Ein ganz persönliches Kunstwerk – Rede einer Maturandin 26.6.2015 „Was willst du mal werden?“, fragten sie uns in unserer Kindheit. „Welche Richtung werde ich wohl einschlagen?“, lautete das Rätsel des Lebens. Über die Jahre veränderten sich unsere Vorstellungen von einem gelungenen, perfekten Leben. Die Antworten auf die Fragen wurden mit zunehmenden Lebenserfahrungen immer realistischer. Von Pirat zu Ritter, von Prinzessin zu Königin, von Astronaut zu Schauspieler, von Sängerin oder Tänzerin bis hin zum gewöhnlichen Millionär war alles dabei. Den kindlichen Träumereien und Fantasien waren anfänglich keine Grenzen gesetzt. Doch nun mit 19 oder 20 Jahren, als junge Erwachsene, erwartet die Gesellschaft konkretere, realistischere und durchdachtere Vorstellungen von den eigenen Lebenszielen. Als besonders erfolgversprechend gilt das möglichst zielgerichtete, geradlinige, kämpferische und ausdauernde Hinarbeiten auf ein konkretes, fassbares und lohnenswertes Ziel. Der junge Mensch soll sich bewusst werden, worauf er in seinem Leben hinaus will. Kein In-‐den-‐Tag-‐hinein-‐Leben, ständiges Innehalten und Pausieren und keine Blicke nach links und rechts. Kein Platz für YOLO. Habe dein Ziel im Auge, plane dein Vorgehen und starte durch. Eine grosse Bürde, die dem immer noch unsicheren Semi-‐ Erwachsenen auferlegt wird. Ein Druck, welcher einem angst und bange werden lassen kann. So möchte ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Der Mensch steht dabei seinem Leben als Schöpfer, als der kreative Künstler gegenüber. Es ist sein Leben, sein Kunstwerk, das er in den nächsten 80 Jahren perfektionieren kann. Das Leben als Kunstwerk und der lebendige Mensch als Künstler, so stehen ein alter Greis und ein Jüngling in unterschiedlichen Lebensphasen da. Beide betrachten sie starr und konzentriert ihre Leinwand des Lebens. Trotz ihres Bemühens der nüchternen und klaren Betrachtung ihres Werkes, gelingt es ihnen nicht, sich von ihren Gedanken über ihr Tun loszureissen. Es gelingt ihnen nicht, den rotierenden, ziehenden und verschlingenden Strudel ihrer Gedanken zu entfliehen. Dabei trüben diese Gedanken ihre Sicht, die Wirklichkeit bleibt dahinter verborgen. Ihre Vorstellungen von Perfektion und gezieltem Vorgehen zerstören den Moment und ihr Blick bleibt an ihrem inneren Treiben haften. Beide stehen sie da, in Ruhe, in absoluter Stille, versuchend ihrem Bild die vorgestellte Perfektion, die absolute Vollkommenheit zu verleihen. Der Jüngling sieht die leere, weisse, quadratische Leinwand, vor sich auf der Staffelei liegend. Immer wieder greift er zum Pinsel und legt ihn wieder zurück. Das kontinuierliche, endlose, unaufhaltsame Rattern seiner Gedanken lässt ihn nicht mehr los. Vor Angst, Bekümmerung und unendlicher Vorsicht vor dem falschen Beginn, sieht er sich nicht in der Lage, den ersten Strich zu ziehen. Die Gedanken nach dem „Was wäre wenn…“ lassen Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre dahinziehen, während die Farben in der Palette vertrocknen, die Pinsel, die Leinwand, die Staffelei und sonstigen Werkzeuge verstauben und seine Haltung immer krummer, sein Körper immer dünner und gebrechlicher werden. Der Jüngling wurde zum alten Greis, die Lebenszeit hat er durchlebt, doch die Leinwand steht immer noch leer, weiss, quadratisch vor ihm. Er steht nach wie vor im selben Zimmer, am selben Ort und in derselben Ausgangslage wie vor sechzig Jahren. Reglos betrachtet er sein Werk. In völliger Verzweiflung sucht er nach seiner getanen Arbeit an der Leinwand, doch leer bleibt leer und weiss bleibt weiss. Sein Gedächtnis durchforstend sucht er nach den Fehlern, Irrtümer, Fehlentscheidungen und Verfehlungen. Das Einzige, was sich ihm eröffnet, ist sein Mangel an Taten, sein fehlender Mut zum Anfang und seine Angst vor Fehlern. Der verschlingende Strudel seiner Gedanken ergreift ihn erneut und zieht ihn in ewige Trauer über das versäumte Leben. Was erkennen wir nun in dieser Geschichte? Einen Jüngling, der sich nie getraut hat, den ersten Strich zu ziehen und einen Greis, der sich wünscht, er hätte einige Stiche auf seiner Leinwand gezogen. Vielleicht sollten wir doch einmal innehalten, die Gegenwart geniessen und nicht immer an die Zukunft oder das Vergangene denken. Schätzen wir die Einzigartigkeit des Momentes, den wir gerade leben dürfen. Seien wir stolz auf uns, denn wir haben es geschafft, liebe Maturandinnen und Maturanden. Wir sind an unserem Ziel, welches wir vor vier Jahren hatten, angekommen. Heute stehen wir am Ufer eines neuen Lebensabschnittes. Unsere Zeit am Gymnasium, in der wir für unseren weiteren Lebensweg geprägt wurden, in der wir unsere Freunde gefunden, unser soziales Netzwerk ausgebaut haben, liegt ab heute hinter uns. Ich erlaube mir, für uns alle zu sprechen, wenn ich sage, dass der heutige Tag sowohl Freude-‐ wie auch Abschiedstränen kullern lassen wird. Eine Volksweisheit besagt: „Es gibt ein Bleiben im Gehen, ein Gewinnen im Verlieren, im Ende ein Neuanfang.“ Bleiben im Gehen – Auch wenn wir die Kantonsschule Menzingen verlassen, so bleibt ein Teil von uns allen doch hier. Gedanken, die uns immer wieder an diese Schulzeit zurückerinnern, werden immer Bestand haben. Gewinnen im Verlieren – Es ist möglich, dass wir einander aus den Augen verlieren, doch vergessen wir nicht die schönen Momente und Erfahrungen, welche wir durch unsere gemeinsame Zeit gewonnen haben. Im Ende ein Neuanfang – Das Ende ist nun gekommen und ein Neuanfang gleich dazu. Einige von uns machen ein Zwischenjahr, andere beginnen schon bald mit ihrem Studium. Doch möchte ich euch allen hier etwas raten: Seid kein Greis, der einmal bereut, keinen Strich gezogen zu haben. Habt den Mut, immer wieder einen Anfang zu wagen, einen ersten Strich zu ziehen und Fehler in Kauf zu nehmen. Perfektion ist relativ und gelingt nicht immer auf Anhieb. Greift euch einen Pinsel, nützt die vielen Farben, die das Leben zu bieten hat, um euer persönliches Kunstwerk zu erschaffen. Ich danke euch allen von ganzem Herzen für diese unvergessliche Zeit, die wir gemeinsam erleben durften. Ich wünsche euch auf eurem weiteren Lebensweg nur das Beste, möge eure Leinwand eines Tages kunterbunt und kraftvoll aufleben! Häbed’s Guet! Talina Iten, 4a
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