu anstarrenden Fledermaus.
Stell dir vor, das Loch in der Kirchenmauer, durch das der
Teufel geflogen ist, haben der Dorfpfarrer und die Dorfleute mit meinem Schädelknochen zugestopft. Hostien
wurden ins steinerne Weihwasserbecken getaucht und mit
der Nabelschnur Christi wieder herausgezogen. Ein Feuerwerk spritzte in Kreuzesform Funken in den Himmel. Ein
roter, gesottener Flußkrebs lag auf einem umgekippten
Totenbett. Die Stufen einer ununterbrochen kreisenden
Stiege waren aus Sargdeckeln zusammengenagelt. Auf einer
Bischofsmütze sah ich einen Blitzableiter und ein Dornenkrönchen auf der feuchten Eichel des Jesukindleins komm
zu mir mach ein fromme Kind aus mir mein Herz ist rein
darf niemand -hinein als du mein liebes Jesulein. Mein
kopfloser Schatten bohrte den Kopf eines langstieligen Kruzifix in das Grab meines frühverstorbenen !Unties, bis es am
Sarg ankam und dreimal dran klopfte. Auf der Schaufel de
Totengräbers drehte sich langsam eine von der Friedhofserde verschmierte Weltkugel. Meine Glieder fielen vom
Schornstein, setzten sich wieder zusammen und begannen
zu tanzen, Falosn, falosn, wia a Stan auf da Stroßn, so falosn
bin i! 0 du mit Geißeln unbarmherzig zerfleischter Jesu,
erbarme dich unser! 0 du mit einem Purpurldeide schimpflich bekleideter Jesu, erbarme dich unser! 0 du im Gefdngnis
verschlossener Jesu, erbarme dich unser! 0 du mit Dornen
gekrönter Jesu, erbarme dich unser! Vergiß nicht, wenn ,der
Sensenmann, der sich ab und zu auch in eine geblümte
Fledermaus verwandeln kann, meine zum allerletzten Mal
zuckenden Beine festhält, die Fenster meiner Sterbekammer zu schlieBen, sonst zerspringen die Scheiben. Die Dorfleute sollen den Partezettel nicht mit bloßen Händen berühren und ihn nach aufmerksamem Durchlesen mit Fäustlingen ins Feuer werfen. Bring das Leintuch, auf dem ich
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als Lebende lag, aber als Tote nicht mehr liegen möchte, an
die frische Luft und schau zu, wenn in Viererreihen die
Totenvögel kreuzweise drüberfliegen, dann erst kannst du
es in den Dorfbrunnen werfen und meinen ekelerregenden
Leichengeruch mit der Terpentinseife herauswaschen, auf
der ein Hirschkopf eingeprägt ist. Um meinen Totengeruch
zu vertreiben, geh stundenlang mit geweihten Palmen im
Haus umher, zuerst in meinem Sterbe- und Aufbahrungszimmer. Ich bin euch nicht böse, wenn ihr schon eine Woche
nach meinem Begräbnis mein Sterbezimmer weiß auskalkt
und wenn sich die Sommerfrischler in meinem frisch überzogenen Sterbebett zur Nachtruh hinlegen. 0 du in dein
heiliges Angesicht mit unreinem Speichel verspieener Jesu,
erbarme dich unser! 0 du mit einem Rohre geschlagener
Jesu, erbarme dich unser! 0 du unschuldig zum Tode verurteilter Jesu, erbarme dich unser! 0 du dem Mutwillen der
Juden übergebener Jesu, erbarme dich unser!
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